Familienrecht

Die Voraussetzungen für die Berücksichtigung eines Kindes beim Kindergeldes wegen Behinderung liegen vor, wenn aufgrund der schulischen und beruflichen Entwicklung des Kindes auszuschließen ist, dass andere Ursachen und nicht die Behinderung ursächlich für seine Probleme auf dem Arbeitsmarkt waren

Aktenzeichen  7 K 1768/15

Datum:
13.1.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 94490
Gerichtsart:
FG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Finanzgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Tenor

1. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 9.4.2013 und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung vom 16.6.2015 verpflichtet, Kindergeld für den Sohn R für den Zeitraum Oktober 2010 bis November 2012 festzusetzen.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Das Urteil ist im Kostenpunkt für die Klägerin vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten der Klägerin die Vollstreckung abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.

Gründe

Die Klage ist begründet. Die Beklagte hat die Kindergeldfestsetzung für den streitigen Zeitraum zu Unrecht verweigert.
1. Gemäß den §§ 62 Abs. 1, 63 Abs. 1 S. 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 EStG besteht für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten und die Behinderung vor Vollendung des 21. Lebensjahres eingetreten ist.
a) Ein behindertes Kind kann sowohl wegen der Behinderung als auch wegen der allgemeinen ungünstigen Situation auf dem Arbeitsmarkt oder wegen anderer Umstände (z.B. mangelnder Mitwirkung bei der Arbeitsvermittlung, Ablehnung von Stellenangeboten) arbeitslos und damit außerstande sein, sich selbst zu unterhalten. Entsprechend dem eindeutigen Wortlaut des § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 EStG führt eine Behinderung aber nur dann zu einer Berücksichtigung beim Kindergeld, wenn das Kind nach den Gesamtumständen des Einzelfalles wegen der Behinderung außer Stande ist, sich selbst zu unterhalten (Ursächlichkeit); dem Kind muss es daher objektiv unmöglich sein, seinen (gesamten) Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit zu bestreiten (BFH-Urteil vom 19. November 2008 III R 105/07, BFH/NV 2009, 638). Insoweit ist keine abstrakte Betrachtungsweise zulässig; vielmehr fordert der Gesetzgeber eine konkrete Bewertung der jeweiligen Situation des behinderten Kindes nach den Gesamtumständen des Einzelfalles (BFH-Urteil vom 28. Mai 2009 III R 16/07, BFH/NV 2009, 1639).
Ein Indiz für die Fähigkeit des behinderten Kindes zum Selbstunterhalt kann zwar die Feststellung in ärztlichen Gutachten – z.B. von der Reha/SB-Stelle der Agentur für Arbeit oder eines vom Gericht beauftragten ärztlichen Sachverständigen – sein, das Kind sei nach Art und Umfang seiner Behinderung in der Lage, eine arbeitslosenversicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des für ihn Betracht kommenden Arbeitsmarktes auszuüben. Selbst wenn nach dem Gutachten eine „vollschichtige Tätigkeit“ für möglich gehalten wird, ist die theoretische Möglichkeit, das behinderte Kind am allgemeinen Arbeitsmarkt zu vermitteln, aber allein nicht geeignet, die (Mit-)Ursächlichkeit der Behinderung auszuschließen. Entscheidend kann nur die konkrete Bewertung der jeweiligen Situation des behinderten Kindes sein (s. im einzelnen BFH in BFH/NV 2009, 1639).
Dagegen kommt dem GdB eine wichtige indizielle Bedeutung für die Prüfung der Ursächlichkeit der Behinderung für die mangelnde Fähigkeit zum Selbstunterhalt zu. Je höher der GdB ist, desto stärker wird die Vermutung, dass die Behinderung der erhebliche Grund für die fehlende Erwerbstätigkeit ist. Dieser Erkenntnis liegt die zutreffende Annahme zu Grunde, dass eine Beschäftigung schwerbehinderter Kinder unter den normalen Bedingungen des Arbeitsmarktes regelmäßig nur unter erschwerten Bedingungen möglich ist (BFH-Urteil vom 19. November 2008 III R 105/07, Bundessteuerblatt – BStBl – II 2010, 1057). Die Rechtsprechung hat demgemäß bei einem GdB von 100 und dem Merkmal H in der Regel eine Kausalität angenommen, auch wenn eine (Teil-)Erwerbstätigkeit theoretisch möglich gewesen sein sollte (vgl. BFH-Urteile vom 28. Januar 2004 VIII R 10/03, BFH/NV 2004, 784 und in BFH/NV 2004, 326). Dagegen spricht ein GdB unter 50 eher gegen eine Kausalität der Behinderung (BFH in BStBl II 2010, 1057).
b) Im Streitfall wurde dem Sohn der Klägerin ein Schwerbehindertenausweis mit einem GdB von 50 erst mit Bescheid vom 9. September 2015 ausgestellt. Die für die Feststellung der Behinderung maßgebenden Gesundheitsstörungen (Anfallsleiden, Depression, Lernbehinderung) lagen jedoch gemäß den Feststellungen verschiedenen ärztlichen Bescheinigungen bereits seit langem und insbesondere im Streitzeitraum vor. Exemplarisch wird auf die ärztliche Bescheinigung der … vom 12. Mai 2009 verwiesen. Auch im ärztlichen Gutachten des ärztlichen Dienstes der Bundesagentur für Arbeit vom 10. März 2014 werden diese Gesundheitsstörungen festgestellt. Dass ein Schwerbehindertenausweis nicht schon früher beantragt wurde lag, wie die Klägerin glaubhaft dargelegt hat, daran, dass der sie betreuende sozialpsychiatrische Dienst davon abgeraten hat, da es für junge Menschen oftmals demotivierend und für den Lernerfolg kontraproduktiv sei, wenn ihnen die Schwerbehinderteneigenschaft amtlich bescheinigt werde. Von einer Behinderung im Umfang eines GdB von 50 ist daher auch im Streitzeitraum auszugehen.
c) Im Streitfall liegen auch besondere Umstände vor, aufgrund derer eine Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ausgeschlossen erscheint, so dass jedenfalls eine Mitursächlichkeit der Behinderung für die Unfähigkeit des Kindes, sich selbst zu unterhalten, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist. Wie im Gutachten des ärztlichen Dienstes der Bundesagentur für Arbeit vom 10. März 2014 festgestellt wurde, liegt eine schwer wiegende Leistungsbeschränkung des Kindes vor, die seine Aussichten, am Arbeitsleben teilzunehmen, erheblich gefährden bzw. mindern. Dort wurde auch festgestellt, dass eine Ausbildung nur unter geschützten Rahmenbeziehungen mit entsprechender sozialpädagogischer Begleitung stattfinden kann. Nur unter diesen Voraussetzungen und unter weiterer fachärztlicher Behandlung und Begleitung mit entsprechender medikamentöser Einstellung der Grunderkrankung erscheint eine ausreichende Belastbarkeit für die geplante Ausbildung gegeben zu sein. Entsprechendes ergibt sich auch aus der ärztlichen Bescheinigung der … vom 12. Mai 2009. Dort wird festgestellt, dass wegen der Beeinträchtigung des Jugendlichen durch die Epilepsie und die grenzwertige Begabung eine Berufsausbildung mit Förderung im Rahmen eines Berufsausbildungswerkes sinnvoll sei. Diese Feststellungen werden durch den bisherigen beruflichen Werdeganges des Sohnes bestätigt. Die Hauptschule hat er nur bis zur sechsten Klasse besucht. Eine Praktikumsstelle zu erlangen, war ihm unter diesen Umständen zunächst nicht möglich. Erst im Schuljahr 2010/11 hat er an einem Berufsvorbereitungsjahr Gartenbau, Floristik und Nahrung teilgenommen. Sämtliche Bemühungen, eine Berufsausbildung zu erlangen, blieben bisher erfolglos. Eine Ausbildung zum Koch hat er im Dezember 2012 begonnen, die ihn allerdings überfordert hatte, so dass er sie nach zwei Monaten wieder abbrach. Es ist daher offensichtlich und bedarf unter diesen Umständen keiner weiteren Aufklärung, dass dem Sohn der Klägerin aufgrund seiner Behinderung eine Teilnahme am Arbeitsmarkt nur unter erschwerten Bedingungen möglich ist, so dass an der Kausalität der Behinderung für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt keine Zweifel bestehen. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass in der sozialmedizinischen Stellungnahme des ärztlichen Dienstes der Bundesagentur für Arbeit in formularmäßiger Form durch Ankreuzen die Feststellung getroffen wurde, dass der Sohn der Klägerin in der Lage ist, eine arbeitslosenversicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden umfassende Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes auszuüben. Nach der Rechtsprechung des BFH ist auch dann, wenn nach dem Gutachten eine „vollschichtige Tätigkeit“ für möglich gehalten wird, die theoretische Möglichkeit, das behinderte Kind am allgemeinen Arbeitsmarkt zu vermitteln, allein nicht geeignet ist, die (Mit-)Ursächlichkeit der Behinderung anhand einer konkreten Bewertung der jeweiligen Situation des behinderten Kindes auszuschließen (BFH in BStBl II 2010, 1057). Die Auffassung der Beklagten, eine Mitursächlichkeit der Behinderung für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt sei nicht nachgewiesen, ist anhand der eindeutigen Faktenlage nicht nachzuvollziehen. Es ist aufgrund der schulischen und beruflichen Entwicklung des Sohnes auszuschließen, dass andere Ursachen wie etwa die allgemeine ungünstige Situation auf dem Arbeitsmarkt, die mangelnde Mitwirkung bei der Arbeitsvermittlung oder die Ablehnung von Stellenangeboten und nicht die Behinderung ursächlich für seine Probleme auf dem Arbeitsmarkt waren, so dass im Streitfall auch ein GdB von „nur“ 50 ohne weitere Merkmale ausreichend ist, um den Tatbestand des § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 EStG zu erfüllen, zumal nach den Erfahrungen des erkennenden Gerichts gerade bei psychischen Erkrankungen die Höhe des GdB allein nicht sehr aussagekräftig für die Beurteilung ist, ob die Person zum Selbstunterhalt in der Lage ist. Die Klägerin hat auch eine Erklärung zum verfügbaren Nettoeinkommen des Sohnes im Streitzeitraum vorgelegt und dargelegt, dass er über keine eigene Einkünfte und Bezüge verfügt hat. Das erkennende Gericht ist aufgrund der konkreten Bewer tung der Situation daher davon überzeugt, dass die Behinderung eine wesentliche Ursache dafür ist, dass der Sohn im streitigen Zeitraum nicht in der Lage war, sich selbst zu unterhalten. Wie dies in Zukunft sein wird, kann das Gericht ausdrücklich offen lassen.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten und über den Vollstreckungsschutz folgt aus § 151 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1, Abs. 3 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung.


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