Familienrecht

Kostenerstattung bei Inobhutnahme eines unbegleiteten ausländischen Kindes oder Jugendlichen

Aktenzeichen  W 3 K 17.634

Datum:
20.9.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 28106
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VIII § 19, § 42, § 42d Abs. 4, Abs. 5, § 86, § 86b, § 87, § 89d, § 89f Abs. 1

 

Leitsatz

1 Ein Kostenerstattungsanspruch des örtlichen Trägers der Jugendhilfe gegen den überörtlichen Träger setzt im Falle der Inobhutnahme eines unbegleiteten ausländisches Kindes oder Jugendlichen eine unverzügliche Benachrichtigung des Vormundschaftsgerichtes voraus. Die Frist hierfür beträgt regelmäßig nur wenige Tage. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
2 Die gerichtliche Kontrolle der Gesetzeskonformität aufgewendeter Jugendhilfekosten im Rahmen der Prüfung des Umfangs der Kostenerstattung ist in den Fällen in Obhut genommener unbegleitet eingereister ausländischer Jugendlicher in einer Einrichtung, welche bei materieller Betrachtungsweise bereits eine grundsätzlich bedarfsgeeignete Hilfe erbringt, im Hinblick auf den kostenerstattungsrechtlichen Interessenswahrungsgrundsatz darauf beschränkt, ob die in der Erstversorgungseinrichtung gewährte Hilfe – wegen Ungeeignetheit oder wegen weggefallenen Hilfebedarfs – nicht geboten war, oder ob Anlass bestand, diese Hilfe bereits früher in eine weniger kostenintensive Hilfeform zu überführen. Dabei ist die Entscheidung über die individuell erforderlichen Hilfemaßnahmen von dem erstattungsberechtigten Jugendhilfeträger in eigener Verantwortung zu treffen und daher dessen Einschätzung für den erstattungspflichtigen Träger maßgeblich (vgl. BVerwG BeckRS 2004, 25470). (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die für … … … seit dem 4. Februar 2013 bis zum 31. Oktober 2015 angefallenen Jugendhilfekosten in noch genau zu beziffernder Höhe zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 30. Juni 2017 zu erstatten.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Von den Kosten des Verfahrens hat der Beklagte 14/15 und die Klägerin 1/15 zu tragen.
III. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die zulässige Klage, über die das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte (§ 101 Abs. 2 VwGO), ist zum überwiegenden Teil begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Erstattung der für H.S. aufgewendeten Kosten der Jugendhilfe für die Zeit vom 4. Februar 2013 bis zum 31. Oktober 2015. Im Übrigen ist die Klage unbegründet und war daher abzuweisen.
Der Anspruch auf Kostenerstattung ergibt sich aus §§ 42, 89d Abs. 1 und 3 des Achten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VIII) in der bis zum 31.10.2015 geltenden Fassung (in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. September 2002 [BGBl. I S. 2022], zuletzt geändert durch Art. 5 des Gesetzes vom 17. Juli 2015 [BGBl. I S. 1368], nachfolgend: SGB VIII a.F., soweit Norm geändert). Das Achte Buch Sozialgesetzbuch wurde mit Wirkung vom 1. November 2015 durch das Gesetz zur Verbesserung und Unterbringung, Versorgung und Betreuung von ausländischen Kindern und Jugendlichen vom 28. Oktober 2015 (BGBl. I S. 1802) geändert und insbesondere die §§ 42a ff., § 88a in das Gesetz neu eingefügt und § 89d Abs. 3 aufgehoben (mit Wirkung zum 1.7.2017). Das Gesetz enthält in § 42d Abs. 4 und 5 Übergangsregelungen für bis dahin (nach § 42 SGB VIII) erfolgten Inobhutnahmen von unbegleitet eingereisten ausländischen Jugendlichen. Nach § 42d Abs. 5 SGB VIII ist die Geltendmachung des Anspruchs des örtlichen Trägers gegenüber dem nach § 89d Abs. 3 SGB VIII erstattungspflichtigem Land auf Erstattung der Kosten, die nach dem 1. November 2015 entstanden sind, ausgeschlossen.
Gemäß § 89d Abs. 1 SGB VIII sind die Kosten, die ein örtlicher Träger aufwendet, vom Land zu erstatten, wenn innerhalb eines Monats nach der Einreise eines jungen Menschen oder eines Leistungsberechtigten nach § 19 SGB VIII Jugendhilfe gewährt wird und sich die örtliche Zuständigkeit nach dem tatsächlichen Aufenthalt dieser Person oder nach der Zuweisungsentscheidung der zuständigen Landesbehörde richtet. Nach Art. 52 des Gesetzes zur Ausführung der Sozialgesetze (AGSG) vom 8. Dezember 2006 sind für die Kostenerstattung nach § 89d SGB VIII a.F. die Bezirke zuständig; sie handeln hierbei im eigenen Wirkungskreis.
Nach § 89f Abs. 1 SGB VIII sind die aufgewendeten Kosten zu erstatten, soweit die Erfüllung der Aufgaben den Vorschriften dieses Buches entspricht. Dies bedeutet, dass Aufwendungen, die ohne Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen erbracht wurden, nicht zu erstatten sind.
Nach § 42 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn ein ausländisches Kind oder ein ausländischer Jugendlicher unbegleitet nach Deutschland kommt und sich weder Personensorge- noch Erziehungsberechtigte im Inland aufhalten. Die Inobhutnahme umfasst die Befugnis, ein Kind oder einen Jugendlichen bei einer geeigneten Person, in einer geeigneten Einrichtung oder in einer sonstigen Wohnform vorläufig unterzubringen. Nach § 42 Abs. 3 Satz 4 SGB VIII ist im Fall des Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 unverzüglich die Bestellung eines Vormunds oder Pflegers zu veranlassen. Für die Inobhutnahme eines Kindes oder eines Jugendlichen nach § 42 ist der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich sich das Kind oder der Jugendliche vor Beginn der Maßnahme tatsächlich aufhält, (§ 87 SGB VIII a.F.).
Bei der ersten Inobhutnahme am 5. Dezember 2012 war die Klägerin gemäß § 87 SGB VIII a.F. für die Inobhutnahme von H. S. örtlich zuständig.
Auch für die am 3. Januar 2013 in München erneut erfolgte Inobhutnahme lag die Zuständigkeit der Klägerin nach § 87 SGB VIII a.F. vor. Insbesondere ist kein Zuständigkeitsübergang nach § 86 Abs. 7 Satz 2 SGB VIII wegen der Zuweisungsentscheidung der Regierung der Oberpfalz vom 18. Dezember 2012 eingetreten. Denn § 86 SGB VIII gilt nur für „Leistungen“ der Jugendhilfe. Was Leistungen der Jugendhilfe sind, ist in § 2 Abs. 2 SGB VIII legal definiert. Die Inobhutnahme fällt nicht unter den Leistungskatalog, sondern ist eine „sonstige Aufgabe“ der Jugendhilfe im Sinne von § 2 Abs. 3 SGB VIII (vgl. Kunkel/Kepert in LPK – SGB VIII, 5. Aufl. 2014, § 86 Rn. 66; BVerwG, U.v. 24.6.1999 – 5 C 24/98 – juris Rn. 34). Allerdings wurde bei beiden Inobhutnahmen die Vorschrift des § 42 Abs. 3 Satz 4 SGB VIII nicht beachtet und es erfolgte keine unverzügliche Verständigung des Vormundschaftsgerichtes. Zwar wurde bei der ersten Inobhutnahme am 5. Dezember 2012 zunächst das Vormundschaftsgericht Weiden von der Inobhutnahme verständigt, dabei wurde aber das Geschlecht von H. S. mit männlich angegeben und am 10. Dezember 2012 dem Familiengericht mitgeteilt, der Antrag auf Ruhen der elterlichen Sorge vom 5. Dezember 2012 werde zurückgenommen. In der Folgezeit erfolgte im Rahmen der ersten Inobhutnahme kein neuer Antrag an das Familiengericht, eine Vormundschaft für H. S. einzurichten. Auch nach der zweiten Inobhutnahme am 3. Januar 2013 erfolgte erst am 4. Februar 2013 eine Benachrichtigung des Familiengerichts. Ein Kostenerstattungsanspruch des örtlichen Trägers der Jugendhilfe gegen den vom Bundesverwaltungsamt bestimmten überörtlichen Träger setzt im Falle der Inobhutnahme eine unverzügliche Benachrichtigung des Vormundschaftsgerichtes voraus; die Frist hierfür beträgt auch bei unbegleitet einreisenden Kindern und Jugendlichen regelmäßig nur wenige Tage. Mit dem Gebot, „unverzüglich“ eine Entscheidung des Vormundschaftsgerichts über die zum Wohl des Kindes oder Jugendlichen erforderlichen Maßnahmen herbeizuführen, bringt das Gesetz zum Ausdruck, dass es sich bei den Entscheidungen und Maßnahmen des Jugendamtes zunächst nur um vorläufige Maßnahmen handelt, während die erforderlichen sorgerechtlichen Maßnahmen vom Vormundschaftsgericht zu treffen sind. Dem widerspräche es, wenn das Jugendamt die Befugnis hätte, ein Kind oder einen Jugendlichen wochen- oder monatelang in eigener Zuständigkeit unter Obhut zu halten, ohne eine Entscheidung des Vormundschaftsgerichts herbeizuführen. Bei der Auslegung des Begriffs „unverzüglich“ ist mangels entgegenstehender Anhaltspunkte davon auszugehen, dass dieser – wie in § 121 BGB – „ohne schuldhaftes Zögern“ bedeutet. Zwar ist „unverzüglich“ nicht gleichbedeutend mit „sofort“, vielmehr muss dem Jugendamt eine angemessene Zeit zur Prüfung und Entscheidung bleiben, welche sich durch die Sorge um das Wohl des Minderjährigen bestimmt. Dies kann jedoch nicht dazu führen, dass bei unbegleitet einreisenden ausländischen Kindern und Jugendlichen das Tatbestandsmerkmal „unverzüglich“ im Ergebnis zu einer im Gesetz nicht vorgesehenen Monatsfrist wird (vgl. BVerwG, U.v. 24.6.1999, a.a.O. Rn. 41). Auch wenn die Klägerin sich darauf beruft, dass von ihr „im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise“ eine sehr hohe Anzahl von Inobhutnahmen vorzunehmen waren, ist zu konstatieren, dass die Zahlen im Jahr 2013 noch nicht so hoch waren. So wurden nach eigenen Angaben der Klägerin (Quelle: www.münchen.de/Stadtverwaltung/Sozialreferat/Flüchtlinge in München /Aktuelles/Aktuelles aus 2016, Mitteilung 19.1.2016) im Jahr 2013 rund 550 unbegleitete Minderjährige in Obhut genommen, 2014 steigerte sich die Zahl auf 2.610 und 2015 auf über 5.100). Zudem waren die Personalien von H. S. bereits von der ersten Inobhutnahme bekannt und die Mitteilung an das Vormundschaftsgericht vom 4. Februar 2013 enthielt außer den Namen der Eltern und dass deren Anschrift unbekannt sei, keinerlei weiteren Angaben, für deren Ermittlung längere Zeit erforderlich gewesen wäre. Die verspätete Meldung an das Vormundschaftsgericht führt aber nicht dazu, dass die gesamte Inobhutnahme rechtswidrig wird, sondern dass nur bis zur Nachholung der erforderlichen Handlung von einer Rechtswidrigkeit der Inobhutnahme auszugehen ist. Somit besteht ein Anspruch auf Erstattung der Kosten der Inobhutnahme ab dem 4. Februar 2013.
Von der Beklagtenseite wird eingewendet, die Inobhutnahme bis zum 20. September 2013 sei wegen der langen Dauer rechtswidrig gewesen. Nach § 89d Abs. 4 SGB VIII entfällt die Verpflichtung zur Erstattung der aufgewendeten Kosten, wenn inzwischen für einen zusammenhängenden Zeitraum von drei Monaten Jugendhilfe nicht zu gewähren war. „Nicht zu gewähren war“ die Hilfe aber auch dann, wenn sie zu Unrecht gewährt wurde (Kunkel/Pattar in LPK – SGB VIII, 5. Aufl. 2014, § 89d Rn. 12; OVG NRW, U.v. 17.4.2002 – 12 A 4007/00 – juris).
Die Dauer der Inobhutnahme ist gesetzlich nicht geregelt. Nach § 42 Abs. 4 Nr. 2 SGB VIII endet die Inobhutnahme mit der Entscheidung über die Gewährung von Hilfen nach dem Sozialgesetzbuch. Eine solche Entscheidung ist hier erst mit Unterbringung von H. S. in einer Mutter-Kind-Einrichtung ab dem 20. September 2013 erfolgt. Grundsätzlich ist nicht davon auszugehen, dass eine Inobhutnahme automatisch nach drei Monaten beendet sein muss mit der Folge, dass nach Ablauf dieser Frist die Inobhutnahme von einer rechtmäßigen erstattungsfähigen in eine rechtswidrige nicht erstattungsfähige Maßnahme umschlägt. Das Bundesverwaltungsgericht führt hierzu (U.v. 12.8.2004 – 5 C 51/03 – juris Rn 16, 17) aus: „Nach § 89f Abs. 1 SGB VIII sind die aufgewendeten Kosten zu erstatten, soweit die Erfüllung der Aufgaben den Vorschriften dieses Buches entspricht… Die gerichtliche Kontrolle der Gesetzeskonformität aufgewendeter Jugendhilfekosten im Rahmen der Prüfung des Umfangs der Kostenerstattung gemäß § 89f SGB VIII ist in den Fällen in Obhut genommener unbegleitet eingereister ausländischer Jugendlicher (§ 89d SGB VIII) in einer Einrichtung, welche bei materieller Betrachtungsweise bereits eine grundsätzlich bedarfsgeeignete Hilfe erbringt, im Hinblick auf den kostenerstattungsrechtlichen Interessenswahrungsgrundsatz darauf beschränkt, ob die in der Erstversorgungseinrichtung gewährte Hilfe – wegen Ungeeignetheit oder wegen weggefallenen Hilfebedarfs – nicht geboten war, oder ob die Klägerin Anlass hatte, diese Hilfe bereits früher in eine weniger kostenintensive Hilfeform zu überführen… Dabei ist die Entscheidung über die individuell erforderlichen Hilfemaßnahmen von dem erstattungsberechtigten Jugendhilfeträger in eigener Verantwortung zu treffen und daher dessen Einschätzung für den erstattungspflichtigen Träger maßgeblich“.
In einer Stellungnahme der Klägerin zu der Dauer der Inobhutnahme vom 14. Oktober 2013 wird ausgeführt, das Verfahren zur Feststellung des Ruhens der elterlichen Sorge und der Vormundbestimmung dauere durchschnittlich zwei bis drei Monate. Die Dauer lasse sich mit der Pflicht zur Ermittlung nicht nur der Daten des Jugendlichen, sondern auch mit der Ermittlung der Daten seiner Eltern begründen. Dem Jugendlichen seien hierzu dolmetschergestützt die Verfahren zu erklären und es sei Vertrauen aufzubauen, bis sich der Jugendliche schließlich dazu bereit erkläre, die geforderten Daten mitzuteilen. Der bestellte Vormund erbitte sich ca. 14 Tage Zeit, um den Jugendlichen kennenzulernen, das Clearing zum Jugendhilfebedarf auszuwerten und den Antrag auf Hilfe zur Erziehung zu stellen. Die Unterbringung im Rahmen der Hilfe zur Erziehung gemäß Hilfeplanverfahren benötige ebenfalls einige Wochen Zeit, da zunächst die geeignete Hilfe festgestellt werden müsse und ein geeigneter Platz unter Berücksichtigung von Wartezeiten in den Jugendhilfeeinrichtungen gefunden werden müsse. Während der schwierigen Zeit der geeigneten Platzsuche habe sich herausgestellt, dass H. S. sich bereits im dritten Schwangerschaftsmonat befunden habe. So hätten erneute Platzanfragen für eine Mutter-Kind-Einrichtung gestellt werden müssen und letztendlich habe nach diversen Anfragen und längeren Wartezeiten H. S. letztlich am 20. September 2013 in einer geeigneten Einrichtung untergebracht werden können.
Aufgrund dieser Stellungnahme und aus den vorgelegten Leistungsakten der Klägerin ist ersichtlich, dass bei H. S. ein jugendhilferechtlicher Betreuungsbedarf vorhanden war. Neben der Rundumbetreuung in der Jugendpension wurden für H. S. weitere Leistungen erbracht (z.B. Kosten für eine Traumatherapie). Die Kosten in der Jugendpension dürften auch nicht wesentlich über dem Tagessatz sonstiger stationärer Jugendhilfeeinrichtungen in München liegen. Auch gegenüber der später gewährten Hilfe im Mutter-Kind-Heim ist kein großer kostenmäßiger Unterschied festzustellen. Somit kann nicht davon ausgegangen werden, dass der jugendhilferechtliche Bedarf entfallen war bzw. eine Überführung in eine kostengünstigere Maßnahme angezeigt gewesen wäre.
Auch die Leistungen nach § 19 SGB VIII (Übernahme der Kosten der Mutter-Kind-Einrichtung) durch die Klägerin waren rechtmäßig. Insbesondere war die Klägerin örtlich für die Leistungsgewährung zuständig. Nach § 86b Abs. 1 SGB VIII ist für Leistungen in gemeinsamen Wohnformen für Mutter und Kind der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich der nach § 19 SGB VIII Leistungsberechtigte vor Beginn der Leistung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. § 86a Abs. 2 SGB VIII gilt entsprechend. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 24.6.1999 – 5 C 24/98 – juris, Leitsatz 2) ist davon auszugehen, dass minderjährige Asylbegehrende jedenfalls nach Ablauf von sechs Monaten einen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne von Art. 1 des Haager Minderjährigenschutzabkommens begründen. Nach § 86a Abs. 2 SGB VIII richtet sich die örtliche Zuständigkeit nach dem gewöhnlichen Aufenthalt vor der Aufnahme in diese Wohnform, wenn sich jemand vor Beginn der Leistung in einer Einrichtung zur Erziehung aufgehalten hat. Wenn man die Zeit der Inobhutnahme als Unterbringung in einer Einrichtung zur Erziehung ansieht, hatte H. S. vor Aufnahme in die Mutter-Kind-Einrichtung keinen gewöhnlichen Aufenthalt, sodass sich die örtliche Zuständigkeit nach § 86b Abs. 2 SGB VIII und damit nach dem tatsächlichen Aufenthalt vor der Aufnahme in die Einrichtung richtet. Dies wäre ebenfalls wieder München, so dass die Klägerin örtlich zuständig für die Kostenübernahme in der Mutter-Kind-Einrichtung war. Es besteht auch keine von § 86b SGB VIII abweichende Sonderzuständigkeit nach § 86 Abs. 7 Satz 2 SGB VIII. Im Falle der Verpflichtung des Jugendamtes, unbegleitete Minderjährige nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII in Obhut zu nehmen und diese in einer Einrichtung der Jugendhilfe unterzubringen, entfällt die zuvor mit der Asylantragstellung begründete Verpflichtung zur Wohnsitznahme in einer Aufnahmeeinrichtung. Die Bestimmungen über die Wohnpflicht nach dem Asylverfahrensgesetz treten im Fall einer auf der Grundlage des Achten Buches Sozialgesetzbuch verfügten Unterbringung in einer Jugendhilfeeinrichtung kraft gesetzlicher Anordnung zurück. Ist ein vor Vollendung des 18. Lebensjahres unbegleitet nach Deutschland eingereister asylsuchender (minderjähriger) Ausländer, der weder Personensorge- noch Erziehungsberechtigte im Inland hat, in Obhut zu nehmen und unterzubringen, so unterfällt er auch nicht dem gemäß § 45f AsylVfG (jetzt: AsylG) vorgesehenen Verteilungsverfahren. Eine gleichwohl ihm gegenüber ergangene Weiterleitungsanordnung ist rechtswidrig (vgl. BayVGH, B.v. 23.9.2014 – 12 CE 14.1833, 12 C 14.1865 – juris Rn. 16).
Somit besteht eine Kostenerstattungspflicht des Beklagten für die Kosten, die in der Zeit vom 4. Februar 2013 bis zum 31. Oktober 2015 angefallen sind. Die Kosten der Inobhutnahme für die Zeit vor dem 4. Februar 2013 sind jedoch wegen der fehlenden Anrufung des Vormundschaftsgerichts nicht zu erstatten.
Dem Gericht war es aufgrund der vorgelegten Unterlagen nicht möglich, den genauen Betrag der vor dem 4. Februar 2013 angefallenen Kosten zu ermitteln; sie belaufen sich überschlägig auf ca. 13.000,00 EUR. Aus diesem Grund wurde die Formulierung in Ziffer I des Tenors gewählt. Der Anspruch der Klägerin ist in analoger Anwendung der §§ 291, 288 Abs. 1 Satz 2 BGB mit 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz jährlich zu verzinsen. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 155 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 188 Satz 2 Halbs. 2 VwGO nicht gerichtskostenfrei. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 709 Satz 1 und Satz 2 ZPO.


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