IT- und Medienrecht

Ablehnung des Erlasses einer eA: Nachteile bei verzögerter Fertigstellung der sog “Ethylenpipeline Süd” überwiegen die lediglich wirtschaftliche, entschädigungsfähige Beeinträchtigung der Nutzbarkeit landwirtschaftlicher und vom Bau der Pipeline betroffenen Grundstücke – Zu den Anforderungen an die Darlegung eines schweren Nachteils bei einem Antrag auf Erlass einer eA gem § 32 BVerfGG

Aktenzeichen  1 BvR 2297/10

Datum:
6.9.2010
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Ablehnung einstweilige Anordnung
ECLI:
ECLI:DE:BVerfG:2010:rk20100906.1bvr229710
Normen:
Art 14 Abs 1 GG
Art 14 Abs 3 GG
§ 32 Abs 1 BVerfGG
§ 38 Abs 3 S 2 EnteigG BW
§ 6 Abs 1 EthylRohrErG BW 2009
Spruchkörper:
1. Senat 1. Kammer

Verfahrensgang

vorgehend Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, 23. August 2010, Az: 1 S 975/10, Beschlussnachgehend BVerfG, 25. Januar 2017, Az: 1 BvR 2297/10, Nichtannahmebeschluss

Gründe

1
Der zulässige Antrag hat keinen Erfolg.

2
1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig
regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund
zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.

3
Auch in einem Verfahren über eine Verfassungsbeschwerde kann eine einstweilige Anordnung erlassen werden. Dabei haben die
Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu
bleiben. Etwas anderes gilt nur, wenn sich die Verfassungsbeschwerde von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet
erweist. Ist das nicht der Fall muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige
Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn
die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE
87, 334 ; 89, 109 ; stRspr; jüngst BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 16. August 2010 – 2 BvR
1762/10 -, www.bverfg.de, Rn. 1).

4
Für die Beurteilung der Erforderlichkeit einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG ist ein strenger Maßstab anzulegen
(vgl. BVerfGE 93, 181 ). Dies gilt nicht nur im Hinblick darauf, dass einstweilige Anordnungen des Bundesverfassungsgerichts
weittragende Folgen haben können (vgl. BVerfGE 3, 41 ; stRspr), sondern auch im Hinblick auf die besondere Funktion und
Organisation des Bundesverfassungsgerichts. Das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 32 BVerfGG ist – anders
als der von Art. 19 Abs. 4 GG geprägte vorläufige Rechtsschutz im fachgerichtlichen Verfahren – nicht darauf angelegt, möglichst
lückenlosen vorläufigen Rechtsschutz zu bieten (vgl. BVerfGE 94, 166 ). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung durch
das Bundesverfassungsgericht kommt danach nur unter wesentlich engeren Voraussetzungen in Betracht als die Gewährung vorläufigen
Rechtsschutzes durch die Fachgerichte. Insbesondere sind, wenn eine einstweilige Anordnung zur Abwendung eines geltend gemachten
schweren Nachteils erstrebt wird, erheblich strengere Anforderungen an die Schwere des Nachteils zu stellen (vgl. BVerfG,
Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. August 2010 – 2 BvQ 56/10 -, www.bverfg.de, Rn. 2).

5
2. Die Verfassungsbeschwerde erweist sich, jedenfalls soweit mit ihr der Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg
vom 23. August 2010 angegriffen wird, nicht als von vornherein unzulässig oder unbegründet. Die damit aufgeworfenen Verfassungsrechtsfragen
werden im Hauptsacheverfahren zu klären sein.

6
3. Die somit erforderliche Folgenabwägung führt zur Ablehnung des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Der Beschwerdeführer
hat nicht dargelegt, dass nach dem anzulegenden strengen Maßstab der Erlass einer einstweiligen Anordnung dringend geboten
wäre.

7
Erginge die einstweilige Anordnung nicht, hätte aber die Verfassungsbeschwerde Erfolg, so könnte der frühere Zustand der Grundstücke
des Beschwerdeführers nicht vollumfänglich wiederhergestellt werden. Der Beschwerdeführer hat nachvollziehbar die von einer
Verlegung der Pipeline ausgehenden, teilweise dauerhaften Beeinträchtigungen für die landwirtschaftliche Nutzbarkeit seiner
Grundstücke geschildert. Von derartigen Beeinträchtigungen gehen im Übrigen auch das Regierungspräsidium Stuttgart in seinen
Besitzeinweisungsbeschlüssen vom 10. Februar 2010 und der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg im Beschluss vom 23. August
2010 aus.

8
Ein besonders schwerer Nachteil läge hierin für den Beschwerdeführer allerdings nicht. Denn der Beschwerdeführer führt unbeschadet
seines von Art. 14 Abs. 1 GG schon allgemein gewährleisteten Bewahrungsinteresses an seinem Eigentum hinsichtlich der konkreten
Folgen keine über wirtschaftliche Interessen hinausgehenden Belange an der jedenfalls vorläufigen Beibehaltung des derzeitigen
Zustands der Grundstücke an. Wegen der somit in der Sache ausschließlich geltend gemachten Vermögensnachteile stünde ihm im
Falle der Aufhebung des Enteignungsbeschlusses nach der hier grundsätzlich maßgeblichen einfachrechtlichen Erkenntnis des
Verwaltungsgerichtshofs in dem angegriffenen Beschluss gemäß § 6 Abs. 1 des Gesetzes zur Errichtung und zum Betrieb einer
Ethylen-Rohrleitungsanlage in Baden-Württemberg vom 1. Dezember 2009 in Verbindung mit § 38 Abs. 3 Satz 2 des baden-württembergischen
Landesenteignungsgesetzes vom 6. April 1982 ein Anspruch auf angemessene Entschädigung für alle durch die vorzeitige Besitzeinweisung
entstandenen besonderen Nachteile zu. Dass der Beschwerdeführer auch nur vorübergehend, etwa bis zu einer Klärung der Höhe
der von ihm zu beanspruchenden Entschädigung, in existenzieller Weise betroffen sein könnte, ist weder vorgetragen noch ersichtlich.

9
Wenn die einstweilige Anordnung erginge und der Verfassungsbeschwerde später der Erfolg zu versagen wäre, würde die Ethylen-Rohrleitungsanlage
erst mit erheblicher Verzögerung in Betrieb genommen werden können. Das Vorhaben wird nicht nur von Seiten der Unternehmen,
die die Enteignungsbegünstigte gegründet haben, mit Nachdruck verfolgt. Vielmehr handelt es sich auch um ein vom baden-württembergischen
Landtag nahezu einstimmig befürwortetes Vorhaben (vgl. Plenarprotokoll 14/78, S. 5635), der seiner Verwirklichung ein besonderes
Gemeinwohlinteresse zubilligt.

10
Auch die Erwägungen, auf die der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg zur Begründung seiner Auffassung abstellt, die sofortige
Ausführung des Vorhabens sei aus Gründen des Wohls der Allgemeinheit dringend geboten (a.a.O., juris Rn. 70 ff.), sind nicht
offensichtlich fehlsam oder durch das Vorbringen des Beschwerdeführers überzeugend in Zweifel gezogen. Dies gilt insbesondere
auch für den Umstand, dass sich die Verwirklichung des Gesamtvorhabens in einem weit fortgeschrittenen Stadium befindet und
ein Abwarten bis zur endgültigen Klärung der Verfassungsmäßigkeit der Enteignungsbeschlüsse erhebliche unmittelbare und mittelbare
nachteilige Folgen für die Enteignungsbegünstigten aber auch zahlreiche Dritte nach sich ziehen würde. Diese Erwägungen sind
auch im Rahmen der vorliegend anzustellenden Folgenabwägung zugunsten des Vollzugs der vorzeitigen Besitzeinweisung tragfähig
und überwiegen das Interesse des Beschwerdeführers an der vorläufigen Verschonung seines Eigentums, zumal die tatsächlichen
Folgen des Zugriffs auf die ausschließlich wirtschaftlich genutzten Grundstücksflächen weitgehend beseitigt und im Übrigen
wirtschaftlich ausgeglichen werden können.

11
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.


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