Familienrecht

Nichtannahmebeschluss: Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde mangels Rechtswegerschöpfung bei unterlassener Anhörungsrüge – bei besonderen Anhaltspunkten für Nichtberücksichtigung entscheidungserheblichen Vorbringens ist Erhebung der Anhörungsrüge zwingend geboten – hier: erwerbsfähiges unverheiratetes Kind unter 25 Jahren als erwerbsfähiger Hilfebedürftiger iSv § 7 Abs 3 Nr 1 SGB IIjuris: SGB 2

Aktenzeichen  1 BvR 1526/12

Datum:
20.11.2012
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Nichtannahmebeschluss
ECLI:
ECLI:DE:BVerfG:2012:rk20121120.1bvr152612
Normen:
Art 103 Abs 1 GG
§ 90 Abs 2 S 1 BVerfGG
§ 7 Abs 3 Nr 1 SGB 2
§ 20 Abs 2 S 2 Nr 2 SGB 2
§ 178a SGG
Spruchkörper:
1. Senat 3. Kammer

Verfahrensgang

vorgehend Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 30. März 2012, Az: L 6 AS 1930/11 B, Beschlussvorgehend SG Münster, 21. Oktober 2011, Az: S 15 AS 563/11, Beschluss

Gründe

1
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen Beschlüsse in einem sozialgerichtlichen Verfahren, in dem der Antrag auf Bewilligung
von Prozesskostenhilfe mangels hinreichender Erfolgsaussicht der Rechtsverfolgung abgelehnt wurde.

I.
2
1. Die am … 1986 geborene Beschwerdeführerin lebt mit ihrem erwerbsunfähigen 56-jährigen Vater in einem gemeinsamen Haushalt.
Am … 2011 gebar sie einen Sohn, für den der … 2011 als Geburtstermin errechnet worden war.

3
Der Grundsicherungsträger stellte ein Recht der Beschwerdeführerin auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach
dem SGB II für die Zeit von März bis Juni 2011 fest. Hierbei berücksichtigte er einen monatlichen Regelbedarf in Höhe von
291 € und einen Mehrbedarf bei werdenden Müttern in Höhe von monatlich 49 €, im Juni 2011 wegen des errechneten Geburtstermins
in Höhe von anteilig 48 €. Die Beschwerdeführerin habe mit ihrem Vater im streitigen Zeitraum eine Bedarfsgemeinschaft gebildet,
die erst geendet habe, als deren Sohn zur Welt gekommen sei. Deshalb sei nur der geminderte Regelbedarf für sonstige erwerbsfähige
Angehörige im Sinne des § 20 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB II zugrunde zu legen gewesen. Daraus errechne sich der Anteil von 17
% für den Mehrbedarf bei werdenden Müttern.

4
Über die hiergegen erhobene Klage, mit der die Beschwerdeführerin Leistungen für den Regelbedarf in Höhe von monatlich 364
€ und solche für den Mehrbedarf bei werdenden Müttern in Höhe von monatlich 62 € begehrt, wurde noch nicht entschieden. Zur
Begründung trug die Beschwerdeführerin vor, sie bilde als erwerbsfähige Hilfebedürftige den Kopf der Bedarfsgemeinschaft.
Daher hätte nicht sie ihrem erwerbsunfähigen Vater, sondern dieser ihr für die Berechnung der Leistungen zugeordnet werden
müssen. Bei ihr seien demzufolge der volle Regelbedarf und wegen des prozentualen Anteils auch ein höherer Mehrbedarf bei
werdenden Müttern zu berücksichtigen.

5
2. a) Das mit der Klage verbundene Prozesskostenhilfegesuch lehnte das Sozialgericht ab.

6
b) Das Landessozialgericht wies die Beschwerde mit Beschluss vom 30. März 2012 zurück. Die Klage habe keine hinreichende Aussicht
auf Erfolg. Bei der Beschwerdeführerin komme § 20 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB II zur Anwendung, denn sie sei eine sonstige erwerbsfähige
Angehörige einer Bedarfsgemeinschaft. Daher sei monatlich lediglich der anteilige Regelbedarf von 291 € zu berücksichtigen.
Die Erhöhung der Altersgrenze für die Einbeziehung von erwachsenen, im Haushalt lebenden Kindern in die Bedarfsgemeinschaft
mit den Eltern beziehungsweise einem Elternteil mit Wirkung ab Juli 2006 sei nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts
verfassungsgemäß. Danach dürfe der fürsorgerechtliche Gesetzgeber bei der Frage, ob der Einsatz staatlicher Mittel gerechtfertigt
sei, von den Regelungen des Unterhaltsrechts abweichen und typisierend unterstellen, dass in einem Haushalt zusammenlebende
Familienangehörige, die vorliegend sogar in gerader Linie verwandt seien, sich unterstützten.

7
Der Umstand, dass der Vater der Beschwerdeführerin erwerbsunfähig sei, stehe der Annahme einer Bedarfsgemeinschaft nicht entgegen.
Im Gegenteil sei § 7 Abs. 3 Nr. 2 SGB II ausschließlich auf den Fall anzuwenden, in dem das Kind erwerbsfähig sei, die Eltern
beziehungsweise Partner hingegen nicht. Ansonsten, also bei erwerbsfähigen Eltern beziehungsweise Elternteilen, greife § 7
Abs. 3 Nr. 4 SGB II für im Haushalt lebende, unter 25-jährige Hilfebedürftige. Dass die Beschwerdeführerin Adressatin der
Bewilligungsbescheide gewesen sei, habe allein daran gelegen, dass sie gegenüber dem Grundsicherungsträger als primär Leistungsberechtigte
und ihr Vater als sekundär Leistungsberechtigter gegolten habe, da er wegen seiner Erwerbsunfähigkeit einen über § 19 Abs.
1 Satz 2 SGB II abgeleiteten Anspruch auf Sozialgeld habe. Daher sei Ausgangsbetrag für den Anteil von 17 % des Regelbedarfs
auch derjenige von 291 € und nicht derjenige von 364 €. Anhaltspunkte für eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung im Vergleich
mit werdenden Müttern, für die sich aufgrund eines höheren Regelbedarfs ein höherer Mehrbedarf errechne, seien nicht ersichtlich.

8
c) Die Gegenvorstellung verwarf das Landessozialgericht als unzulässig. Die Beschwerdeführerin mache mit dem außerordentlichen
Rechtsbehelf keine andere Verletzung als die des Rechts auf rechtliches Gehör geltend. Sie bemängele, dass lediglich ein Teilaspekt
ihrer Klagebegründung bei der Prüfung der Erfolgsaussicht der Klage Berücksichtigung gefunden habe. Sie trage vor, insbesondere
ihr Vortrag, dass nicht ihr Vater, sondern sie selbst als Haushaltsvorstand der Bedarfsgemeinschaft anzusehen sei, sei unbeachtet
geblieben. Vorsorglich werde im Übrigen darauf hingewiesen, dass das Gericht nach nochmaliger Prüfung an seiner Entscheidung
vom 30. März 2012 festhalte.

9
Die von der Beschwerdeführerin eingelegte Gegenvorstellung, die als solche ausdrücklich bezeichnet worden sei, könne nicht
als Anhörungsrüge ausgelegt werden. Dessen ungeachtet wäre eine solche Rüge aber auch als unzulässig zu verwerfen gewesen,
da der Schriftsatz vom 20. April 2012 nicht innerhalb von zwei Wochen nach Kenntnis der Verletzung des rechtlichen Gehörs
beim Landessozialgericht eingegangen sei. Der Beschluss vom 30. März 2012 sei am 4. April 2012 zugestellt worden, weshalb
die Rügefrist mit Ablauf des 18. April 2012 geendet habe.

10
3. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin sinngemäß eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG durch Verstoß
gegen das Willkürverbot sowie von Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 und Art. 19 Abs. 4 GG. Es gehe demgegenüber
nicht um die Rüge einer Verletzung des Rechts aus Art. 103 Abs. 1 GG auf rechtliches Gehör.

11
Die Beschwerdeführerin trägt im Wesentlichen vor, die Gerichte hätten die Anforderungen an die Gewährung von Prozesskostenhilfe
in verfassungsrechtlich zu beanstandender Weise überspannt. Zudem habe das Sozialgericht ebenso wie das Landessozialgericht
willkürlich ihr auf die Systematik des § 7 SGB II gestütztes Argument nicht gewürdigt, sie und nicht ihr Vater sei Haushaltsvorstand
der Bedarfsgemeinschaft gewesen.

II.
12
Die Voraussetzungen für die Annahme der Verfassungsbeschwerde liegen nicht vor. Sie hat keine grundsätzliche verfassungsrechtliche
Bedeutung (§ 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG) und ihre Annahme erscheint auch nicht zur Durch-setzung von Grundrechten oder
grundrechtsgleichen Rechten der Beschwerde-führerin angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbe-schwerde
hat keine Aussicht auf Erfolg. Ihr steht der Grundsatz der Subsidiarität entgegen.

13
1. Die anwaltlich vertretene Beschwerdeführerin musste nach dem aus § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG abzuleitenden Grundsatz der
Subsidiarität (vgl. BVerfGE 107, 395 ; 112, 50 ; 126, 1 ) eine Anhörungsrüge gemäß § 178a SGG erheben, da bei
deren Erfolg die mit der Verfassungsbeschwerde gerügten Grundrechtsverletzungen hätten beseitigt werden können (vgl. BVerfG,
Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 14. Juli 2011 – 1 BvR 1468/11 -, juris, Rn. 6).

14
2. Im vorliegenden Fall war eine Anhörungsrüge (§ 178a SGG) gegen den Beschluss des Landessozialgerichts nicht aussichtslos.

15
a) Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet die Gerichte nicht, auf jedes Vorbringen der Beteiligten in den Entscheidungsgründen ausdrücklich
einzugehen (vgl. BVerfGE 5, 22 ; 96, 205 ; stRspr). Eine Anhörungsrüge ist vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde
deswegen erst, dann allerdings zwingend zu erheben, wenn besondere Umstände darauf hindeuten, dass entscheidungserhebliches
Vorbringen nicht in der gebotenen Weise zur Kenntnis genommen oder erwogen worden ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer
des Zweiten Senats vom 19. April 2011 – 2 BvR 2374/10 -, juris, Rn. 4; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 24.
Juli 2008 – 2 BvR 610/08 -, juris, Rn. 6). Das Recht auf Gehör umfasst neben Äußerungen zu Tatsachen und Beweisergebnissen
auch solche zur Rechtslage (vgl. BVerfGE 60, 175 ; 64, 135 ). Zwar ist grundsätzlich davon auszugehen, dass Gerichte
alle rechtlichen Argumente würdigen, die im Verfahren eine Rolle spielen. Geht ein Gericht jedoch auf den wesentlichen Kern
des Vortrags zu einer zentralen Frage des Verfahrens in den Entscheidungsgründen nicht ein, lässt dies darauf schließen, dass
Vortrag nicht berücksichtigt wurde, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder aber offensichtlich
unsubstantiiert war (vgl. BVerfGE 86, 133 ).

16
b) Hier liegen besondere Umstände vor, die eine Anhörungsrüge vor der Erhebung der Verfassungsbeschwerde erforderlich machten.

17
aa) Die Beschwerdeführerin stützte sich für ihr mit der Beschwerde vor dem Landessozialgericht weiterhin verfolgtes Begehren
im Kern der Argumentation auf die Rechtsauffassung, dass ein erwerbsfähiges unverheiratetes Kind unter 25 Jahren die Stelle
des erwerbsfähigen Hilfebedürftigen im Sinne von § 7 Abs. 3 Nr. 1 SGB II einnimmt, wenn der im Haushalt lebende Elternteil,
der zur Bedarfsgemeinschaft gehört, erwerbsunfähig ist. Hieraus zog sie den Schluss, dass dann bei dem erwerbsfähigen Kind
der ungeminderte Regelbedarf (§ 20 Abs. 2 Satz 1 SGB II) und demzufolge ein höherer als der bei ihr berücksichtigte Mehrbedarf
bei werdenden Müttern (§ 21 Abs. 2 SGB II) zu berücksichtigen sei. Diese Auffassung ist nicht offensichtlich ohne Gehalt und
wird auch in der Fachliteratur vertreten (vgl. Spellbrink, in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl. 2008, § 7 Rn. 38 und 52).

18
Das Landessozialgericht ging auf diese Auffassung in den Entscheidungsgründen nicht ein. Es befasste sich zwar mit der Vorschrift
des § 20 SGB II, konkret dessen Absatz 2 Satz 2 Nr. 2, wonach für sonstige erwerbsfähige Angehörige der Bedarfsgemeinschaft
ein verminderter Regelbedarf zu berücksichtigen ist. Doch führte es weiter lediglich aus, weshalb zwischen der Beschwerdeführerin
und ihrem Vater eine Bedarfsgemeinschaft vorgelegen habe, und ging in diesem Zusammenhang auf die von der Beschwerdeführerin
nicht thematisierte Erhöhung der Altersgrenze in § 7 Abs. 3 Nr. 2 und Nr. 4 SGB II durch Artikel 1 Ziffer 2 Buchstabe b des
Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 24. März 2006 (BGBl I S. 558) von 18 auf
25 Jahren ein. Das Landessozialgericht hat also gerade nicht erwogen, ob bei der Beschwerdeführerin allein deshalb der für
alleinstehende Personen vorgesehene ungeminderte Regelbedarf des § 20 Abs. 2 Satz 1 SGB II anzuerkennen sei, da sie als einzig
erwerbsfähiges Mitglied der Bedarfsgemeinschaft zu den erwerbsfähigen Hilfebedürftigen im Sinne des § 7 Abs. 3 Nr. 1 SGB II
zu rechnen wäre, weshalb sie den Kopf der Bedarfsgemeinschaft bilden müsse.

19
bb) Unter den gegebenen Umständen lag auch die Annahme nahe, dass die Entscheidung des Landessozialgerichts auf der Nichtberücksichtigung
des Vorbringens beruhte. Denn hätte das Landessozialgericht dieses entscheidungserhebliche Vorbringen erwogen, wäre nicht
auszuschließen, dass es die hinreichende Erfolgsaussicht der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1, Abs.
4, § 56 SGG) bejaht sowie folglich unter Aufhebung der Entscheidung des Sozialgerichts Prozesskostenhilfe bewilligt und die
Prozessbevollmächtigte beigeordnet hätte.

20
cc) Eine nachträgliche Heilung dieses Mangels (zu dieser Möglichkeit siehe BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats
vom 24. Februar 2009 – 1 BvR 188/09 -, NVwZ 2009, S. 580 ) ist nicht dadurch eingetreten, dass das Landessozialgericht
in seinem Beschluss über die Gegenvorstellung ausführte, vorsorglich werde im Übrigen darauf hingewiesen, dass es nach nochmaliger
Prüfung an seiner Entscheidung vom 30. März 2012 festhalte. Hieraus ergibt sich nicht, weshalb das Gericht der Argumentation
der Beschwerdeführerin nicht folgte.

21
c) Da die Beschwerdeführerin den statthaften Rechtsbehelf der Anhörungsrüge nach § 178a SGG nicht erhoben hat, ist die Verfassungsbeschwerde
insgesamt unzulässig (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 25. April 2005 – 1 BvR 644/05 -, NJW 2005,
S. 3059 f.). Selbst wenn man die Gegenvorstellung als Anhörungsrüge auslegen wollte, so wäre dadurch dem Grundsatz der Subsidiarität
nicht Genüge getan; denn die Anhörungsrüge war zu diesem Zeitpunkt, worauf das Landessozialgericht hilfsweise hinweist, bereits
verfristet.

22
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

23
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.


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