IT- und Medienrecht

Krankenversicherungsrecht: Rechtmäßigkeit einer aufsichtsrechtlichen Verpflichtung zur Ausbuchung von Schätzverpflichtungen

Aktenzeichen  L 5 KR 630/17 KL

Datum:
15.1.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 8086
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB IV § 77, § 89, § 90
SGB V § 155

 

Leitsatz

Eine kassenindividuelle Einschätzung des Haftungsrisikos nach § 155 Abs. 4 SGB V widerspricht der Transparenzfunktion der Rechnungslegung.
1. Die aufsichtsrechtliche Beratung ist zwingender erster Schritt eines rechtsaufsichtlichen Verfahrens und Ausdruck des Bemühens um partnerschaftliche Kooperation zwischen Selbstverwaltung und Aufsicht, also Teil einer geistigen Auseinandersetzung zwischen ernsthaft im Interesse der versicherten Bevölkerung um optimale Lösungen bemühten Partnern. (redaktioneller Leitsatz)
2. Potentielle Haftungsrisiken für die Schließung anderer für Betriebsfremde geöffnete Betriebskrankenkassen können grundsätzlich nicht durch Rückstellungen, die auf individuellen Schätzungen beruhen, dargestellt werden. Das gesetzliche Haftungsrisiko darf erst nach Erhalt eines Umlagebescheids des Spitzenverbands Bund bilanziell geltend gemacht werden. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage gegen den Bescheid vom 25.09.2017 wird abgewiesen.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Die Revision wird zugelassen.

Gründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet.
A.
Das Bayer. LSG ist für die Klage funktionell, sachlich und örtlich im ersten Rechtszug zuständig (§ 29 Abs. 2 Nr. 2 SGG). Eines Vorverfahrens bedurfte es nicht (§ 78 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGG).
Es kann offenbleiben, ob es sich um eine Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 S. 1 SGG) oder eine Aufsichtsklage (§ 54 Abs. 3 SGG) handelt. Beide Klagearten sind statthaft. Die Klägerin wird durch den Bescheid der Beklagten vom 25.07.2017 in ihrer Rechtsposition als Selbstverwaltungskörperschaft beschwert.
B.
Die Klage ist nicht begründet.
Der angegriffene Bescheid der Beklagten vom 25.09.2017 ist formell (dazu I.) und materiell (dazu II.) rechtmäßig. Zutreffend hat die Beklagte die Klägerin nach erfolgloser Beratung verpflichtet, die durch ihr Buchungsverhalten entstandene Rechtsverletzung durch eine vollumfängliche Ausbuchung zu beheben.
I. Der angegriffene Bescheid ist formell rechtmäßig ergangen.
1. Die Beklagte ist zuständige Aufsichtsbehörde für die Klägerin (§ 90 Abs. 1 S. 1 SGB IV), denn die Klägerin ist ein bundesunmittelbarer Versicherungsträger.
2. Die Anforderungen der Rechtsprechung an die aufsichtsrechtliche Beratung hat die Beklagte erfüllt.
Die nach § 89 Abs. 1 S. 1 SGB IV erforderliche Beratung als erster zwingender erster Schritt eines rechtsaufsichtlichen Verfahrens ist Ausdruck des Bemühens um partnerschaftliche Kooperation zwischen Selbstverwaltung und Aufsicht, also Teil einer geistigen Auseinandersetzung zwischen ernsthaft im Interesse der versicherten Bevölkerung um optimale Lösungen bemühten Partnern. Dabei ist eine auf die speziellen Verhältnisse des betroffenen Versicherungsträgers abgestellte Individualisierung der Beratung unumgänglich. Das Beratungsverfahren erschöpft sich demnach nicht in der Darlegung der Rechtsauffassung der Aufsichtsbehörde. Dem Versicherungsträger muss die Möglichkeit eröffnet werden, von sich aus die Rechtslage zu prüfen und der Aufsichtsbehörde seinen gegebenenfalls abweichenden Rechtsstandpunkt darzulegen mit dem Ziel, dass sie sich diesen ihrerseits zu Eigen macht und von weiteren Aufsichtsmaßnahmen Abstand nimmt. Insgesamt bezweckt die Beratung als Ausgangspunkt eines möglichen Dialogs zwischen Versicherungsträger und Aufsichtsbehörde gerade die Vermeidung aufsichtsbehördlicher Anordnungen (BSGE 67, 85, 87 = SozR 3-2400 § 89 Nr. 1 S. 3). Von einem derartigen Dialog kann aber nur gesprochen werden, wenn die Beteiligten auf das gegenseitige Vorbringen substantiiert eingehen (BSG, Urt. v. 11.12.2003 – B 10 A 1/02 R).
Ein Verstoß der Beklagten gegen das Gebot des partnerschaftlichen Zusammenwirkens im Rahmen der aufsichtlichen Beratung ist nicht feststellbar. In Auswertung der Verwaltungsakten beider Beteiligter ist festzustellen, dass die Beteiligten länger als ein Jahr vor Erlass des Aufsichtsbescheids ihre Rechtsansichten zum Buchungsverhalten der Klägerin ausgetauscht haben. Die erste Mitteilung zu den streitigen Buchungen datiert vom 08.06.2016; sie war Anlass und Gegenstand der Beteiligtenbesprechung vom 18.07.2016, Daran schloss sich der Prüfbericht vom 27.10.2016 an sowie die Aufforderung vom 07.12.2016. Auf diesen erfolgte ein umfangreicher Austausch auch per Telefon sowie der Beratungstermin vom 18.05.2017. Anhaltspunkte dafür, dass die beklagte dabei stets die Argumentation der Klägerin unbeachtet gelassen habe, sind nicht erkennbar. Erst am 25.09.2017 ist auf der Basis des geschilderten Austauschs nach eingehender Anhörung der strittige Aufsichtsbescheid ergangen.
Die von der Klägerin geforderte Konkretisierung, wie das gesetzliche Haftungsrisiko einer BKK in deren Jahresendergebnis dokumentiert werden kann, durfte die Beklagte im Rahmen der Beratung aus materiell-rechtlichen Gründen nicht benennen. Die Beklagte hat der Klägerin ihre Rechtsansicht mitgeteilt, dass potentielle Haftungsrisiken für die Schließung anderer BKK grundsätzlich nicht durch Verpflichtungsbuchungen, die auf individuellen Schätzungen beruhen, dargestellt werden können. Das gesetzliche Haftungsrisiko dürfe erst nach Erhalt eines Umlagebescheids des Spitzenverbands Bund bilanziell geltend gemacht werden. Aufgrund der Rechtsauffassung der Beklagten, dass eine individuelle Risikobewertung einzelner Kassen für potentielle künftige Haftung nach dem Vorsichtsprinzip grundsätzlich nicht möglich ist, war sie in der Beratung folglich auch nicht verpflichtet, der Klägerin Kriterien zu Bewertung dieses Risikos an die Hand zu geben. Die Rechtmäßigkeit der Rechtsauffassung der Beklagten im Sinne einer grundsätzlichen Ablehnung von Schätzverpflichtungen für Haftungsrisiken nach § 155 Abs. 4 S. 4 SGB V ist eine materiell-rechtliche Frage und führt nicht zu einem Verstoß gegen § 89 Abs. 1 S.1 SGB V.
II. Der Bescheid der Beklagten ist auch materiell rechtmäßig.
Die Beklagte hat die Klägerin zutreffend aufsichtsrechtlich verpflichtet, die streitgegenständlichen Verpflichtungsbuchungen aus dem Jahresendergebnis 2016 auszubuchen. Die Aufsichtsbehörde darf eine Krankenkasse anweisen, Verpflichtungsbuchungen auszubuchen, die tatsächlich vorhandenes positives Vermögen nicht als solches ausweisen, wenn sich das Buchungsverhalten auf keine Rechtsgrundlage stützen kann (dazu 1.). Die Beklagte hat die Klägerin ermessensfehlerfrei verpflichtet, die begangene Rechtsverletzung zu beheben (dazu 2.).
1. Die Klägerin verwaltet als GKV Beitragsmittel von Arbeitnehmern und Arbeitgebern sowie Steuermittel. Sie ist nach § 77 SGB IV verpflichtet, darüber für jedes Kalenderjahr Rechenschaft abzulegen, indem sie auf Basis der Rechnungslegung eine Jahresrechnung aufstellt. Adressaten sind grundsätzlich die Beitragszahler, repräsentiert durch ihre Vertreter in den aufsichtführenden Selbstverwaltungsorganen, hier die Beklagte.
Durch das Gesetz zur Weiterentwicklung der Organisationsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung (Inkrafttreten 01.01.2010, BGBl. I 2008, 2426) ist die finanzielle Gleichbehandlung aller gesetzlichen Krankenkassen hergestellt worden, indem seither alle Krankenkassen der Insolvenzordnung unterliegen. Im Gegenzug ist die Transparenz in Bezug auf die finanzielle Situation der Krankenkassen erhöht worden, um wirtschaftliche Schwierigkeiten bei einer Krankenkasse frühzeitig erkennen und Gegenmaßnahmen einleiten zu können. Dazu sind für die Jahresrechnung der Krankenkassen in § 77 Abs. 1a SGB IV besondere Regelungen geschaffen worden (Theuerkauf in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IV, 3. Aufl. 2016, § 77 SGB IV, Rn. 12). Die Rechnungslegung einer gesetzlichen Krankenkasse erfolgt grundsätzlich nach den sozialrechtlichen Vorgaben. Zudem kann über § 77 Abs. 1a SGB IV auf handelsrechtlichen Bewertungen zurückgegriffen werden, wie sie in § 252 HGB niedergelegt sind. Diese sollen nach der Begründung des Gesetzesentwurfs – auch wenn sie dem erwerbswirtschaftlichen Sektor entstammen und damit den spezifischen Rechnungslegungsbedürfnissen privater Unternehmen in besonderem Maße Rechnung tragen – ein geeignetes Fundament für eine qualitätsorientierte Buchführung und Rechnungslegung der Krankenkassen darstellen (BT-Drs. 16/9559, S. 25).
Weder den Buchführungsvorschriften für die gesetzlichen Krankenversicherungen (dazu a.) noch den allgemeinen Grundsätzen der Rechnungslegung (dazu b.) sind Rechtsgrundlagen für die von der Klägerin vorgenommenen Schätzverpflichtungen zu entnehmen. Individuelle Schätzverpflichtungen einzelner Krankenkassen verstoßen vielmehr gegen das Transparenzgebot der Rechnungslegung und stellen Rechtsverletzungen dar (dazu c.).
a. Die Buchführungsvorschriften für Sozialversicherungsträger sind in §§ 22 ff. SRVwW geregelt, der detaillierte Kontenrahmen der GKV findet sich in der Anlage 1 zu § 25 Abs. 2 Nr. 1 SRVwV.
Unter Konto 12 sind kurzfristige Verpflichtungen zu buchen. Darunter fallen grundsätzlich auch Schätzverpflichtungen, die nach Nr. 2 der Erläuterungen definiert sind als Verpflichtungen „..die dem Grunde und/oder der Höhe nach ungewiss, aber ausreichend bestimmbar sind, und deren wirtschaftliche Begründung dem abzuschließenden Geschäftsjahr zuzuordnen sind…“ Die Voraussetzungen für die Buchung der Schätzverpflichtungen der Klägerin unter dem Konto 12 liegen nicht vor.
aa) Unter dem im Jahr 2012 eingeführten Konto 1298 sind Verpflichtungen aus finanziellen Hilfen und Verpflichtungen aus Umlagen für Haftungsfälle zu buchen. In den Erläuterungen heißt es „Hier bucht die Krankenkasse auch Verpflichtungen aus Umlagen für Haftungsfälle für geschlossene Kassen, die der Spitzenverband Bund der Krankenkassen durch Umlagebescheid im Rahmen der Haftungsverbünde angefordert hat.“
Umlagebescheide durch den Spitzenverband Bund sind bislang nur aufgrund der Schließung von zwei Kassen (C. BKK, zum 30.06.2011, BKK H. zum 31.12.2011) erlassen worden. Hier liegen unstreitig keine Umlagebescheide des Spitzenverbands vor. Die Klägerin hat ihre Schätzverpflichtungen auch nicht unter Konto 1298 gebucht.
bb) Unter Konto 1299 dürfen als Auffangtatbestand „Übrige Verpflichtungen“ gebucht werden. Dazu heißt es in der Erläuterung, „z.B. fällige, aber noch nicht bezahlte Vermögensaufwendungen“.
Die Auslegung nach dem Wortlaut des Kontos erlaubt eine Buchung von geschätzten künftigen Verpflichtungen bereits mangels Fälligkeit nicht.
Systematisch sind können „Vorstadien“ einer Haftung nach Konto 1298 nicht unter Konto 1299 fallen. Die Beschränkung der Verpflichtungsbuchung auf bereits erlassene Umlagebescheide des Spitzenverbands steht im Einklang mit Dauer und Komplexität eines Abwicklungsverfahrens bei Schließung einer Krankenkasse. Die Gläubiger einer geschlossenen Kasse können die Erfüllung der nach § 155 Abs. 4 Sätze 3 und 4 SGB V bestehenden Verpflichtungen nicht von den einzelnen Betriebskrankenkassen fordern, sondern nur vom Spitzenverband Bund der Krankenkassen verlangen (§ 155 Abs. 4 S.5 SGB V). Diesem obliegt die organisatorische Abwicklung der Haftung (Ausschussbericht zum GKV-WSG, BT-Drucks. 16/4247 S. 50); er hat die Verteilung der Haftungsbeträge auf die einzelnen Betriebskrankenkassen vorzunehmen und die zur Tilgung erforderlichen Beträge von den Betriebskrankenkassen anzufordern (§ 155 Abs. 4 S. 5 SGB V). Wenn die Voraussetzungen des speziellen Kontos 1298 nicht erfüllt sind, können keine Schätzverpflichtungen für Vorstadien unter Konto 1299 gebucht werden.
Dies gilt, obgleich Schätzverpflichtungen unter dem Konto 12 grundsätzlich möglich sind, aufgrund der Spezialregelungen für Haftungsfälle nach § 155 Abs. 4 S. 4 SGB V. Zudem ist festzustellen, dass die erforderliche ausreichende Bestimmbarkeit der Verpflichtung und die Zuordnung zum abgeschlossenen Geschäftsjahr vorliegend auf keiner konkreten Tatsachengrundlage basiert.
b. Die allgemeinen Rechnungslegungsgrundsätze stellen ebenfalls keine Rechtsgrundlage für die Bildung von Rückstellungen für potentielle Haftungsfälle da.
aa) Das Vorsichtsprinzip (§ 77 Abs. 1a S. 3 Nr. 4 SGB V) ist keine Rechtsgrundlage für Verpflichtungsbuchungen außerhalb des Kontenrahmens.
Das Prinzip der vorsichtigen Bewertung gilt für den Ansatz von Vermögensgegenständen und Schuldpositionen sowie für die Bewertung. Eine besondere Bedeutung erlangt es, wenn sich z.B. durch unvollständige Informationen oder Ungewissheiten Bewertungsspielräume ergeben. Das Vorsichtsprinzip soll eine zu optimistische Darstellung der Vermögenssituation einer Krankenkasse verhindern, es rechtfertigt allerdings nicht eine Unterbewertung oder die faktische Bildung stiller Reserven. Es dient vor allem dem Gläubigerschutz, das bedeutet im Bereich der Krankenkassen, es dient dem Schutz der Haftungsverbünde, d.h. den Krankenkassen, die im Schließungs- oder Insolvenzfall zur Haftung herangezogen werden (Theuerkauf in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IV, 3. Aufl. 2016, § 77 SGB IV, Rn. 13).
aaa) Die Schätzverpflichtungen der Klägerin würden zu einem Aufbau stiller Reserven führen, der dem System der GKV fremd ist.
Die gegenwärtige Rechtslage erkennt als Mittel der Krankenkasse (§ 259 SGB V) die Betriebsmittel, die Rücklagen und das Verwaltungsvermögen an. Rücklagen (§§ 82 SGB IV, 261, 262 SGB V) dienen der Sicherstellung der Leistungsfähigkeit einer Krankenkasse im Sinne einer Schwankungsreserve. Daher ist diese in ihrer Höhe gesetzlich begrenzt (§ 261 Abs. 2 SGB V). Die gesetzlichen Vorschriften sind dahingehend abschließend, ergänzt nur durch die Rückstellungen für Altersvorsorgezusagen nach (§§ 171e SGB V, 12 SVRV). Die Möglichkeit des Aufbaus stiller Reserven sieht das Gesetz für eine gesetzliche Krankenversicherung gerade nicht vor. Aufgabe der GKV ist nämlich allein die nachhaltige Sicherstellung der Gesundheitsversorgung, auch in Zeiten besonderer Bedarfe, wie etwa Grippe-Epidemien.
In diesem Sinne hat auch der Gesetzgeber im Jahr 2018 – nach Erlass des streitigen Bescheids – weiteren Handlungsbedarf gesehen aufgrund der Anhäufung von Finanzreserven einiger Krankenkassen. Finanzreserven, die zur Sicherstellung der Gesundheitsversorgung nicht benötigt werden, werden mit dem GKV-VEG (Gesetz zur Beitragsentlastung der Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung v. 11.12.2018, BGBl. I 2018, 2387 ff.) durch eine weitergehende Obergrenze versehen und eine zwangsweise Abschmelzung der Finanzreserven ab 2020 eingeführt (BT-Drs. 19/4454). §§ 260 ff. SGB V in der ab dem 12.12.2018 geltenden Fassung verdeutlichen die vom Gesetzgeber gewollte Balance zwischen der Rücklagenbildung zur Sicherstellung der Leistungsfähigkeit einerseits und dem unkontrollierten Aufbau von Finanzreserven – ohne Transparenz bezüglich des Beitragssenkungspotenzials – andererseits. Diesem System zuwiderlaufen würde eine der Höhe nach nicht limitierte Möglichkeit der Darstellung kassenindividueller Risikoeinschätzungen als vermögensmindernde Verpflichtungen.
bbb) Der Gläubigerschutz, der durch das Vorsichtsprinzip verbessert werden soll, ist durch das zentral gesteuerte Frühwarnsystem des Spitzenverbands Bund, die gesetzlichen Regelungen der §§ 265 ff. SGB V und der einheitlichen Abwicklung durch den Spitzenverband besonders ausgestaltet und nach dem Willen des Gesetzgebers ausreichend gewährleistet. Ein zusätzlicher eigenverantwortlicher Gläubigerschutz durch kassenindividuelle Verpflichtungsbuchungen hingegen ist nicht vorgesehen, es bedarf es seiner auch nicht. Eine uneinheitliche (Unter)-Bewertung der eigenen Vermögenslage durch derzeit 87 BKK könnte gerade gegenteilige Effekte haben und zu einer dem tatsächlichen Risiko nicht entsprechenden Abwärtsspirale der Rechnungslegung führen. Dies belegen die Auswirkungen der klägerischen Buchung auf das Ranking der Krankenkassen in der dfg-Studie.
bb) Auch § 252 HGB bildet keine Rechtsgrundlage für kassenindividuelle Schätzverpflichtungen.
Die allgemeinen Bewertungsgrundsätze des Handelsrechts sehen in § 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB ebenfalls das Vorsichtsprinzip vor. Dabei sind „Verluste, die bis zum Abschlussstichtag entstanden sind, zu berücksichtigen, selbst wenn diese erst zwischen dem Abschlussstichtag und dem Tag der Aufstellung des Jahresabschlusses bekanntgeworden sind“ vorsichtig zu bewerten.
Allgemeine Grundsätze sind nachrangig zu den spezialgesetzlichen Vorgaben, hier zu der Verordnung über die Buchführung der Sozialversicherungsträge mit ihren Anhängen. Dies gilt insbesondere für die Rechnungslegung der GKV aufgrund deren Besonderheiten und dem Ziel der Transparenz und Vergleichbarkeit der Rechnungslegung (vgl. ausführlich BT-Drs. 17/2170, S. 40). Die kaufmännische Freiheit der individuellen Risikobewertung darf daher keine Anwendung finden, wenn das System für bestimmte Risiken – wie vorliegend die Haftung gemäß § 155 Abs. 4 S. 4 SGB V – ein über den Spitzenverband Bund zentral gesteuertes Vorgehen, vom Frühwarnsystem über finanzielle Hilfen bis zur Umlage – konkret vorhält. Im Übrigen können Einschätzungen von Risiken, die sich tatsächlich über Jahre hinweg nicht realisiert haben, nicht realistisch als bereits entstandene Verluste bewertet werden, was aber § 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB erfordert.
c) Die Möglichkeit eines Buchungsverhaltens basierend auf einer kassenindividuellen Risikoschätzung widerspricht der Transparenzfunktion der Rechnungslegung und damit der vom Gesetzgeber geforderten Vergleichbarkeit der Finanzsituation gesetzlicher Krankenkassen.
Das Jahresendergebnis soll ein realistisches Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage einer gesetzlichen Krankenkasse abgeben. Die Transparenz im Haushaltswesen soll eine bessere Vergleichbarkeit der Rechnungsergebnisse einzelner Kassen ermöglichen (BR-Drs 310/10 S. 1/2). Wenn es jeder einzelnen BKK möglich wäre, die Haftungsrisiken bei Schließung anderer BKK eigenverantwortlich einzuschätzen und entsprechende Verpflichtungsbuchungen vorzunehmen, wäre die Darstellungsfunktion des Reinvermögens empfindlich gestört.
Der Gesetzgeber hat nach Schließung einer Kasse durch die Aufsichtsbehörde (§ 153 SGB V) die Abwicklung dem Spitzenverband übertragen. Diesem obliegt auch die Überwachung des von der Klägerin angesprochenen Frühwarnsystems hinsichtlich der Leistungsfähigkeit der Kassen. Eine individuelle Einschätzung einzelner BKK und entsprechende Dokumentation der identifizierten Risiken in der Rechnungslegung führte hingegegen zwangsläufig zu einer Uneinheitlichkeit der Rechnungslegung. Wenn die Notwendigkeit entstehen würde, Rückstellungen für potentielle Haftungsfälle bereits Jahre vor einer Schließung wegen der konkretisierten Gefahr mangelnder Leistungsfähigkeit in der Zukunft vorzunehmen, müssten diese auf einer einheitlichen Vorgabe durch den Spitzenverband basieren. Der Kontenrahmen, der gegenwärtig Verpflichtungen erst ab Bescheid eines Umlagebescheids zulässt, wäre entsprechend zu erweitern.
Da im Hinblick auf die Einheitlichkeit der Rechnungslegung der Spitzenverband für Risikoeinschätzung und Haftungsabwicklung zuständig ist, ist es weder Aufgabe der Beklagten noch einer gerichtlichen Entscheidung, festzustellen, ob die Klägerin Risiken, die tatsächlich nicht eingetreten sind, aus ex-ante-Sicht zutreffend bewertet hat. Auch sind keine Bewertungsparameter zu diskutieren, die das Risiko einer künftigen Schließung bzw. konkrete Anhaltspunkte der Gefährdung einer Krankenkasse – über die veröffentlichten Vermögensangaben hinaus – zutreffend erfassen würden. Der gesetzlich vorgesehene Entscheidungsspielraum, der selbstverständlich auch den Krankenkassen in ihrem Buchungsverhalten zusteht, besteht im Rahmen des Haftungsrisikos nach § 155 Abs. 4 S. 4 SGB V nicht.
2. Die Beklagte hat das ihr durch den Gesetzgeber zugeteilte Ermessen (§ 89 Abs. 1 S. 2 SGB IV) ordnungsgemäß ausgeübt.
Wenn sich das Handeln des Versicherungsträgers noch im Bereich des rechtlich Vertretbaren bewegt, sind förmliche Aufsichtsmaßnahmen, die dieses beanstanden bei reiner Rechtsaufsicht rechtswidrig (BSG, Urt. v. 20.03.2018 – B 1 A 1/17 R – Rn. 16 juris). Vorliegend hat die Beklagte jedoch einen Verstoß gegen rechtliche Vorschriften festgestellt. Unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips hat sie weiter festgestellt, dass der Rechtsverstoß nicht unerheblich ist, da Rückstellungen in Höhe von ca. 50% einer Monatsausgabe und ca. 50% des Nettoreinvermögens erfolgten, die nicht unmaßgebliche Auswirkungen auf die Darstellung der Finanzlage der Klägerin haben. Zudem ist berücksichtigt worden, dass die Klägerin durch Erhöhung des Rücklagesolls gemäß § 261 Abs. 2 SGB V eine gesetzlich vorgesehene alternative Möglichkeit zur Abdeckung von Finanzrisiken in gleichem Umfang gehabt hätte. Dabei spielt keine Rolle, dass die Klägerin gezielt gerade nicht die Abbildung der Risiken über §§ 260 ff. SGB V aufgrund der oben dargestellten rechtlichen Begrenzungen und den Konsequenzen gewählt hat. Nach monatelanger zunächst informeller, dann formeller Beratung ohne Einigung ist kein milderes Mittel als der Erlass eines Verpflichtungsbescheids mit dem Tenor einer vollumfänglichen Ausbuchung ersichtlich.
Im Ergebnis ist die Klage ist mangels Rechtswidrigkeit des Verpflichtungsbescheids vollumfänglich abzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 197a SGG iVm § 154 Abs. 1 VwGO.
Hinsichtlich des Streitwerts wird auf den Beschluss vom 15.01.2019 verwiesen.
Die Revision ist wegen der grundsätzlichen Bedeutung (§ 160 Abs. 2 SGG) zugelassen.


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