Familienrecht

Kindergeld, Bescheid, Leistungen, Aufenthaltserlaubnis, Afghanistan, Jobcenter, Heimatland, Antragstellung, Widerspruch, Nachbarn, Nachbar, Anfechtung, Leistungsbescheid, Anspruch, Anspruch auf Kindergeld, zwei Wochen, nicht ausreichend

Aktenzeichen  S 11 KG 1/20

Datum:
24.6.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 15328
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Landshut
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Bescheid vom 18.12.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.02.2020 wird abgeändert. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger für August 2019 204,00 Euro zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Beklagte hat dem Kläger 1/10 der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.
III. Die Berufung wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Klage ist, soweit sie teilweise zulässig ist, begründet.
Der Kläger begehrt die Zahlung von Kindergeld für den Zeitraum ab August 2019. Er hat seinen Antrag in der Klage für die Zukunft nicht beschränkt.
A. Der streitgegenständliche Ablehnungsbescheid vom 18.12.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.02.2020 wurde, soweit er die den Zeitraum ab September 2019 betraf, bestandskräftig. Insoweit ist die Klage unzulässig.
Allgemein anerkannt ist, dass eine Teilaufhebung von Verwaltungsakten möglich ist. Entsprechend sind Teilanfechtungen von Verwaltungsakten möglich. Von der Teilbarkeit eines Verwaltungsaktes gehen auch die Vorschriften des Zehnten Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) über das Sozialverwaltungsverfahren aus, wenn es etwa in § 39 Abs. 2 SGB X heißt, „ein Verwaltungsakt bleibt wirksam, solange und soweit er nicht zurückgenommen … ist.“ Eine ähnliche Regelung findet sich in § 45 Abs. 1 SGB X, in der es heißt, „Soweit ein Verwaltungsakt, … rechtswidrig ist, darf er, … zurückgenommen werden.“ Voraussetzung ist allerdings, dass der Verwaltungsakt teilbar ist. Das ist der Fall, wenn einzelne Teile selbstständig und unabhängig voneinander stehen bleiben oder aufgehoben werden können, wenn sie nicht in einem derartigen Zusammenhang zueinanderstehen, dass das Schicksal des einen Teils unabdingbar mit dem anderen Teil verbunden ist (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage 2020, § 131 Rn. 3b).
Nach diesen Grundsätzen besteht der Ablehnungsbescheid vom 18.12.2019 aus mehreren selbstständigen Teilen, die grundsätzlich eine Teilanfechtung möglich machen. Es wird darin der Anspruch in jedem Monat abgelehnt. Der von einer Rechtsanwältin vertretene Kläger hat mit seinem Widerspruch vom 20.01.2020 die Anfechtung des Ablehnungsbescheides ausdrücklich auf die Zeit „bis einschließlich August 2019“ beschränkt. Auch in der Klagebegründung wird erneut auf die Widerspruchsbegründung verwiesen.
Wird der gegen einen Verwaltungsakt gegebene Rechtsbehelf nicht oder erfolglos eingelegt, so ist der Verwaltungsakt für die Beteiligten in der Sache bindend, soweit durch Gesetz nichts anderes bestimmt ist. Diese in § 77 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bestimmte Bestandskraft eines Verwaltungsaktes findet auch Anwendung auf teilweise angefochtene Bescheide. Besteht ein Verwaltungsakt aus mehreren selbstständigen und damit eigenständig anfechtbaren Teilen (s. o.) und wird ein solcher teilbarer Verwaltungsakt nur teilweise angefochten, so treten hinsichtlich der nicht angefochtenen Teile die Folgen ein, die bei einer Nichtanfechtung insgesamt eintreten, nämlich die Bindungswirkung gemäß § 77 SGG. Dies folgt aus der Teilanfechtbarkeit von Verwaltungsakten, § 77 SGG und dem hinter dieser Vorschrift stehenden Gebot der rechtlichen Befriedung gegenüber der materiellen Gerechtigkeit, die auch dann den Vorzug verdient, wenn in einem teilbaren Bescheid selbstständige Bestandteile unanfechtbar geworden sind. Dem Befriedungsgebot und der damit vom Gesetzgeber gewollten Rechtssicherheit in der Fortgeltung getroffener und nicht angefochtener Entscheidungen würde entgegenlaufen, dass in teilbaren Bescheiden nicht angegriffene Teile zu einem späteren Zeitpunkt aufgegriffen und gegebenenfalls aufgehoben werden (vgl. Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Urteil vom 21. Januar 2003 – L 6 KA 18/02 -, Rn. 24 – 27 m. w. N.).
Wegen des Zeitraums nach August 2019 kann sich der Kläger im Rahmen eines Verfahrens nach § 44 SGB X wenden. Hier kann offenbleiben, ob ein solcher Antrag nicht bereits in der Klage vom 01.04.2020 zu sehen ist.
B. Soweit die Klage wegen des Monats August 2019 zulässig ist, ist sie auch begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 18.12.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.02.2020 ist bezogen auf die Ablehnung für den Monat August 2019 rechtswidrig, sodass der Kläger hierdurch beschwert ist im Sinne von § 54 Abs. 2 S. 1 SGG.
Der Kläger hat für August 2019 Anspruch auf Gewährung von Kindergeld nach Maßgabe des BKGG.
Jedenfalls im August 2019 liegen auch die Anspruchsvoraussetzungen vor.
1. Der Kläger war im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis, die zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigte, § 1 Abs. 3 Nr. 2 BKGG.
2. Der Kläger erfüllt auch die übrigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Kindergeld nach dem BKGG.
Nach § 1 Abs. 2 S. 1 BKGG erhält Kindergeld für sich selbst, wer 1. in Deutschland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, 2. Vollwaise ist oder den Aufenthalt seiner Eltern nicht kennt und 3. nicht bei einer anderen Person als Kind zu berücksichtigen ist.
Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
Der Kläger hatte im August 2019 seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland. Er lebt seit 2015 in Deutschland. Es liegen keinerlei Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger in absehbarer Zeit beabsichtigt, nach Afghanistan zurückzukehren. Der Kläger ist auch nicht bei einer anderen Person als Kind zu berücksichtigen. Der Vater ist, soweit erkennbar, tot, die Mutter lebt jedenfalls nicht in Deutschland.
3. Der Kläger erfüllt auch die Voraussetzungen von § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BKGG: Zwar ist er nicht Vollwaise, aber er kennt den Aufenthalt seiner Eltern nicht.
Der Vater des Klägers ist, soweit ersichtlich, tot. Dies wird auch nicht von der Beklagten bezweifelt.
Ob die Mutter des Klägers noch lebt, ist unbekannt. Den letzten Kontakt zu ihr hatte der Kläger nach eigenen Angaben im Jahr 2017. Nach Überzeugung der Kammer hatte der Kläger jedenfalls im August 2019 keine Kenntnis vom Aufenthaltsort seiner Mutter. Dabei schließt zunächst lediglich positive Kenntnis des antragstellenden Kindes von dem Aufenthalt des Elternteils den Leistungsanspruch aus (grundlegend hierzu und zu dem hierbei anzuwendenden subjektiven Maßstab siehe Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 08. April 1992 – 10 RKg 12/91 -, SozR 3-5870 § 1 Nr.1). Dieser Rechtsprechung, die nach wie vor aktuell ist (siehe BSG, Urteil vom 05. Mai 2015 – B 10 KG 1/14 R -, BSGE 119, 33-43, SozR 4-5870 § 1 Nr. 4, Rn. 16), wird seitens der landessozialgerichtlichen und sozialgerichtlichen Rechtsprechung (soweit veröffentlicht), zumindest überwiegend geteilt (vgl. nur Landessozialgericht für das Land Niedersachsen, Urteil vom 20. Februar 2001 – L 8/3 KG 5/00 -; Sozialgericht (SG) Landshut, Beschluss vom 17. April 2012 – S 10 KG 1/12 ER -; SG Mainz, Urteil vom 22. September 2015 – S 14 KG 4/15 -; Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Urteil vom 23. Juni 2016 – L 5 KG 1/15 -; Landessozialgericht Hamburg, Beschluss vom 22. Februar 2018 – L 2 KG 1/18 B ER -; SG Düsseldorf, Urteil vom 20. Juli 2020 – S 19 KG 5/20 -). In der Entscheidung von 1992 hatte das BSG zugleich darauf hingewiesen, dass sich aus § 1 Abs. 2 (S. 1) Nr. 2 BKGG „in keinerlei Hinsicht“ ein Verschuldensgrad entnehmen lasse, bei dessen Vorliegen eine positive Kenntnis unterstellt werden könne. Damit reicht es nicht aus, wenn das antragstellende Kind schuldhaft (grob fahrlässig oder vorsätzlich) Hinweisen über den Aufenthaltsort seiner Eltern (hier des Vaters) nicht nachgeht (BSG, Urteil vom 08.04.1992, a. a. O., Rn. 18). Lediglich bei „missbräuchlicher Nichtkenntnis“ sei zu erwägen, ob dies einer Kenntnis im Sinne von § 1 Abs. 2 (S. 1) Nr. 2 BKGG gleichgestellt werden könne (a. a. O.). In diesem Zusammenhang hat das BSG auf die zivilrechtliche Rechtsprechung zu § 852 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) hingewiesen (a. a. O.). Diesen Gesichtspunkt hat das LSG Sachsen-Anhalt in seinem Urteil vom 23.06.2016 – L 5 KG 1/15 – aufgegriffen und hierzu ausgeführt (Rn. 36, 37):
Nach § 852 Abs. 1 BGB a.F. hängt der Beginn der Verjährung von deliktischen Ansprüchen davon ab, dass der Verletzte – oder der Wissensvertreter – Schaden und Schädiger positiv kennen. Die Vorschrift wird auch dann angewendet, wenn der Verletzte die Kenntnis zwar tatsächlich nicht besitzt, sie sich aber in zumutbarer Weise ohne nennenswerte Mühe beschaffen könnte. Denn der Verletzte soll es nicht in der Hand haben, die Verjährungsfrist einseitig dadurch zu verlängern, dass er die Augen vor einer sich aufdrängenden Kenntnis verschließt (Rechtsgedanke des § 162 BGB). Allerdings genügt eine grob fahrlässig verschuldete Unkenntnis der positiven Kenntnis nicht. Ein solcher Fall liegt nur vor, wenn der Geschädigte eine sich ihm ohne Weiteres anbietende, gleichsam auf der Hand liegende Erkenntnismöglichkeit nicht wahrnimmt. Nur dann liegt ein Fall von missbräuchlichem sich Verschließen vor der Kenntnis vor, der mit einer positiven Kenntnis gleichzusetzen ist.
Kriterien für eine missbräuchliche Unkenntnis sind nach der Rechtsprechung des BGH: Das Verschließen der Augen vor einer sich aufdrängenden Kenntnis oder die unterbliebene Wahrnehmung von sich anbietenden und auf der Hand liegenden Erkenntnismöglichkeiten, deren Erlangen weder besondere Kosten noch nennenswerte Mühe verursacht. Dies ist der Fall, wenn etwa eine einfache Nachfrage genügen würde zur positiven Kenntniserlangung. Dies gilt aber dann nicht mehr, wenn lange und zeitraubende Telefonate oder umfangreiche Schriftwechsel erforderlich würden (BGH, Urteil vom 5. Februar 1985 – VI ZR 61/83 -, Rn. 16). Ebenfalls keine missbräuchliche Kenntnis liegt vor, wenn der Geschädigte die aus seiner Sicht in Betracht kommenden Auskunftsstellen erfolglos um Mitteilung gebeten und erst durch eine verspätet gewährte Akteneinsicht Kenntnis erlangt hat (BGH, Urteil vom 5. Februar 1985, a. a. O., Rn. 17).
Dem entsprechen die Hinweise des BSG in dem Urteil vom 08.04.1992 (a. a. O., Rn. 20), die auf die Erwägungen der Vorinstanz verweisen, wonach eine Nichtkenntnis des Kindes von dem Aufenthalt seiner Eltern dann nicht anzunehmen sei, wenn der Aufenthalt durch einfache Nachforschungen zu ermitteln sei; darüber hinausgehende Anforderungen, insbesondere der Nachweis fruchtloser Bemühungen bei den zuständigen Behörden des letzten Aufenthaltsstaates, könnten jedoch nicht verlangt werden.
Unter Zugrundelegung dieser Erwägungen kann vorliegend nicht festgestellt werden, dass ein missbräuchliches „sich Verschließen“ vorliegt, das der positiven Kenntnis gleichzusetzen wäre (zu dieser Formulierung LSG Sachsen-Anhalt, a. a. O., Leitsatz 1).
Dem Kläger kann nicht widerlegt werden, dass er den aktuellen Aufenthalt seiner Mutter nicht kennt. Ausreichend ist auch nicht die bloße Vermutung des Klägers, die Mutter sei irgendwo in Afghanistan. Denn hierbei handelt es sich um keinen konkreten Aufenthaltsort im Sinne des Gesetzes. Vielmehr kommt es auf einen festen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt (mit konkreter Adresse) an (SG Mainz, Urteil vom 22.09.2019 – S 14 KG 4/15 -). Hierfür bestehen vorliegend keinerlei Anhaltspunkte.
Gegen ein missbräuchliches „sich Verschließen“ spricht vorliegend zunächst, dass die Beklagte dem Kläger zuvor über Jahre hinweg Kindergeld nach dem BKGG gewährt hatte, ohne irgendwelche Anforderungen an den Kläger zu stellen (oder eigene Ermittlungen durchzuführen). Die Beklage hat auch im Rahmen des Weiterbewilligungsantrags den Kläger erstmals im Ablehnungsbescheid vom 18.12.2019 darauf hingewiesen, dass vom Kläger eigene, weitergehende Ermittlungen verlangt werden. Mangels vorheriger Aufforderung durch die Beklagte scheidet nach Überzeugung der Kammer missbräuchliches „sich Verschließen“ aus, da sich der Kläger nicht zu weitergehenden eigenen Nachforschungen gedrängt sehen musste. Wenn die Beklagte dem Kläger missbräuchliches „sich Verschließen“ durch fehlende Eigenbemühungen vorwirft, dürfte sich zudem die zur Amtsermittlung verpflichtete Beklagte selbst zu eigenen Nachforschungen gedrängt sehen. Eigene Ermittlungen der Beklagten sind der Akte jedenfalls nicht zu entnehmen.
Der Kläger hat folglich Anspruch auf Kindergeld für sich selbst für den Monat August 2019 in der damaligen gesetzlichen Höhe.
C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt das nur teilweise Obsiegen des Klägers. Gründe für die Zulassung der Berufung (der Beklagten) gemäß § 144 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.


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