Handels- und Gesellschaftsrecht

Regress wegen unwirtschaftlicher Verordnungsweise beim Sprechstundenbedarf

Aktenzeichen  S 21 KA 1237/15

Datum:
6.7.2016
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
BGB BGB § 823 Abs. 2
SGG SGG § 54 Abs. 5, § 77, § 105 Abs. 1
SGB V SGB V § 12 Abs. 1, § 69 Abs. 1 S. 3, § 73 Abs. 2, § 75 Abs. 1, § 106
SGB X SGB X § 52 Abs. 2, § 66 Abs. 4 S. 1, § 77
BMV-Ä BMV-Ä § 52 Abs. 1, Abs. 2 S. 1
StGB StGB § 263

 

Leitsatz

Zur Frage, ob und inwieweit im Rahmen einer statistischen Wirtschaftlichkeitsprüfung unterdurchschnittliche Werte bei den Arzneimittelverordnungen mit einem Mehraufwand beim Sprechstundenbedarf verrechnet werden können. (Rn. 26 – 34) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin EUR 960.441,58 nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab 8.12.2015 zu zahlen.
II. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.
Die erhobene Klage ist zulässig und auch begründet. .
1. Das Gericht konnte nach § 105 Abs. 1 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist, der Sachverhalt geklärt ist und die Beteiligten vorher gehört worden sind. Das gerichtliche Anhörungsschreiben vom 30.5.2016 ist der Klägerin laut Empfangsbekenntnis am 3.6.2016 und dem Bevollmächtigten des Beklagten laut Empfangsbekenntnis am 6.6.2016 zugegangen. Die Klägerin hat ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid erklärt. Der Beklagte hat sich nicht geäußert.
2. Die Klage ist als Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG zulässig.
a) Insbesondere besteht ein Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin.
Gemäß § 66 Abs. 4 S. 1 SGB X kann die Zwangsvollstreckung aus einem Verwaltungsakt in entsprechender Anwendung der Vorschriften der ZPO erfolgen. Nach allgemeinen Vollstreckungsgrundsätzen müssen sich jedoch aus dem Vollstreckungstitel u.a. Vollstreckungsgläubiger und –schuldner bestimmt oder bestimmbar ergeben. Dies ist vorliegend nicht der Fall, da sich aus den Bescheiden des Beschwerdeausschusses Ärzte Bayern vom 13.7.2006 die Position der Klägerin als Vollstreckungsgläubigerin der geltend gemachten Regressansprüche nicht entnehmen lässt. Folglich besteht ein Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin für die erhobene Leistungsklage zur Erlangung eines vollstreckbaren Titels.
b) Der Zusammenfassung mehrerer Forderungen in einer Klage stehen Vorschriften der Prozessordnung, des SGG, nicht entgegen.
3. Die Klage ist auch begründet.
a) Die Klägerin ist aktivlegitimiert.
Gemäß § 75 Abs. 1 SGB V haben die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Kassenärztlichen Bundesvereinigungen die vertragsärztliche Versorgung in dem in § 73 Abs. 2 SGB V bezeichneten Umfang sicherzustellen und den Krankenkassen und ihren Verbänden gegenüber die Gewähr dafür zu übernehmen, dass die vertragsärztliche Versorgung den gesetzlichen und vertraglichen Erfordernissen entspricht. Dazu gehört auch die Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebotes aus § 12 Abs. 1 SGB V. Inhalt der Gewährleistungspflicht der Kassenärztlichen Vereinigungen ist u.a., dass sie bei Verstößen gegen vertragsärztliche Pflichten den Krankenkassen hieraus zustehende Schadensersatz- und Regressforderungen gegen den betreffenden Vertragsarzt im Wege der Aufrechnung mit dessen Honorarforderungen geltend machen (Hess, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, § 75 SGB V, Rn. 12, Stand 89. EL März 2016; vgl. dazu auch § 52 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 BMV-Ä). Im Verhältnis zwischen der KVB und der AOK Bayern regelt § 10 Abs. 2 Gesamtvertrag, dass Regressbeträge im laufenden Kontokorrentverkehr verrechnet werden, d.h. der Anspruch der AOK Bayern auf rechtswirksame Regressbeträge im Wege der Verrechnung mit Forderungen der KVB gegen die AOK Bayern erfüllt wird.
Die die Kassenärztlichen Vereinigungen treffende Gewährleistungspflicht auch für gegen den einzelnen Vertragsarzt festgesetzte Regressbeträge endet jedoch, wenn eine Verrechnung gegen Honorarforderungen des Vertragsarztes nicht mehr möglich ist. In diesem Fall erlaubt § 52 Abs. 2 S. 2 BMV-Ä die Abtretung der Regressforderung von der KVB an die Krankenkassen. Diese Abtretung ist durch die KVB am 11.5.2016 hinsichtlich der Regressforderung für das Quartal 3/2001 in Höhe von 408.699,38 € und am 11.8.2015 hinsichtlich der Regressforderung für das Quartal 1/2002 erklärt worden. Von der Annahme der Abtretungserklärung durch die Klägerin ist auszugehen, wenn sie die in den Abtretungserklärungen bezeichneten Forderungen nun im Klageweg geltend macht. Eine ausdrückliche Annahme der Abtretungserklärungen der KVB ist nicht erforderlich.
Bei Regressen wegen der unwirtschaftlichen Verordnung von Sprechstundenbedarf ist zu beachten, dass nach Abschnitt I.1. und II.1. der Sprechstundenbedarfs-Vereinbarung vom 1.4.1999 zwischen der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns und der AOK Bayern – Die Gesundheitskasse, dem Arbeiter-Ersatzkassen-Verband e.V.- Landesvertretung Bayern -, dem BKK Landesverband Bayern, der Bundesknappschaft Verwaltungsstelle München, dem Funktionellen Landesverband der Landwirtschaftlichen Krankenkassen und Pflegekassen in Bayern, dem Landesverband der Innungskrankenkassen in Bayern und dem Verband der Angestellten-Krankenkassen e.V.- Landesvertretung Bayern – Sprechstundenbedarf zu Lasten der für den Vertragsarztsitz zuständigen AOK zu verordnen ist. Dementsprechend ist in der Vereinbarung über die Ermittlung und Aufteilung der Verwaltungskosten für die Abwicklung und die Umlage des Sprechstundenbedarfes zwischen der Klägerin und dem BKK Landesverband Bayern, der Knappschaft Regionaldirektion, dem Funktionellen Landesverband der Landwirtschaftlichen Krankenkassen und Pflegekassen in Bayern, der Signal Iduna IKK und den Ersatzkassen in § 2 Abs. 2 auch geregelt, dass Rechnungen der Apotheken-Rechenzentren und Apotheken durch die Klägerin sachlich und rechnerisch geprüft und bezahlt werden. Auch die Stellung von Anträgen zur Prüfung unwirtschaftlicher Verordnungsweise und die Führung von damit im Zusammenhang stehenden Widerspruchs- und Gerichtsverfahren ist der AOK Bayern übertragen. Dementsprechend ist sie auch für die Durchsetzung von Regressforderungen wegen unwirtschaftlich verordnetem Sprechstundenbedarf allein legitimiert.
b) Die Einwendungen gegen die Rechtmäßigkeit der Bescheide des Beschwerdeausschusses Bayern vom 13.7.2006 und der diese bestätigenden Urteile des Sozialgerichts München vom 25.4.2012 (S 21 KA 230/10 und 232/10) und des Landessozialgerichts München vom 25.6.2014 (L 12 KA 116/12 und L 12 KA 117/12) sind im hiesigen Verfahren wegen der Bindungswirkung nach § 77 SGG unbeachtlich.
Gemäß § 77 SGG ist ein Verwaltungsakt für die Beteiligten in der Sache bindend, wenn der gegebene Rechtsbehelf nicht oder erfolglos eingelegt wird. Die vom Beklagten erhobenen Klagen gegen die Bescheide des Beklagten vom 13.7.2006, mit denen Regresse für die Quartale 3/2001 und 1/2002 festgesetzt wurden, sind erfolglos geblieben. Sowohl die Klägerin als auch der Beklagte waren Beteiligte des Verfahrens vor dem Beschwerdeausschuss Ärzte Bayern, so dass die Festsetzung von Regressen für die unwirtschaftliche Verordnung von Sprechstundenbedarf im Quartal 3/2011 in Höhe von 408.699,38 € und im Quartal 1/2002 in Höhe von 551.742,20 € zwischen der Klägerin und dem Beklagten bindend ist. Der Beklagte kann im hiesigen Verfahren nicht mehr damit gehört werden, dass die Regresse aus verschiedenen Gründen zu Unrecht festgesetzt worden seien oder dass bei Festsetzung der Höhe der Regresse die den Krankenkassen zugeflossenen Beträge aus dem Vergleich mit der Apothekerin Frau D. zu berücksichtigen seien.
c) Die von der Klägerin geltend gemachten Forderungen gegen den Beklagten sind auch nicht durch die Zahlungen der Apothekerin Frau D. ganz oder teilweise erfüllt. Es ist durch den Beklagten nicht vorgetragen und auch sonst nicht ersichtlich, dass die Apothekerin mit den im Vergleich zwischen ihr und den Krankenkassen vom 15.6.2005 vereinbarten Zahlungen eventuelle Regressforderungen der Klägerin oder anderer Krankenkassen gegenüber dem Beklagten tilgen wollte. Dem Wortlaut des Vergleichs ist vielmehr zu entnehmen, dass die vereinbarten Zahlungen auf einer Retaxation der Abrechnung der Apothekerin gegenüber der Klägerin beruhen und der Vergleich somit allein Forderungen der Klägerin gegenüber der Apothekerin betrifft.
d) Die Forderungen der Klägerin sind nicht verjährt.
Entgegen der klägerischen Auffassung handelt es sich bei den Regressforderungen wegen unwirtschaftlicher Verordnung von Sprechstundenbedarf nicht um Ansprüche der Patienten gegen den Beklagten, welche auf die Klägerin übergegangen wären, sondern um originäre, auf §§ 75, 106 SGB V beruhende öffentlich-rechtliche Ansprüche der Klägerin. Diese Ansprüche waren im Verfahren der Wirtschaftlichkeitsprüfung nach § 106 SGB V in Verbindung mit der jeweils gültigen Prüfvereinbarung durch Verwaltungsakt festzusetzen. § 52 Abs. 1 SGB X hemmt ein Verwaltungsakt, der zur Feststellung oder Durchsetzung des Anspruchs eines öffentlich-rechtlichen Rechtsträgers erlassen wird, die Verjährung dieses Anspruchs. Die Hemmung endet mit Eintritt der Unanfechtbarkeit des Verwaltungsakts. Die Unanfechtbarkeit der Bescheid des Beschwerdeausschusses Bayern vom 13.7.2006 ist mit den Beschlüssen des Bundessozialgerichts vom 11.2.2015 (Az. B 6 KA 51/14 B und B 6 KA 52/14 B) eingetreten. Nach Eintritt der Unanfechtbarkeit beträgt die Verjährungsfrist nach § 52 Abs. 2 SGB X 30 Jahre. Diese Verjährungsfrist ist im Jahr 2016 nicht abgelaufen.
e) Der von der Klägerin geltend gemachte Zinsanspruch ergibt sich aus § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V in Verbindung mit §§ 291 S. 1 und 2, § 288 Abs. 1 S. 2 BGB.
II.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 1 VwGO.


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