Familienrecht

freiheitsentziehende Maßnahme – Genehmigungsbedürftigkeit nur bei bezweckter Freiheitsentziehung

Aktenzeichen  12 UF 1397/18

Datum:
14.1.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 6251
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
BGB § 1631b Abs. 2
FamFG § 158 Abs. 4 S. 5

 

Leitsatz

1. Sinn und Zweck des § 1631b Abs. 2 BGB ist es, den Minderjährigen davor zu schützen, dass seine Fortbewegungsfreiheit und Entschließungsfreiheit zur Fortbewegung ohne Genehmigung und zu anderen als den gesetzlich vorgesehenen Zwecken eingeschränkt wird. Dient die konkrete Maßnahme ausschließlich anderen Zwecken, wie etwa therapeutischen oder medizinischen Zwecken, die als Nebenwirkung möglicherweise die Bewegungsfreiheit einschränken, unterliegt die Entscheidung der Eltern über ihren Einsatz nicht dem Vorbehalt der richterlichen Genehmigung (vgl. BT-Drucksache 18/11278, Seite 17).  (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
2. Danach besteht kein Genehmigungserfordernis für die Fixierung eines behinderten und ansonsten nicht fortbewegungsfähigen Kindes durch einen Beckengurt an einen Roll- oder einen Therapiestuhl zur Stabilisierung seines Sitzes oder an eine Stehhilfe zur Ermöglichung seiner Aufrichtung.  (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

2 F 1231/18 2018-10-29 AGROSENHEIM AG Rosenheim

Tenor

1. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Rosenheim vom 29.10.2018 wird zurückgewiesen.
2. Von einer Erhebung der Gerichtskosten wird abgesehen. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
3. Der Wert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5000 € festgesetzt.

Gründe

Der Beschwerdeführer, Verfahrensbeistand des betroffenen Kindes M., geb. …2004, beantragte die familiengerichtliche Genehmigung des Einsatzes eines Beckengurtes im Rollstuhl, Therapiestuhl und Stehständer. Das Amtsgericht sah kein Genehmigungserfordernis.
Der Beschwerdeführer ist minderjährig und leidet an einer zentralen Bewegungs- oder Koordinationsstörung. Er besucht von Montag bis Freitag eine private Schule der heilpädagogischen Tagesstätte in O. Da M. aufgrund seiner Behinderung nicht in der Lage ist, sich frei zu bewegen, benutzt er einen Rollstuhl mit Keil, einen Therapiestuhl mit Keil und einen Stehständer im Unterricht. Die Nutzung dieser Hilfsgeräte ist in einem Wochenplan festgehalten und jeweils zeitlich begrenzt. Da die Gefahr besteht, dass M. aus dem Rollstuhl oder Therapiestuhl rutscht, wird er zeitlich begrenzt mit einem Beckengurt festgehalten. Das ermöglicht ihm eine stabile Sitzposition. Im Unterricht wird zudem ein Stehständer eingesetzt, um für M. vorübergehend eine aufrechte Haltung zu erreichen, was orthopädischen Fehlstellungen seiner Wirbelsäule vorbeugen soll. Ohne eine Fixierung im Becken, kann M. den Stehständer nicht benutzen.
M. kann nicht sprechen und sich lediglich über einen Sprachcomputer eingeschränkt verständigen. Er hat im Rahmen seiner Anhörung zum Ausdruck gebracht, dass die Benutzung eines Beckengurts mit den genannten Hilfsgeräten für ihn normal ist. Während der Maßnahmen ist immer eine Betreuungsperson anwesend.
Das Amtsgericht hat das Genehmigungsverfahren eingestellt, da es eine Genehmigung des Beckengurtes für nicht erforderlich hält. M. Möglichkeit zur Fortbewegung werde nicht eingeschränkt, sondern erweitert und die eingesetzten Geräte dienten überwiegend therapeutischen Zwecken.
Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Verfahrensbeistands im Namen des Betroffenen.
Der Verfahrensbeistand ist der Auffassung, dass der Beckengurt genehmigt werden müsse. M. könne sich nicht äußern und es bestehe die Gefahr, dass die Eltern Therapiemaßnahmen befürworten, die M. möglicherweise nicht haben möchte. M. werde so bis zum Eintritt der Volljährigkeit alleine gelassen. Seine Freiheit werde entzogen, wenn er zeitweilig in einer Apparatur fixiert werde.
Die Beteiligten erhielten Gelegenheit zur Stellungnahme. Auf eine weitere mündliche Verhandlung in der Beschwerdeinstanz konnte verzichtet werden.
Die Beschwerde des Verfahrensbeistandes im Namen des betroffenen Kindes ist zulässig, in der Sache jedoch unbegründet, § 59 FamFG.
Der Verfahrensbeistand handelt im Interesse des Kindes und ist berechtigt, im Namen des Kindes Beschwerde einzulegen, § 158 Abs. 4 S.5 FamFG. Da er mit der Beschwerde die Einhaltung gesetzlicher Genehmigungserfordernisse zum Schutze des Kindes einfordert, ist er auch beschwerdebefugt nach § 59 Abs. 1 FamFG.
Das Amtsgericht Rosenheim ist zu Recht davon ausgegangen, dass der Einsatz des Beckengurts im zu entscheidenden Fall keiner Genehmigung durch das Familiengericht bedarf. Die Eltern können die Benutzung des Beckengurts bei M. zur Nutzung des Rollstuhls, Therapiestuhls und Stehständers im Rahmen seines Schulbesuchs in der heilpädagogischen Tagesstätte in O. in Ausübung ihrer elterlichen Sorge selbst genehmigen.
Die im konkreten Fall anzuwendende Maßnahme unterfällt nicht dem Genehmigungserfordernis des § 1631 b Abs. 2 BGB. Sinn und Zweck des § 1631 b Abs. 2 BGB ist es, den Minderjährigen davor zu schützen, dass seine Fortbewegungsfreiheit und Entschließungsfreiheit zur Fortbewegung ohne Genehmigung und zu anderen als den gesetzlich vorgesehenen Zwecken eingeschränkt wird. Geschützt wird die Fortbewegungsfreiheit und nicht die allgemeine Handlungsfreiheit. Dient die konkrete Maßnahme ausschließlich anderen Zwecken wie etwa therapeutischen oder medizinischen Zwecken, die als Nebenwirkung möglicherweise die Bewegungsfreiheit einschränken, unterliegt die Entscheidung der Eltern über ihren Einsatz nicht dem Vorbehalt der richterlichen Genehmigung (vgl. BT-Drucksache 18/11278, Seite 17).
In erster Linie ist daher darauf abzustellen, ob der Einsatz eines Beckengurts den minderjährigen M. während seines Schulbesuchs in seiner Fortbewegungsfreiheit einschränkt. Dies ist zu verneinen. Ohne einen Beckengurt könnte M. im Rollstuhl oder Therapiestuhl nicht stabil sitzen und sich entsprechend seinem Willen fortbewegen und am Schulgeschehen, wie z.B. Sportunterricht, teilnehmen. Das wird ihm durch den Einsatz eines Beckengurtes gerade erst ermöglicht. Auch der Stehständer mit Beckengurt bietet M. die Möglichkeit, sich aufzurichten. Das wäre ihm ohne Beckengurt gerade nicht möglich. M. soll aus therapeutischen Gründen zeitweise eine aufrechte Haltung einnehmen, um orthopädische Fehlstellungen an der Wirbelsäule zu verhindern. Der Einsatz des Beckengurts am Stehständer dient daher ausschließlich therapeutischen Zwecken und nicht der Einschränkung der Fortbewegungsmöglichkeit. Dies gilt ebenso für den Therapiestuhl. Aus dem vorgelegten Wochenplan ergibt sich, dass der Rollstuhl während des Sportunterrichts eingesetzt wird, sonst nicht. Eine Teilnahme am Sportunterricht ohne Beckengurt zum Schutz ist nicht möglich.
§ 1631 b Abs. 2 BGB bietet keinen Schutz davor, dass Eltern Therapiemaßnahmen befürworten, die der Minderjährige nicht mitmachen möchte z.B. Teilnahme am Sportunterricht. Dies gehört in den Bereich der elterlichen Verantwortung. Auch nichtbehinderte Kinder müssen sich der Tatsache stellen, dass die Eltern im Rahmen ihres Rechts zur Erziehung erzieherische Maßnahmen befürworten, die das Kind möglicherweise nicht will. Ein Schutz des Kindes ergibt sich hier über § 1666 BGB.
Eltern tragen nicht nur die rechtliche, sondern auch die persönliche Verantwortung für ihre Kinder; ihre Beziehung ist von einer engen persönlichen Nähe geprägt. Eltern handeln gegenüber ihren Kindern im Gegensatz zu einem Betreuer, der für Erwachsene entscheidet, nicht aufgrund staatlicher Bestellung, sondern in Ausübung ihres Elternrechts aus Art.6 Abs. 2 S.2 GG. Dieses garantiert den Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Eltern können daher grundsätzlich frei von staatlichen Eingriffen nach eigenen Vorstellungen darüber entscheiden, wie sie die Pflege und Erziehung ihrer auch ggfs. in einer Einrichtung lebenden behinderten Kinder gestalten und damit ihrer Elternverantwortung gerecht werden. Sie können daher entscheiden, welche Therapiemaßnahmen ergriffen werden sollen zum Wohle ihrer Kinder. Solange die Fortbewegungsfreiheit dabei nicht eingeschränkt wird, bedürfen sie dazu keiner richterlichen Genehmigung.
Davon zu unterscheiden wäre eine Fixierung eines Kindes z.B. in der Nacht, das sich grundsätzlich fortbewegen könnte und zu seinem Schutz fixiert wird. Hier wäre eine richterliche Genehmigung erforderlich. M. kann sich jedoch ohne die getroffenen Maßnahmen nicht fortbewegen oder aufstehen. Vielmehr wird ihm durch den Einsatz eines Rollstuhls und Therapiestuhls im Rahmen seines Schulbesuchs erst eine Fortbewegung ermöglicht. Der Einsatz eines Beckengurtes macht die Nutzung der Hilfsmittel möglich und verhindert damit nicht etwa eine beabsichtigte Fortbewegung. Der Stehständer dient im Übrigen allein therapeutischen Zwecken, um einer orthopädischen Fehlstellung vorzubeugen. Das Einnehmen einer aufrechten Haltung stellt eine therapeutische Maßnahme dar.
Die Beschwerde ist daher zurückzuweisen.
Von einer erneuten mündlichen Verhandlung oder Anhörung M.s wurde abgesehen nach § 68 abs.3 FamFG. Neuere Erkenntnisse sind nicht zu erwarten. Die Anhörung M.s durch das Amtsgericht erfolgte zeitnah. Auch hier sind keine neueren Erkenntnisse zu erwarten.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 84, 81 Abs. 1 S.1 FamFG. Von einer Erhebung von Gerichtskosten wurde abgesehen, da die Beschwerde im überwiegenden Interesse des betroffenen Kindes eingelegt wurde. Außergerichtliche Auslagen werden nicht erstattet.
Die Festsetzung des Verfahrenswertes beruht auf §§ 40, 42 Abs. 2, 3 FamGKG.
Die Rechtsbeschwerde wird nach § 70 Abs. 2 Nr. 1 FamFG zugelassen, da die zu klärende Rechtsfrage bisher höchstrichterlich nicht entschieden wurde. Eine einheitliche Rechtsprechung liegt noch nicht vor. Die Klärung der Genehmigungsbedürftigkeit freiheitsentziehender Maßnahmen ist von grundsätzlicher Bedeutung, insbesondere im Hinblick darauf, dass bei Annahme einer Genehmigungsbedürftigkeit daraus umfassend Anhörungspflichten der zuständigen Amtsgerichte entstehen.


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