Handels- und Gesellschaftsrecht

Zulässigkeit der Schadensschätzung nach § 287 ZPO

Aktenzeichen  13 U 4537/19

Datum:
10.12.2020
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 36430
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
Nürnberg
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
BGB § 252 S. 2
ZPO § 287
StVG § 7 Abs. 1, § 17

 

Leitsatz

Von der Erholung eines Sachverständigengutachtens zur Schadenshöhe wird vor allem dann regelmäßig gemäß § 287 Abs. 1 Satz 2 ZPO abzusehen sein, wenn die Kosten der Begutachtung dasjenige deutlich übersteigen, was nach einer richterlichen Schätzung absehbar an Unsicherheit verbleibt. Eine rein richterliche Schätzung verbietet sich nur dort, wo es keine konkreten Anhaltspunkte gibt, auf die eine Schätzung gestützt werden kann. (Rn. 8 – 9)

Verfahrensgang

AN 2 O 197/19 2019-11-08 Endurteil LGANSBACH LG Ansbach

Tenor

I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Landgerichts Ansbach vom 8. November 2019 folgendermaßen abgeändert:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin insgesamt 9.854,28 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 7. Dezember 2018 zu zahlen.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die weitergehende Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen.
III. Von den Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Klägerin 15% und die Beklagte 85%. Von den Kosten des Verfahrens in erster Instanz tragen die Klägerin 35% und die Beklagte 65%.
IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Beschluss
Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 5.453 € festgesetzt.

Gründe

I.
Die Darstellung des Tatbestands ist entbehrlich (§ 540 Abs. 2, § 313a Abs. 1 Satz 1 ZPO).
II.
Die zulässige Berufung ist teilweise begründet. Die Klägerin hat gegen die Beklagte Anspruch auf entgangenen Gewinn in Höhe von insgesamt 9.854,28 € aus § 7 Abs. 1, § 17 StVG; § 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG mit § 252 BGB. Hinsichtlich des vom Landgericht darüber hinaus zugesprochenen Betrags (798,72 €) war das angegriffene Urteil abzuändern und die Klage abzuweisen.
1. Das Landgericht hat in der Hauptsache entgangenen Gewinn in Höhe von 10.653 € zugesprochen. Hiergegen wendet sich die Berufung der Beklagten, soweit ein höherer Betrag als 5.200 € zugesprochen wurde. Letzteren Betrag akzeptiert die Beklagte, ausgehend von fiktiv angesetzten Mietkosten in Höhe von 200 € pro Ausfalltag, für 26 Ausfalltage.
Hinsichtlich des über 5.200 € hinausgehenden Betrags macht die Beklagte im Kern geltend:
a) Das Landgericht habe verschiedene Positionen für die Ermittlung des entgangenen Gewinns geschätzt und dabei teilweise die Schätzgrundlagen nicht konkret bezeichnet. Die Schätzung sei insgesamt nicht schlüssig, etwa deshalb, weil einzelne Positionen auf Kalendertage und andere auf Einsatztage umgerechnet worden seien. Die Beklagte habe erwartet, dass die Gewinnermittlung durch ein Sachverständigengutachten erfolgen werde.
b) Das Ersturteil enthalte keine relevanten Ausführungen zu einer möglichen Verletzung der Schadensminderungspflicht durch die Klägerin, etwa dazu, warum die Anmietung eines Mietwagens nicht möglich gewesen sei, oder dazu, warum nicht zumindest teilweise Aufträge auf die beiden anderen Lkw der Klägerin hätten verlagert werden können oder der verunfallte Lkw dazwischen nicht auch tageweise hätte eingesetzt werden können.
2. Die vom Landgericht vorgenommene Schätzung der Schadenspositionen ist nachvollziehbar begründet. Sie entspricht den Anforderungen des § 287 ZPO. Die Bewertung wird vom Senat auch im Ergebnis geteilt, abgesehen von einer bei den ersparten Mautkosten gebotenen Korrektur.
a) Die Feststellung des entgangenen Gewinns ist der Paradefall der Schadensermittlung im Wege der Schätzung. Sie ist hier nicht nur zulässig, sondern unumgänglich. Die Feststellung erfordert naturgemäß immer eine Prognose, deren Richtigkeit nicht mit letzter Sicherheit feststellbar ist. Daher wird schon im materiellen Schadensrecht klargestellt, dass das zu ersetzen ist, was mit Wahrscheinlichkeit erwartet werden konnte (§ 252 Satz 2 BGB). Damit korrespondiert, dass keine zu strengen Anforderungen an den diesbezüglichen Sachvortrag des Anspruchstellers gestellt werden dürfen (BGH, Urteil vom 22. Oktober 1987 – III ZR 197/86, juris Rn. 14; Urteil vom 9. November 2010 – VI ZR 300/08, juris Rn. 17; Urteil vom 8. Mai 2018 – VI ZR 295/17, juris Rn. 34). Erforderlich, aber auch ausreichend ist, dass Ausgangs- und Anknüpfungstatsachen für eine Schadensschätzung vorgetragen werden (BGH, Urteil vom 23. Februar 2010 – VI ZR 331/08, juris Rn. 31; Urteil vom 9. November 2010 – VI ZR 300/08, juris Rn. 17).
Der Sinn der flankierenden prozessualen Regelung in § 287 ZPO liegt unter anderem darin eine Beweisaufnahme zu vermeiden, die deutlich höhere Kosten verursacht als der mit ihr gegenüber der Unschärfe einer richterlichen Schätzung näher aufklärbare Betrag. Dieser in § 287 Abs. 2 ZPO ausdrücklich ausformulierte Gedanke gilt auch für § 287 Abs. 1 ZPO, er ist den dort geregelten Fällen immanent. Es soll vermieden werden, dass bei allein zur Höhe eines auf Geldzahlung gerichteten Anspruchs Prozesse mit einem wirtschaftlichen Aufwand geführt werden, der dazu führt, dass unter Berücksichtigung der Prozesskosten per Saldo beide Parteien (wirtschaftlich) verlieren. Deshalb hat der Gesetzgeber die Durchführung einer beantragten Beweisaufnahme und dort insbesondere die Erholung von Sachverständigengutachten in § 287 Abs. 1 Satz 2 ZPO ausdrücklich in das Ermessen des Gerichts gestellt. Nach Sinn und Zweck der Regelung wird von der Erholung eines Sachverständigengutachtens zur Schadenshöhe vor allem dann regelmäßig abzusehen sein, wenn die Kosten der Begutachtung dasjenige deutlich übersteigen, was nach einer richterlichen Schätzung absehbar an Unsicherheit verbleibt. Eine rein richterliche Schätzung verbietet sich daher nur dort, wo es keine konkreten Anhaltspunkte gibt, auf die eine Schätzung gestützt werden kann und diese daher „in der Luft hinge“ (BGH, Urteil vom 8. Mai 2012 – VI ZR 37/11, juris Rn. 9).
b) Hieran gemessen ist die landgerichtliche Schätzung methodisch richtig. Der Senat teilt auch das Ergebnis der Bewertung, abgesehen von einer Korrektur bei den ersparten Aufwendungen für Maut.
aa) Vorliegend hat das Landgericht hinreichend konkrete Anhaltspunkte für die Schätzung, die es auch nachvollziehbar dargestellt hat. Die Rüge, das Landgericht habe seine Schätzgrundlagen nicht konkret benannt, trifft für die wesentlichen Grundlagen der Schätzung nicht zu. Insbesondere hat das Landgericht die Hauptgrundlage seiner Schadensermittlung, nämlich die Gutschriften der C. GmbH für Frachtaufträge aus den vergleichbaren Zeiträumen des Vor- und Folgejahres benannt und ausgeführt, dass diese Beträge durch Vorlage der Anlagen K 5 bis K 7 (detaillierte IGS-Abrechnungen der C. GmbH) nachgewiesen sind, das Landgericht sich also anhand dieser Beweismittel von diesen Anknüpfungstatsachen für die Schätzung überzeugt hat. Das Landgericht hat darauf aufbauend auch nachvollziehbar und argumentativ vollends überzeugend ausgeführt, warum sich die Schätzung richtigerweise auf diese Zahlen stützen lässt.
bb) Gleiches gilt für die Grundlagen der Schätzung ersparter variabler Kosten. Das Landgericht hat hier uneingeschränkt transparent und konkret seine Schätzgrundlagen benannt und den darauf gestützten Schätzvorgang einschließlich des Rechenwegs nachvollziehbar und folgerichtig offengelegt.
Soweit die Beklagte in der Berufungsbegründung die Frage aufwirft, wieso einzelne Positionen auf Kalendertage umgerechnet würden, andere auf Einsatztage, ist für den Senat nicht recht nachvollziehbar, was die Beklagte damit meint. Das angegriffene Urteil bezieht den Schaden durchweg auf Einsatztage. Ein kalenderwöchentlicher Betrag ist lediglich als Zwischenschritt bei der Ermittlung der arbeitstäglichen Roherlöse genannt, wo dieser dann folgerichtig auf fünf Arbeitstage verteilt wird, nachvollziehbar zugrunde legend, dass ein Wochenerlös in der Regel an fünf Arbeitstagen (Einsatztagen) erzielt wird.
Nicht ausdrücklich offengelegt hat das Landgericht lediglich die Quelle für die Schätzung des durchschnittlichen Kraftstoffverbrauchs auf 100 km für einen Lkw der streitgegenständlichen Art sowie des durchschnittlichen Wartungsaufwands. Beides sind aber Werte, die, soweit man sie nicht schon – insbesondere beim Kraftstoffverbrauch – ohne nähere Darlegung einer auf Allgemeinbildung basierenden eigenen Sachkunde des Gerichts zuschreiben will, mit dem für eine Schätzung im Rahmen des § 287 ZPO erforderlichen Maß an überschlägiger Richtigkeit jedenfalls unschwierig allgemein zugänglichen Quellen zu entnehmen sind. Bemüht man letztere, so ergibt sich insbesondere beim Verbrauch von Dieselkraftstoff, dass dieser vom Landgericht mit 30 Litern auf 100 km für einen Lkw der streitgegenständlichen Art in einer realistischen Größenordnung geschätzt wurde. Dementsprechend führt die Beklagte in der Berufungsbegründung auch mit keinem Wort aus, welchen von der Schätzung des Landgerichts abweichenden Wert sie bei den beiden genannten Punkten für richtig erachtet.
cc) Eine Korrektur ist lediglich insofern geboten, als das Landgericht die Aufwendungen für ersparte Lkw-Maut allein auf der Grundlage der vorgelegten Toll-Collect-Abrechnungen mit nur 15 € werktäglich angesetzt hat, während in den Gutschriften der Auftraggeberin der Klägerin (C. GmbH) deutlich höhere Beträge als „Deutsche Maut“ ausgewiesen sind (im Ergebnis etwa insgesamt 45,70 € am Tag).
Zeitlich kompatible Unterlagen von Toll-Collect einerseits und C. GmbH andererseits für das Jahr 2017 liegen nur für die Zeit vom 10. Januar bis 17. Februar vor (Toll-Collect mit 434,00 € gegenüber C. GmbH mit 1.255,13 € für „Deutsche Maut“). Rechnet man mit dem prozentualen Anteil, der sich aus diesem Zeitraum für die „Deutsche Maut“ an dem Gesamtbetrag der Gutschriften in diesem Zeitraum ergibt (8,36% Mautanteil), als Abzug für ersparte Maut, ausgehend vom Roherlös, den das Landgericht geschätzt hat (547 € pro Tag), so ergibt sich eine Gesamtforderung für entgangenen Gewinn in Höhe von insgesamt 9.854,28 €€.
Roherlös (wie Landgericht)
26 Werktage
547,00 €
14.222,00 €
ersparte Maut (8,36% des Roherlöses)
– 1.188,96 €
ersparter Kraftstoff (wie Landgericht)
26 Werktage
106,00 €
– 2.756,00 €
ersparte Wartung (wie Landgericht)
– 422,76 €
9.854,28 €
dd) Das Landgericht hat zu Recht von der Erholung eines Sachverständigengutachtens abgesehen. Die dafür zu erwartenden Kosten hätten ein Mehrfaches der Summe betragen, um die das Ergebnis einer Begutachtung von der richterlichen Schätzung realistischer Weise allenfalls hätte abweichen können.
3. Das Landgericht hat keinen Abzug vom ermittelten Schaden für einen Verstoß gegen die Schadensminderungspflicht vorgenommen und damit zu erkennen gegeben, dass es seiner Entscheidung zugrunde legt, es habe einen derartigen Verstoß nicht gegeben. Zwar hat das Landgericht dies in den Entscheidungsgründen des angegriffenen Urteils nicht ausdrücklich angesprochen. Im Ergebnis ist das Urteil insoweit gleichwohl zutreffend.
Für eine Verletzung der Schadensminderungspflicht ist der Anspruchsgegner, hier also die Beklagte, darlegungs- und beweispflichtig. Dahinstehen kann, ob insoweit überhaupt konkreter Tatsachenvortrag der Beklagten vorliegt; letztlich äußert sie nur, welche Pflichtverletzungen sie für denkbar hält, nicht selten lediglich im Gewand rhetorischer Fragen. Selbst wenn man dies aber als ausreichenden Tatsachenvortrag ansehen wollte, fehlt es jedenfalls an Beweisangeboten der beweispflichtigen Beklagten.
Dahinstehen kann auch, ob vorgelagert eine sekundäre Darlegungslast der Klägerin besteht. Eine solche kommt in Betracht, soweit es um Tatsachen geht, für welche zwar die Beklagte darlegungspflichtig ist, die aber in der Sphäre der Klägerin liegen. Vorliegend hat aber die Klägerin einer derartigen möglichen sekundären Darlegungslast jedenfalls Genüge getan, indem sie sich zu den wesentlichen aufgeworfenen Fragen konkret erklärt hat. Insbesondere hat sie ausgeführt, warum die mit dem beschädigten Fahrzeug bedienten Aufträge nicht mit den beiden weiteren bei der Klägerin verfügbaren Lkw abgewickelt hätten werden können und aus welchen Gründen ein dem verunfallten Fahrzeug entsprechendes Mietfahrzeug nicht am Markt verfügbar gewesen sei.
Der Geschäftsführer der Klägerin hat sich auch nicht – wie die Beklagte meint -widersprüchlich zum letztgenannten Punkt geäußert, weil er in mündlicher Verhandlung angemerkt hat, er „gehe davon aus“, dass die Klägerin „hier mindestens 200,00 € Mietkosten hätte aufbringen müssen, um ein Ersatzfahrzeug zu bekommen.“ Unmittelbar an diese Äußerung anschließend folgt nämlich der Satz an: „Dies ist aber tatsächlich gar nicht möglich“ (Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 10. September 2019, S. 2). Aus dem Sachzusammenhang, auch mit den weiteren vorangehenden Äußerungen, ergibt sich also, dass der Geschäftsführer der Klägerin lediglich zum Ausdruck bringen wollte, dass allgemein für Nutzfahrzeuge dieser Art seines Erachtens mindestens Mietkosten in der genannten Höhe anfallen, dies aber letztlich nicht entscheidend sei, weil ein tatsächlich kompatibles Fahrzeug am Mietmarkt für die Klägerin nicht verfügbar gewesen sei.
III.
Die Kostenentscheidung erging gemäß § 92 Abs. 2 ZPO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 708 Nr. 10, §§ 711, 713 ZPO.
IV.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor. Die Rechtssache hat weder grundsätzliche Bedeutung noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts (§ 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Entscheidend sind tatrichterliche Fragen der Schätzung von entgangenem Gewinn nach § 287 ZPO. Soweit Rechtsfragen von Bedeutung sind, folgt der Senat der bestehenden höchstrichterlichen Rechtsprechung.


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