Familienrecht

Einstweiliger Rechtsschutz; Anhörungsrüge

Aktenzeichen  L 7 AS 555/21 B ER

Datum:
10.2.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 1660
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
GG Art. 103 Abs. 1
SGG § 178a
SGG § 62
SGG § 86b Abs. 2 S. 2

 

Leitsatz

1. Im Eilverfahren obliegt es auch einem Rechtsunkundigen, von sich aus Tatsachen zur Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes (Eilbedürftigkeit) darzulegen.
2. Das Gericht verletzt nicht den Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn es vor seiner Entscheidung nicht allgemein über die Rechtslage aufklärt, seine Rechtsauffassung nicht offenlegt und keinen rechtlichen Hinweis auf die mangelnde Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes gibt.

Verfahrensgang

S 13 AS 1677/21 ER 2021-11-12 SGMUENCHEN SG München

Tenor

I. Die Anhörungsrügen gegen den Beschluss vom 22. Dezember 2021 werden zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

I.
Streitig waren im einstweiligen Rechtsschutzverfahren Unterlassungsforderungen der Beschwerdeführer (Bf) in Bezug auf ihr Mietverhältnis sowie die Übersendung von Kontoauszügen zu den vom Beschwerdegegner (Bg) geleisteten Zahlungen an den Vermieter.
Die Bf stehen beim Bg im laufenden Leistungsbezug nach dem SGB II (vgl. u.a. Bescheid vom 19.4.2021 betreffend den Bewilligungszeitraum vom 1.5.2021 bis 30.4.2022). Die Kosten der Unterkunft und Heizung werden direkt an den Vermieter überwiesen. Grund hierfür ist die in den Akten befindliche „Abtretungserklärung“ der Bf zu 1 vom 1.10.2019 als alleiniger Mietvertragspartnerin, in der sich diese damit einverstanden erklärte, dass die Mietzahlung ab sofort direkt an den Vermieter geleistet wird.
Am 10.11.2021 beantragten die Bf beim Sozialgericht, den Bg im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes einstweilig zu verpflichten, es zu unterlassen, die Mietzahlungen direkt an den Vermieter zu zahlen, einen Erstattungsbescheid bzgl. der Mietkaution zu erlassen sowie zu behaupten, es würde eine Abtretungserklärung existieren, seit dem Umzug sei der Bf zu 1 eine vorlagefähige Betriebskostenabrechnung zugegangen und sie würden Mitwirkungspflichten nicht nachkommen. Außerdem verlangten sie im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Herausgabe beglaubigter Kopien der Kontoauszüge, aus denen Zeitpunkt und Höhe der jeweiligen Zahlung an den Vermieter hervorgingen. Zur Begründung führten sie u.a. aus, es bestehe ein berechtigtes Interesse daran, dass sie entsprechende gerichtsverwertbare Nachweise besäßen. Sie hätten keinerlei Kontrolle über die tatsächlich erfolgten Zahlungen. Auf ihr Schreiben vom 24.9.2019 habe der Bg nicht reagiert.
Mit Beschluss vom 12.11.2021 lehnte das Sozialgericht den Eilantrag als unzulässig ab. Es fehle ein Rechtsschutzbedürfnis. Die Bf hätten vor Einleitung des Eilverfahrens keine entsprechenden Anträge beim Bg gestellt. Außerdem sei für Unterlassungsklagen ein qualifiziertes Rechtsschutzinteresse erforderlich. Dies sei nicht gegeben, da die Bf ohne Rechtsverlust auf nachträglichen Rechtsschutz verwiesen werden könnten.
Mit Schreiben vom 7.12.2021 legten die Bf beim Bay. Landessozialgericht Beschwerde ein. Sie legten im Einzelnen dar, weshalb die Entscheidung des Sozialgerichts falsch sei. Sie hätten aufgrund des rechtswidrigen Verhaltens des Bg bereits eine Mahnung bekommen. Zum Nachweis legten sie eine Mahnung vom 7.11.2019 vor. Unpünktliche Mietzahlungen durch das Jobcenter könnten zur fristlosen Kündigung führen. Wenngleich bislang keine Kündigung ausgesprochen worden sei, hätten die Bf wegen bereits nachgewiesener unpünktlicher Zahlungen der Miete ein qualifiziertes Rechtsschutzinteresse am Besitz der Zahlungsnachweise.
Der Bg erwiderte unter Vorlage einer Zahlungsliste, dass 2021 die Zahlungen pünktlich erfolgt seien.
Die Bf waren der Auffassung, dass die Liste zum Beweisantritt des Zahlungsnachweises untauglich sei. Ein Tatrichter bei einem Mietgericht würde den Antrag auf Beweisantritt abweisen. Diese Liste würde keinen Tatrichter bei einem Mietgericht interessieren (Schreiben vom 16.12.2021).
Mit Beschluss vom 22.12.2021 wurden die Beschwerden zurückgewiesen. Ein Anordnungsgrund im Sinne der Eilbedürftigkeit sei nicht glaubhaft. Die Bf stünden im laufenden Leistungsbezug und verfügten über Krankenversicherungsschutz. Aus dem Bewilligungsbescheid vom 19.4.2012 gehe klar hervor, dass die komplette Miete an den Vermieter gezahlt werde. Die Zahlungsaufforderung vom 7.11.2019 habe sich längst erledigt. Der Bg habe die Mietkaution und die damals ausstehenden Monatsmieten für Oktober und November 2019 ausbezahlt. Es drohe keine Kündigung. Die Wohnung sei nicht gefährdet.
Mit Schreiben vom 12.1.2022 erhoben die Bf Anhörungsrüge. Das Gericht sei verpflichtet darauf hinzuwirken, dass ungenügende Angaben tatsächlicher Art ergänzt werden. Das Gericht habe es unterlassen, den Bf Gelegenheit zu geben, zur Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes weiter vorzutragen. Es handle sich um eine Überraschungsentscheidung. Denn das Gericht müsse auf einen Gesichtspunkt hinweisen, den ein Beteiligter erkennbar übersehen habe oder den das Gericht anders beurteile als die Beteiligten, wenn es seine Entscheidung hierauf stützen möchte. Es obliege nicht dem Rechtsunkundigen oder dem Laien, sich vor einer gerichtlichen Auseinandersetzung sozialrechtliches Spezialwissen anzueignen. Außerdem sei PKH beantragt worden. Es gehe den Bf nicht um Leistungen oder Sicherung von Wohnraum, sondern um das künftige Unterlassen unerlaubter Handlungen mitsamt der Herausgabe von Urkunden zwecks Prozessvorbereitung einschließlich der Sicherung elementarer Urkunden zur Wahrung der Rechtssicherheit. Diese würden für den Beweisantrittszeitpunkt jetzt benötigt und nicht erst in ein paar Jahren, da voraussichtlich bis dahin die Ansprüche gegen den Vermieter in Höhe von 800 € verjährt seien. Sie hätten einen gesetzlichen Anspruch auf die Vorlage von Kontoauszügen.
II.
Die Anhörungsrügen sind zulässig, jedoch unbegründet. Eine entscheidungserhebliche Verletzung des rechtlichen Gehörs liegt nicht vor.
Nach § 178a Abs. 1 SGG ist auf die Rüge eines durch eine gerichtliche Entscheidung beschwerten Beteiligten das Verfahren fortzuführen, wenn ein Rechtsmittel oder ein anderer Rechtsbehelf gegen die Entscheidung nicht gegeben ist und das Gericht den Anspruch dieses Beteiligten auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat.
Die Anhörungsrüge kann nur auf eine Gehörsverletzung gestützt werden. Der Gesetzgeber hat dagegen die Verletzung anderer Verfahrensgrundrechte oder Verfahrensfehler bewusst ausgeklammert, wie z.B. ein Verstoß gegen das Willkürverbot (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, Kommentar, 13. Auflage 2020, § 178a Rn 5, 5a).
Eine Gehörsverletzung ist nur dann entscheidungserheblich, wenn die Entscheidung darauf beruhen kann, also nicht auszuschließen ist, dass das Gericht ohne die Verletzung zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre (Meyer-Ladewig, a.a.O., § 178a Rn 5b).
Die Bf machen vorliegend im Kern geltend, dass der Beschluss vom 22.12.2021 eine Überraschungsentscheidung darstellt, da das Gericht verpflichtet gewesen wäre, die Bf auf den fehlenden glaubhaften Anordnungsgrund hinzuweisen und ihnen Gelegenheit zu geben, zum Anordnungsgrund weiter vorzutragen.
Der Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß § 62 SGG, Art. 103 GG besagt, dass die Beteiligten vor der Entscheidung Gelegenheit haben müssen, sich zum Prozessstoff zu äußern. Wird eine Frist gesetzt, darf nicht vor Ablauf der Frist entschieden werden. Wird keine Frist gesetzt, muss eine angemessene Zeit abgewartet werden, bevor die Entscheidung getroffen wird. Das Gericht hat ferner den Vortrag der Beteiligten zu berücksichtigen. Berücksichtigung des Vorbringens durch das Gericht bedeutet, dass das Gericht den schriftlichen und mündlichen Vortrag der Beteiligten zur Kenntnis nehmen und in seine Erwägungen einbeziehen muss. Dabei muss es in den Entscheidungsgründen nicht zu allen vorgetragenen Ausführungen Stellung nehmen, insbesondere dann nicht, wenn er nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder offensichtlich unsubstantiiert ist. Der Anspruch auf rechtliches Gehör bedeutet nicht, dass das Gericht die Rechtsauffassung eines Beteiligten übernehmen muss. Eine allgemeine Aufklärungspflicht über die Rechtslage besteht ebenso wenig wie eine Pflicht, seine Rechtsauffassung zur Rechtssache und zu den Erfolgsaussichten vorab zu erkennen zu geben. Auch zu einzelnen Rechtsfragen braucht das Gericht seine Ansicht nicht kundzutun oder vorab die Entscheidung anzukündigen (vgl. Meyer-Ladewig, a.a.O., § 62 Rn 7, 8a und 10; BSG vom 5.10.2010, B 8 SO 62/10 B).
Es kann im Ergebnis jedoch der Verhinderung eines Vortrags zur Rechtslage gleichkommen, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchte. Auch wenn die Rechtslage umstritten oder problematisch ist, muss daher ein Verfahrensbeteiligter grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und seinen Vortrag darauf einstellen (vgl. BVerfG vom 19.5.1992, 1 BvR 986/91; BVerfG vom 29.5.1991, 1 BvR 1383/90).
Unter Anwendung dieser Grundsätze stellt der Senatsbeschluss keine Überraschungsentscheidung dar. Zugunsten der Bf hat der Senat anders als das Sozialgericht unterstellt, dass der Eilantrag zulässig ist, so dass im weiteren die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung in der Sache gemäß § 86b Abs. 2 SGG geprüft wurden. Die Bf hatten genügend Zeit bis zur Entscheidung, in der Sache umfassend vorzutragen. In den Entscheidungsgründen hat sich der Senat mit dem Vortrag der Bf in den Schreiben vom 7.12.2021 und 16.12.2021 auseinandergesetzt und dargelegt, weshalb ein Anordnungsgrund i.S. einer Eilbedürftigkeit nicht glaubhaft ist. Der Senat war nicht verpflichtet, seine Rechtsauffassung zum fehlenden Anordnungsgrund vorab kundzutun. Dass die Eilbedürftigkeit ein entscheidungserhebliches Kriterium ist, ist ohne weiteres auch für einen rechtsunkundigen Laien erkennbar. Denn die Frage der Eilbedürftigkeit ist dem einstweiligen Rechtsschutzverfahren, mit dem der Betroffene regelmäßig eine vorläufige Regelung bis zur Rechtskraft einer Entscheidung in der Hauptsache zu erreichen sucht, verfahrensimmanent. Spezialrechtskenntnisse im Sozialrecht benötigt man gerade nicht. Die Bf sind rechtlich nicht unerfahren und kennen den Unterschied zwischen einem Klage- und Eilverfahren, wie sich ihren Schreiben, mit denen sie regelmäßig beides am Sozialgericht initiieren, entnehmen lässt. Sie haben in der Vergangenheit allein vor dem Bay. Landessozialgericht bislang 40 Eilbeschwerdeverfahren geführt. Es konnte daher von ihnen ohne weiteres erwartet werden, dass sie ohne einen rechtlichen Hinweis des Gerichts die Eilbedürftigkeit der Angelegenheit aus ihrer Sicht umfassend darlegen.
Der Vortrag, sie benötigten die Zahlungsnachweise für einen künftigen Mietrechtsstreit zur Verhinderung der Verjährung von Ansprüchen, ist im Hinblick auf einen Anordnungsgrund nicht entscheidungserheblich. Denn er bietet keine Anhaltspunkte für drohende, unmittelbar bevorstehende Rechtsnachteile, so dass der Erlass einer Regelungsanordnung auch unter Berücksichtigung dieses Vorbringens nicht geboten gewesen wäre. Im Ergebnis bestätigt dies die Einschätzung des Gerichts, dass eine Eilbedürftigkeit der Angelegenheit von Anfang an des Verfahrens nicht glaubhaft war.
Der Senat hat im Übrigen keinen Antrag der Bf übergangen. In den Schreiben vom 7.12.2021 und 16.12.2021 ist entgegen der Behauptung der Bf kein Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren gestellt worden.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist gemäß §§ 177 SGG unanfechtbar.


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