IT- und Medienrecht

Voraussetzungen für Absehen vom bußgeldrechtlichen Fahrverbot bei vermeidbarem Verbotsirrtum

Aktenzeichen  3 Ss OWi 50/17

Datum:
27.1.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 102295
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
Bamberg
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
OWiG § 11
BKatV § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 1
StVG § 24 Abs. 1, § 25 Abs. 1 Nr. 1
StVO § 41 Abs. 1, § 49 Abs. 3 Nr. 4

 

Leitsatz

1. Nimmt ein Kfz.-Führer ein Verkehrszeichen über die zulässige Höchstgeschwindigkeit (Zeichen 274) optisch war, ist er aber wegen eines darunter befindlichen Überholverbotszeichens (Zeichen 277) und hierzu angebrachter Zusatzschilder der Meinung, dies beziehe sich nicht auf ihn, unterliegt er keinem Tatbestandsirrtum (§ 11 I OWiG), sondern einem Verbotsirrtum i. S.v. § 11 II OWiG (u. a. Anschluss an OLG Bamberg, Beschl. v. 01.12.2015 – 3 Ss OWi 834/15 = StraFo 2016, 116 = OLGSt OWiG § 11 Nr. 5 m. w. N.). (amtlicher Leitsatz)
2. Ein (vermeidbarer) Verbotsirrtum führt nicht zwangsläufig zum Wegfall des an sich verwirkten Regelfahrverbots. Vielmehr kommt dies nur in Ausnahmefällen in Betracht, wobei auf den von der höchstrichterlichen Rspr. entwickelten Rechtsgedanken des Augenblicksversagens zurückgegriffen werden kann. (amtlicher Leitsatz)

Gründe

Zum Sachverhalt:
Das AG hat gegen den Betr. im Beschlussverfahren (§ 72 OWiG) wegen einer als Führer eines Pkw auf einer BAB außerorts begangenen vorsätzlichen Geschwindigkeitsüberschreitung um 44 km/h (§§ 41 I i. V. m. Anl. 2 [Zeichen 274], 49 III Nr. 4 StVO) mit Beschluss vom 24.11.2016 eine Geldbuße von 500 € verhängt. Nach den Feststellungen befuhr der seine Fahrereigenschaft einräumende Betr. am 27.07.2016 um 12.52 Uhr die BAB A 9 in südliche Richtung mit einer Geschwindigkeit von mindestens 104 km/h, obwohl an der Messstelle mit Zeichen 274 die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 60 km/h begrenzt war. Zur Beschilderung des fraglichen Streckenabschnitts hat das AG festgestellt: „Die Beschilderung war vor der Messstelle doppelseitig aufgestellt. Die jeweils vorhandenen Verkehrsschilder sind vertikal angeordnet. An der oberen Stelle befindet sich das Zeichen 274 mit der jeweiligen Limitierung der erlaubten Höchstgeschwindigkeit. Darunter befindet sich das Verkehrszeichen ‚Überholverbot‘ (Zeichen 277), darunter in einem rechteckigen Rahmen die Bezeichnung ‚2,8 t‘ und darunter in einem rechteckigen Rahmen die Symbole für Omnibusse und Pkw mit Anhänger. Die Zeichen 274 und 277 sind optisch durch einen waagrechten durchgehenden Strich voneinander getrennt. Die Geschwindigkeitsreglementierung begann zunächst mit einer Reduzierung der erlaubten Höchstgeschwindigkeit auf 100 km/h, anschließend auf 80 km/h, dann auf 60 km/h. Es fand an dem dortigen Rastplatz nämlich eine Lkw-Kontrolle statt, wegen der eigens die Geschwindigkeitslimitierung eingerichtet worden war.“ Von der Anordnung des im Bußgeldbescheid verhängten einmonatigen Fahrverbots hat das AG mit der Begründung abgesehen, dass der Betr. einem (vermeidbaren) Verbotsirrtum unterlag, weil er „der Meinung war, die Geschwindigkeitsbeschränkungen würden nicht für ihn, sondern nur für Fahrzeuge über 2,8 t, für Pkws mit Anhänger und für Omnibusse gelten.“ Die gegen den Beschluss gerichtete, auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte und mit der Sachrüge begründete Rechtsbeschwerde der StA erwies sich als erfolgreich.
Aus den Gründen:
1. In Anbetracht der festgestellten Geschwindigkeitsüberschreitung von 44 km/h liegen die Voraussetzungen für die Anordnung eines Regelfahrverbots nach §§ 24, 25 I 1 StVG, § 4 I 1 Nr. 1 BKatV i. V. m. Nr. 11.3.7 Tab. 1c BKat wegen grober Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers vor. Dies hat das AG auch nicht verkannt. Es hat indes von der Anordnung eines Fahrverbots bei gleichzeitiger Erhöhung des als Regelsatz vorgesehenen Bußgeldes auf 500 € wegen eines vermeidbaren Verbotsirrtums abgesehen. Dies hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.
2. Zu Recht ist das AG allerdings nicht von einem den Vorsatz ausschließenden Tatbestandsirrtum gem. § 11 I 1 OWiG ausgegangen, sondern hat in Übereinstimmung mit der Rspr. des Senats aufgrund der irrtümlichen Einschätzung der Bedeutung des Zusatzschildes einen (vermeidbaren) Verbotsirrtum i. S. d. § 11 II OWiG angenommen (OLG Bamberg, Beschl. v. 01.12.2015 – 3 Ss OWi 834/15 = StraFo 2016, 116 = OLGSt OWiG § 11 Nr. 5 m. w. N.; ebenso: BayObLGSt 1999, 172 = NStZ-RR 2000, 119 = DAR 2000, 172 = VRS 98, 292 = NZV 2000, 300 = VM 2000, Nr. 67; BayObLGSt 2003, 61 = NJW 2003, 193 = ZfS 2003, 430 = OLGSt OWiG § 11 Nr. 3 = DAR 2003, 426 = VRS 105 [2003], 309 = VM 2003 Nr. 75; OLG Bamberg NJW 2007, 3081 = VD 2007, 294 = NZV 2007, 633 = OLGSt StVG § 25 Nr. 37, jeweils m. w. N.; Hentschel/König/Dauer Straßenverkehrsrecht 43. Aufl. § 24 StVG Rn. 34, § 41 StVO Rn. 249 a.E.; Göhler/Gürtler OWiG 16. Aufl. § 11 Rn. 31; a.A. KK/Rengier OWiG 4. Aufl. § 11 Rn. 111; König DAR 2016, 362; Sternberg-Lieben StraFo 2016, 118, die einen Tatbestandsirrtum annehmen wollen). Denn der Betr. nahm nach den tatrichterlichen Feststellungen die Beschilderung als solche optisch wahr, irrte sich also nicht über die tatsächlichen Umstände des Verbots, sondern unterlag (lediglich) einem Wertungsirrtum hinsichtlich der Bedeutung der angebrachten Zusatzschilder. Ihm fehlte damit die Einsicht, etwas Unerlaubtes zu tun.
3. Allerdings rechtfertigt dies nicht das Absehen vom Regelfahrverbot.
a) Zwar kann ein (vermeidbarer) Verbotsirrtum Anlass geben, von einem an sich verwirkten Regelfahrverbot Abstand zu nehmen, weil ein solcher Umstand die Einschätzung rechtfertigen kann, dass das Verhalten nicht als ein das Regelfahrverbot indizierender grober Pflichtenverstoß im Sinne des § 25 I StVG zu werten ist (OLG Bamberg a. a. O.; BayObLGSt 2003, 61 = NJW 2003, 193 = ZfS 2003, 430 = OLGSt OWiG § 11 Nr. 3 = DAR 2003, 426 = VRS 105 [2003], 309 = VerkMitt 2003 Nr. 75).
b) Jedoch darf dies nicht bei jedem vermeidbaren Verbotsirrtum gleichsam zwangsläufig angenommen werden, wie das AG dies getan hat.
aa) Schon aus Gründen der Gleichbehandlung aller Verkehrsteilnehmer ist es geboten, ein Absehen vom Regelfahrverbot auf Ausnahmefälle zu beschränken. Die bloße Feststellung eines (Verbots-)Irrtums ist hierfür gerade nicht ausreichend; vielmehr kommt es – wie sonst auch – auf die konkreten Umstände des Einzelfalles an. Dies belegt schon ein Vergleich mit den Fällen eines Tatbestandsirrtums gemäß § 11 I 1 OWiG. Ein solcher Irrtum, der zum Vorsatzausschluss führt und gemäß § 11 I 2 OWiG im Falle der Vermeidbarkeit die Ahndung wegen fahrlässigen Verhaltens eröffnet, lässt das Regelfahrverbot unberührt. Denn das Regelfahrverbot nach §§ 25 I 1 [1. Alt.], 26a StVG i. V. m. § 4 I 1 Nr. 1 BKatV i. V. m. Nr. 11.3.7 Tab. 1c BKat gilt gerade auch bei Fahrlässigkeit, also einem Verhalten, bei dem sich der Täter im Rahmen des geltenden Rechts wähnt. Es würde aber auf einen evidenten, die Gesetze der Logik missachtenden Wertungswiderspruch hinauslaufen, wenn die Prämisse für das Regelfahrverbot, also der Fahrlässigkeitsverstoß, gerade zum Anlass genommen würde, von dessen Anordnung Abstand zu nehmen. Demgemäß entspricht es gefestigter obergerichtlicher und höchstrichterlicher Rspr., dass die bloße Fahrlässigkeit als solche noch keineswegs dazu führt, vom Regelfahrverbot abzusehen, sondern dies auf Ausnahmefälle, wie etwa eines Augenblicksversagens (vgl. hierzu nur BGHSt 43, 241 = NJW 1997, 3252 = MDR 1997, 1024 = ZfS 1997, 432 = DAR 1997, 450 = NZV 1997, 525 = BGHR StVG § 25 Fahrverbot 4 = VersR 1998, 204 = VRS 94 [1998], 221 = VM 1998, Nr. 30; OLG Bamberg, Beschl. v. 04.01.2016 – 3 Ss OWi 1490/15, 22.12.2015 – 3 Ss OWi 1326/15 [bei juris], jeweils m. w. N.), beschränkt sein muss.
bb) Im Ergebnis ist derjenige, der sich über den Bedeutungsgehalt verkehrsrechtlicher Anordnungen irrt und dem deshalb die Einsicht fehlt, Unerlaubtes zu tun, in Bezug auf die subjektive Vorwerfbarkeit nicht anders zu behandeln als ein Verkehrsteilnehmer, der etwa aus Fahrlässigkeit die ein Verbot aussprechende Beschilderung gar nicht wahrnimmt und damit einem den Vorsatz ausschließenden Tatbestandsirrtum nach § 11 I 1 OWiG unterliegt. In beiden Fällen lehnt sich der Betr. nicht bewusst gegen die Rechtsordnung und den verwaltungsrechtlichen Pflichtenappell auf. Jedes Mal geht er stattdessen davon aus, sich rechtens zu verhalten; lediglich die Ursachen für diese Einschätzung sind verschieden. Für die Beurteilung, ob sich ein Verhalten als grober Pflichtenverstoß i. S. d. § 25 I StVG darstellt oder nicht, kann es demgemäß keinen Unterschied machen, ob ein Tatbestands- oder ein Verbotsirrtum vorlag. Hieraus folgt gleichermaßen, dass ein (vermeidbarer) Verbotsirrtum per se ebenfalls nicht zum Absehen von dem Regelfahrverbot führt, sondern auf Ausnahmesituationen beschränkt sein muss. Die obergerichtliche Rspr. stellt insoweit vielmehr zu Recht auf den Grad der Vermeidbarkeit ab und postuliert folgerichtig, dass das Absehen vom Regelfahrverbot aufgrund eines vermeidbaren Verbotsirrtums nur dann gerechtfertigt ist, wenn es sich um keinen fernliegenden Irrtum handelt (BayObLGSt 1999, 172 = NStZ-RR 2000, 119 = DAR 2000, 172 = VRS 98, 292 = NZV 2000, 300 = VM 2000, Nr. 67; BayObLGSt 2003, 61 = NJW 2003, 193 = ZfS 2003, 430 = OLGSt OWiG § 11 Nr. 3 = DAR 2003, 426 = VRS 105 [2003], 309 = VM 2003 Nr. 75; OLG Bamberg NJW 2007, 3081 = VD 2007, 294 = NZV 2007, 633 = OLGSt StVG § 25 Nr. 37; StraFo 2016, 116 = OLGSt OWiG § 11 Nr. 5).
cc) Wegen der aus den genannten Gründen gebotenen Gleichbehandlung von Tatbestands- und Verbotsirrtum bietet sich als taugliches Kriterium für ein Absehen vom Regelfahrverbot ein Rückgriff auf den von der höchstrichterlichen Rspr. entwickelten Rechtsgedanken des Augenblicksversagens an. Hat der (Verbots-)Irrtum hierin seine Ursache, so ist es gerechtfertigt, von dem an sich verwirkten Regelfahrverbot abzusehen. Ein Augenblicksversagen ist indes nur im Falle einer momentanen Unaufmerksamkeit bzw. eines kurzzeitiges Fehlverhaltens anzunehmen, wie es auch dem sorgfältigen und pflichtbewussten Kraftfahrer unterlaufen kann (BGH, Urt. v. 29.01.2003 – IV ZR 173/01 = NJW 2003, 1118 = VersR 2003, 364 = ZfS 2003, 242 = DAR 2003, 217 = VRS 105 [2003], 118 BGHR VVG § 61 Fahrlässigkeit, grobe 9 = Schaden-Praxis 2003, 173 = MDR 2003, 505), wobei schon begrifflich kennzeichnend ist, dass es sich um eine gleichsam spontane Fehlreaktion innerhalb eines Verkehrsgeschehens handelt (OLG Bamberg, Beschl. v. 04.01.2016 – 3 Ss OWi 1490/15 [bei juris]). Eine derartige Situation lag nach den tatrichterlichen Feststellungen aber gerade nicht vor. Der Beschränkung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf 60 km/h im Bereich der Messstelle gingen weitere Geschwindigkeitsbeschränkungen auf zunächst 100 km/h und anschließend auf 80 km/h bei im Übrigen gleich gestalteter beidseitiger Wechselbeschilderung voraus, wobei überdies die Zeichen 274 (zulässige Höchstgeschwindigkeit) und 277 (Überholverbot) jeweils durch einen waagerechten Strich optisch voneinander getrennt waren. Schon im Hinblick darauf kann von einer lediglich spontanen Fehleinschätzung nicht die Rede sein. Hinzu kommt, dass sich jedem Kraftfahrzeugführer auch jenseits der genauen Kenntnis der Vorschriften über die höchstzulässige Geschwindigkeit für Omnibusse und Pkw mit Anhänger geradezu aufdrängen musste, dass eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 100 km/h für diese Kraftfahrzeuge keinen Sinn machen würde. Hieran ändert auch der Rekurs des Betr. auf Ziff. III. 11.a) VwV-StVO zu § 39 StVO, wonach an einem Pfosten oder sonst unmittelbar über- oder nebeneinander nicht mehr als 3 Verkehrszeichen anzubringen sind, nichts, zumal ein etwaiger Verstoß gegen eine Verwaltungsvorschrift die Rechtswirksamkeit der verkehrsrechtlichen Anordnung, bei der es sich um einen Verwaltungsakt in Form einer Allgemeinverfügung i. S. d. Art. 35 S. 2 BayVwVfG handelt (vgl. nur BVerwG NJW 2016, 2353 = ZfS 2016, 474 = VM 2016, Nr. 39 = ACE-Verkehrsjurist 2016, 17 = DAR 2016, 598 = LKV 2016, 407 = NZV 2016, 539 = JA 2016, 957 = BayVBl 2016, 784 = NJ 2016, 519 = JuS 2017, 91 m. w. N.), nicht berührt. […]


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