IT- und Medienrecht

Wortsinngemäße Verletzung eines Gebrauchsmusters

Aktenzeichen  21 O 13391/17

Datum:
13.11.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
GRUR-RS – 2019, 59132
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
München I
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
GebrMG § 11 Abs. 1, § 13 Abs. 1, § 15 Abs. 1, § 24 Abs. 1 und 2, § 24a,  24b
ZPO § 148

 

Leitsatz

1. Die streitgegenständlichen Ausführungsformen verletzen das Klagegebrauchsmuster, welches einen Seitenaufprallschutz für einen KfZ-Kindersitz betrifft, unmittelbar wortsinngemäß; die angegriffenen Ausführungsformen verfügen insbesondere über eine anspruchsgemäße Sitzschale und anspruchsgemäße Seitenelemente. (Rn. 92 – 104) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das Klagegebrauchsmuster ist weder mangels unzureichender Offenbarung, noch mangels Neuheit oder erfinderischer Tätigkeit löschungsreif; das Verfahren war daher nicht nach § 148 ZPO auszusetzen. (Rn. 111 – 132) (redaktioneller Leitsatz)
3. Eine Vorbenutzung ist nicht neuheitsschädlich, wenn der Fachmann der Vorbenutzung ohne Kenntnis der klagegebrauchsmustermäßigen Lösung keine entsprechende Gebrauchsmöglichkeit entnommen hätte. (Rn. 130) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Beklagten werden verurteilt, es bei Meidung eines vom Gericht für jeden einzelnen Fall der Zuwiderhandlung festzusetzenden Ordnungsgeldes bis zu 250.000,00 EUR – ersatzweise Ordnungshaft – oder einer Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, im Wiederholungsfall Ordnungshaft bis zu insgesamt 2 Jahren, wobei die Ordnungshaft an ihren jeweiligen gesetzlichen Vertretern zu vollziehen ist, zu unterlassen,
Kindersitze zur Anbringung auf einem Kraftfahrzeugsitz mit einer Sitzschale und einem an dieser angebrachten Seitenaufprallschutz,
in der Bundesrepublik Deutschland anzubieten, in den Verkehr zu bringen, zu gebrauchen und/oder zu den genannten Zwecken einzuführen und/oder zu besitzen, wenn
der Seitenaufprallschutz von einer innerhalb einer Standardbreite gelegenen Ruhestellung in eine außerhalb derselben gelegene Funktionsstellung und umgekehrt bringbar ist, wobei der Seitenaufprallschutz beidseitig der Sitzschale in einem Rückenabschnitt des Kindersitzes so positioniert ist, dass er etwaige Seitenkräfte hinter dem Rücken eines im Kindersitz sitzenden Kindes vorbei übertragt und in die Sitzschale einleitet, wobei der Seitenaufprallschutz ein Seitenelement umfasst, das in Ruhestellung an einer Seitenflache der Sitzschale im Wesentlichen flach anliegt, insbesondere in die Seitenfläche eingeklappt, und zur Benutzung in Funktionsstellung ausklappbar ist, wobei das Seitelement einen pilzartigen Endabschnitt aufweist.
2. Die Beklagten werden verurteilt, der Klägerin darüber Auskunft zu erteilen, in welchem Umfang sie die in Ziff. 1. bezeichneten Handlungen seit dem 03.09.2017 begangen haben, und zwar unter Angabe
a)der Namen und Anschriften der Hersteller, Lieferanten und anderen Vorbesitzer,
b)der Namen und Anschriften der gewerblichen Abnehmer sowie der Verkaufsstellen, für die die Erzeugnisse bestimmt waren,
c)der Menge der hergestellten, ausgelieferten, erhaltenen oder bestellten Erzeugnisse sowie der Preise, die für die betreffenden Erzeugnisse bezahlt wurden;
wobei zum Nachweis der Angaben die entsprechenden Kaufbelege (nämlich Rechnungen, hilfsweise Lieferscheine) in Kopie vorzulegen sind, wobei geheimhaltungspflichtige Details außerhalb der auskunftspflichtigen Daten geschwärzt werden dürfen.
3. Die Beklagten werden verurteilt, der Klägerin gegliedert nach Kalendervierteljahren schriftlich in geordneter Form Rechnung zu legen, in welchem Umfang sie die in Ziff. 1. bezeichneten Handlungen seit dem 06.11.2017 begangen haben, und zwar unter Angabe
a)der einzelnen Lieferungen (unter Vorlage der Rechnungen und Lieferscheine), aufgeschlüsselt nach
a)aa) Liefermengen, – zeiten und -preisen,
a)bb) allen Identifikationsmerkmalen der jeweiligen Erzeugnisse wie
a)Typenbezeichnung, Artikelbezeichnung, laufender
a)Produktnummer, sowie
a)cc) den Namen und Anschriften der gewerblichen Abnehmer,
b)der einzelnen Angebote, aufgeschlüsselt nach
b)aa) Angebotsmengen, – zeiten und -preisen,
b)bb) allen Identifikationsmerkmalen der jeweiligen Erzeugnisse wie Typenbezeichnung, Artikelbezeichnung, laufender Produktnummer, sowie
b)cc) den Namen und Anschriften der gewerblichen Angebotsempfänger
c)der betriebenen Werbung, aufgeschlüsselt nach Werbeträgern, deren Auflagenhöhe, Verbreitungszeitraum und Verbreitungsgebiet;
d)der nach den einzelnen Kostenfaktoren aufgeschlüsselten Gestehungskosten sowie des erzielten Gewinns.
4. Die Beklagten werden verurteilt, die unter Ziff. 1. bezeichneten, im Besitz Dritter befindlichen Erzeugnisse aus den Vertriebswegen
a) zurückzurufen, indem diejenigen Dritten, denen durch die Beklagten oder mit Zustimmung der Beklagten Besitz an den Erzeugnissen eingeräumt wurde, unter Hinweis auf den durch Urteil des Landgerichts München I festgestellten gebrauchsmusterverletzenden Zustand der Erzeugnisse ernsthaft aufgefordert werden, die Erzeugnisse an die Beklagte zurückzugeben und den Dritten für den Fall der Rückgabe des Erzeugnisses eine Rückzahlung des ggf. bereits bezahlten Kaufpreises sowie die Übernahme der mit der Rücknahme verbundenen Kosten zugesagt wird, und
b) endgültig zu entfernen, indem die Beklagten diese Erzeugnisse an sich nehmen oder die Vernichtung derselben beim jeweiligen Besitzer veranlasst.
5. Die Beklagte zu 1) wird verurteilt, die sich in ihrem unmittelbaren oder mittelbaren Besitz befindlichen Erzeugnisse gemäß Ziff. 1. an einen von der Klägerin zu benennenden Gerichtsvollzieher zum Zwecke der Vernichtung auf Kosten der Beklagten zu 1) herauszugeben.
6. Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin allen Schaden zu ersetzen, der dieser seit dem 06.11.2017 durch die Handlungen gemäß Ziff. 1. entstanden ist und zukünftig noch entsteht.
7. Die Beklagten haben als Gesamtschuldner die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
8 Das Urteil ist für die Klägerin vorläufig vollstreckbar jeweils gegen Zahlung einer Sicherheitsleistung von
-150.000,00 EUR für Ziff. 1 (Unterlassung),
-25.000,00 EUR für Ziff. 2 (Auskunft),
-25.000,00 EUR für Ziff. 3 (Rechnungslegung),
-25.000,00 EUR für Ziff. 4 (Rückruf),
-50.000,00 EUR für Ziff. 5 (Vernichtung),
-hinsichtlich der Kosten in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags.

Gründe

Die Klage ist zulassig und begründet.
Soweit die Beklagten der Klageerweiterung auf die Ausführungsformen #3 und 4# entgegentreten, hält die Kammer diese für sachdienlich, da der bisherige Prozessstoff auch für die weiteren Ausführungsformen verwertbar bleibt, die Zulassung die endgültige Beilegung des Streits fördert und einen neuen Prozess vermeidet (vgl. BGH NJW 2007, 2414).
A.
Die Klägerin hat gegen die Beklagten den geltend gemachten Anspruch auf Unterlassung, Auskunft, Rechnungslegung, Rückruf und Vernichtung sowie Schadensersatz.
I.
Der Klägerin steht gegen die Beklagten gemäß § 24 Abs. 1 GebrmG ein Anspruch auf Unterlassung des Herstellens, Anbietens, Inverkehrbringens, Gebrauchens der angegriffenen Ausführungsformen oder des Einführens und Besitzens zu diesen Zwecken zu. Die angegriffenen Ausführungsformen verwirklichen die Merkmale des geltend gemachten Anspruchs des Klagegebrauchsmusters unmittelbar wortsinngemäß.
1. Das Klagegebrauchsmuster betrifft einen Kindersitz oder eine Babyschale zur Anbringung auf einem Kraftfahrzeugsitz.
a. Im Stand der Technik waren Kindersitze und Babyschalen, die auf einem Kraftfahrzeugsitz angebracht werden können, seit geraumer Zeit bekannt. Als problematisch haben sich diese Sitze jedoch bei einem Seitenaufprall erwiesen, da sowohl eine Gurtbefestigung als auch eine Befestigung mittels Isofix-Klinken den Kindersitz oder die Babyschale nur sehr unzureichend gegen eine Seitwarts-Bewegung des Sitzes schützen. Aus diesem Grund wurde bereits im Stand der Technik an bestehenden Kindersitzen und Babyschalen ein Seitenaufprallschutz angebracht. Das Klagegebrauchsmuster benennt beispielsweise den in der DE … oder in der US … beschriebenen Seitenaufprallschutz (vgl. Abs. [0003]). Bei den dort offenbarten Vorrichtungen handelt es sich um ein energieabsorbierendes Element in Form eines Faltbandes oder eines Luftkissens, das sich seitlich des Kindersitzes erstreckt.
Diese im Stand der Technik bekannten Vorrichtungen halten jedoch den Nachteil, dass sie nicht in der Lage sind, ein in dem Kindersitz befindliches Kind optimal zu schützen, da eine Kraftübertragung bei einem Seitenaufprall bei den dort gezeigten Konstruktionen unmittelbar auf das in dem Kindersitz befindliche Kind erfolgt und die dort dargestellten Kindersitze nur unzureichend in der Lage sind, eine Aufprallenergie zu absorbieren und/oder abzuleiten (vgl. Abs. [0003]).
b. Ausgehend von diesem Stand der Technik stellt sich das Klagegebrauchsmuster die Aufgabe, einen Kindersitz zur Anbringung auf einem Kraftfahrzeugsitz zur Verfügung zu stellen, der vorgenannte Nachteile vermeidet und einen verbesserten Seitenaufprallschutz zur Verfügung stellt, der die auf ein in dem Kindersitz befindliches Kind wirkenden Kräfte reduziert (Abs. [0004]).
Hierfür schlägt das Klagegebrauchsmuster einen Kindersitz bzw. eine Babyschale mit Merkmalen des Klagegebrauchsmusteranspruchs 1, die nachfolgend in Nummerierung der Merkmalsgliederung der Klägerin (vgl. Anlage MB 8) in gegliederter Form wiedergegeben werden:
Klagegebrauchsmusteranspruch 1
1. Kindersitz (10) oder Babyschale zur Anbringung auf einem Kraftfahrzeugsitz, insbesondere Kraftfahrzeugseitensitz, mit einer Sitzschale (20) und einem an dieser angebrachten Seitenaufprallschutz,
2. der von einer innerhalb einer Standardbreite gelegenen Ruhestellung in eine außerhalb derselben gelegenee Funktionsstellung und umgekehrt bringbar ist,
4. wobei der Seitenaufprallschutz beidseitig der Sitzschale (20) in einem Rückenabschnitt (70) des Kindersitzes so positioniert ist, dass er etwaige Seitenkräfte hinter dem Rücken eines im Kindersitz sitzenden Kindes vorbei überträgt und in die Sitzschale (20) einleitet,
dadurch gekennzeichnet, dass
3. der Seitenaufprallschutz ein Seitenelement (30) umfasst, das
3.1 das in Ruhestellung an einer Seitenfläche der Sitzschale (20), insbesondere im Wesentlichen flach, anliegt, oder im Wesentlichen Bündig mit einer Seitenfläche (35) der Sitzschale (20) abschließt, insbesondere in die Seitenfläche (35) eingeschoben und/oder eingeklappt, und
3.2 zur Benutzung in Funktionsstellung ausklappbar, teleskopartig ausfahr- oder ausschiebbar ist,
3.3 wobei das Seitenelement (30) einen gegebenenfalls ausklappbaren oder aufschraub- oder aufsteckbaren pilz- oder tellerartigen Endabschnitt (90) aufweist.
c. Zur Beurteilung, ob die angegriffenen Ausführungsformen die einzelnen Anspruchsmerkmale verwirklichen und damit die anspruchsgemäße technische Lehre verletzen, ist der objektive Sinngehalt der Ansprüche im Wege einer funktionalen Auslegung zu ermitteln. Die Auslegung des Patentanspruchs dient nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung dazu, die technische Lehre zu erfassen, die aus fachmännischer Sicht – d.h. unter Berücksichtigung des Vorverständnisses, das sich aus dem Fachwissen und -können des von der Erfindung angesprochenen Fachmanns ergibt – mit dem Wortlaut des Anspruchs zum Ausdruck gebracht wird. Sie hat unter Berücksichtigung von Beschreibung und Zeichnungen zu erfolgen, die dazu dienen, die durch den Patentanspruch geschützte technische Lehre zu erläutern und typischerweise anhand eines oder mehrerer Ausführungsbeispiele zu verdeutlichen (vgl. etwa BGH GRUR 2010, 602 Rn. 20 – Gelenkanordnung).
(1) Sitzschale – Merkmal 1
Der angesprochene Fachmann versteht den vom Klagegebrauchsmuster verwendeten Begriff „Sitzschale“ dahingehend, dass die Sitzschale derart ausgestaltet sein muss, eine erfindungsgemäße Kraftumlenk- und Einleitungsfunktion des Seitenaufprallschutzes zu gewährleisten. Dem angesprochenen Fachmann ist dabei bekannt, dass „Sitzschalen“ auch aus mehreren fest miteinander verbundenen, etwa verklebten oder verschraubten, Komponenten bestehen können. Dem Fachmann ist weiterhin bekannt, dass insbesondere Kindersitze oftmals etwa zum Transport zweigeteilt werden können – in ein Sitzteil und ein Rückenteil.
Das Verständnis des Fachmanns ist vor diesem Hintergrund nicht darauf beschränkt, dass eine klagegebrauchsmustergemäße Sitzschale aus „einem Guss“ angefertigt sein muss; es ist weiterhin nicht darauf beschränkt, dass vom Begriff „Sitzschale“ nur der Sitzteil umfasst ist – also der Teil des Sitzes, auf dem das Kind sitzt.
Der Wortlaut des Anspruchs des Klagegebrauchsmusters zeigt, dass der Seitenaufprallschutz in einem „Rückenabschnitt“ angebracht sein soll. Daraus folgert der Fachmann, dass auch dieser Teil zur „Sitzschale“ gehört.
Zur Überzeugung der Kammer verfängt insofern die Argumentation der Beklagten nicht. Soweit die Beklagten diese Auslegung insbesondere auf die Stellungnahme des EPA im Einspruchsverfahren vom 26.11.2018 stützen (S 11 unten, Anlage QE 2), ist dazu Folgendes zu sagen:
Zunächst trifft das EPA insoweit zur Überzeugung der Kammer keine Feststellung, dass die Sitzschale „aus einem Guss“ gefertigt sein muss. Das EPA merkt an, „dass das Merkmal „Sitzschale“ (…) so verstanden wird, dass es sich um eine geschlossene, fest mit der Rückenlehne verbundene Einheit handelt und nicht um eine mehrteilige Struktur, insbesondere nicht um eine lose verbundene Einheit aus Sitzfläche und Rückenlehne.“ Darüber hinaus ist dem EPA aber auch nicht insoweit zu folgen, dass bei einer derartigen mehrteiligen Struktur aus Sitzfläche und Rückenlehne nur der Sitzteil als „Sitzschale“ anzusehen ist. Diese enge Auslegung würde dazu führen, dass der Anspruchswortlaut insofern leer liefe, da dann eine Befestigung am „Rückenabschnitt“ nicht mehr möglich wäre. Dieser Widerspruch ist dadurch aufzulösen, dass der Begriff „Sitzschale“ stets auch den Rückenteil umfasst.
Dafür sprechen auch die Beschreibung, die etwa in Abs. [0021] von einer „Sitzschalenkonstruktion“ spricht, als auch die Zeichnungen, die unter der Bezugsziffer „20“ – Sitzschale – auch auf den Rückenabschnitt zeigen (vgl. etwa Fig. 1).
(2) innerhalb einer Standardbreite liegende Ruhestellung – Merkmal 2
Der Fachmann versteht den vom Klagegebrauchsmuster verwendeten Begriff „Standardbreite“ funktional dahingehend, dass die gebrauchsmustergemäßen Seitenelemente in Ruhestellung nicht über eine Hüllkurve (= Breite) des Kindersitzes hinausragen. Dem angesprochenen Fachmann ist dabei bekannt, dass zum Prioritätszeitpunkt kein allgemeingültiger (Industrie-)Standard für die Breite von Kindersitzen definiert war.
Insofern ordnet der Fachmann den in Abs. [0006] zitierten Standard von 440 mm als beispielhafte Nennung ein. Demgegenüber entnimmt er Abs. [0008], dass durch An-/Einklappen der Seitenelemente der Seitenaufprallschutz eine „übliche Breite“ eines Kindersitzes nicht übersteigt und dies funktionell „die Handhabbarkeit des erfindungsgemäßen Kindersitzes zusätzlich begünstigt“. Daher versieht der angesprochene Fachmann den Begriff „Standardbreite“ nicht dahingehend, dass nur Sitze einer zahlenmäßig bestimmten Breite bzw. Sitze bei denen die Seitenelemente im eingeklappten Zustand innerhalb dieser bestimmten Breite liegen, vom Anspruchswortlaut umfasst sind.
(3) Funktionsstellung – Merkmal 2
Der angesprochene Fachmann versteht den Begriff „Funktionsstellung“ dahingehend, dass der Seitenaufprallschutz in dieser Position außerhalb der Standardbreite, also außerhalb der Hüllkurve des Kindersitzes liegt. Denn in dieser Stellung kann der Seitenaufprallschutz seine Funktion erfüllen: bei einem Seitenaufprall den ersten Angriffspunkt für eine auf den Sitz wirkende Kraft zu bieten.
Insoweit verfängt die Argumentation der Klägerin nicht, in Funktionsstellung müsse der Seitenaufprallschutz die an ihn angrenzenden Anlageflächen entweder des Kraftfahrzeugs oder eines benachbarten Kindersitzes berühren.
Diese Auslegung findet bereits keine Stütze im Anspruchswortlaut. Sie findet in dieser Enge auch keine ausreichende Stütze in der Beschreibung und den Zeichnungen. Zwar zeigt Fig. 3 des Klagegebrauchsmusters eine Anlage des Seitenaufprallschutzes an einer weiteren Fläche – diese Fig. 3 ist jedoch im Zusammenhang mit der Beschreibung als (ein bloßes) Ausführungsbeispiel zu sehen. Das Klagegebrauchsmuster nennt die Anlage an einer Kraftfahrzeugfläche insbesondere im Zusammenhang mit einem teleskopartig ausfahrbaren Seitenaufprallschutz (vgl. etwa Abs. [0014]). Der Fachmann versteht den Anspruch daher in Zusammenschau mit der Beschreibung funktional – es ist für die Funktion der Erfindung vorteilhaft, eine möglichst weite Annäherung an die Kraftfahrzeugseitenfläche zu erreichen, eine unmittelbare Anlage verlangt demgegenüber jedoch der Anspruch nicht.
(4) Pilz- oder tellerartiger Endabschnitt – Merkmal 3.3
Unter dem Begriff „pilz- oder tellerartiger“ Endabschnitt versteht der angesprochene Fachmann, dass der Endabschnitt des Seitenelements funktionell so ausgebildet sein muss, dass dieser eine möglichst breite Anlageflache zur Aufnahme einer auf die Seiten eines Kindersitzes wirkenden Aufprallenergie bildet.
Soweit die Beklagte vorbringt, der Begriff sei wortsinngemäß dahingehend auszulegen, dass es sich um eine runde Form mit einem gleichmäßig und sichtbar den Körper des Seitenelements überkragenden Rand handeln müsse und Rand und unterer Teil eine deutlich unterschiedliche Größe aufweisen müssten, ist dem nicht zu folgen. Dieses enge Verständnis scheitert bereits daran, dass naturgemäß zahlreiche „Pilz- und Tellerformen“ denkbar sind und in der Natur nicht nur bestimmte symmetrische Formen vorkommen. Ein Rückzug auf das Wortverstandnis würde dem Fachmann daher keine ausreichende Stütze zur Umsetzung bieten.
(5) Positionierung beidseitig der Sitzschale im Rückenabschnitt zur Kraftumleitung hinter den Rücken eines Kindes – Merkmal 4
Der angesprochene Fachmann versteht das Merkmal „dass er etwaige Seitenkräfte nicht unmittelbar auf den Körper des Kindes überträgt, sondern am Körper des Kindes vorbei und in die Sitzschale (20) einleitet“ als Zweck-Wirkungsangabe. Zweck-/Wirkungsangaben beschränken als solche den Schutzgegenstand im Allgemeinen nicht (BGH GRUR 1991, 436 – Befestigungsvorrichtung II). Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Anspruchswortlaut keine Vorgaben macht, in welchem Umfang eine Übertragung und Einleitung von Seitenkräften in die Sitzschale erfolgen muss. Allerdings muss der durch das Patent geschützte Gegenstand so ausgebildet sein, dass er für den im Anspruch angegebenen Zweck verwendbar ist bzw. die im Anspruch angegebene Funktion erfüllen kann (vgl. etwa BGH GRUR 2016, 169 – Luftkappensystem, BGH GRUR 1979, 149 – Schießbolzen). Der Fachmann wird daher den Seitenaufprallschutz so positionieren, dass er geeignet ist, etwaige Seitenkräfte am Kind vorbei in die Sitzschale einzuleiten – wobei ihm bewusst ist, dass nicht alle Seitenkräfte am Kind vorbeigeleitet werden müssen (und dies im Übrigen wahrscheinlich auch nicht möglich ist).
Vor diesem Hintergrund sind die Merkmale „beidseitig der Sitzschale“ und „in einem Rückenabschnitt“ derart auszulegen, dass auch die Seitenflächen der Sitzschale einen Rückenabschnitt des Kindersitzes bilden können – der Begriff „Rückenabschnitt“ bedeutet für den Fachmann nicht, dass der Seitenaufprallschutz hinter dem Rücken des Kindes zu positionieren ist. Vielmehr ist der Begriff dahingehend auszulegen, dass der „Rückenabschnitt“ den Bereich oberhalb der Sitzfläche meint. Diese Auslegungen bestätigen auch die Figuren, insbes. Fig. 1 und 2 zeigen, dass der Seitenaufprallschutz auch im seitlichen Bereich angeordnet ist.
Soweit die Beklagten diesbezüglich vortragen, dass die Klägerin im Erteilungsverfahren der Stammanmeldung EP’455 klar zwischen Seitenbereich und Rückenabschnitt unterschieden habe, kann dies nicht überzeugen. Zunächst ist das Klagegebrauchsmuster aus sich heraus auszulegen und führt diese Auslegung auch zu einem Ergebnis. Ein Rückgriff auf das Erteilungsverfahren ist im Übrigen grundsätzlich nicht zulässig (BGH GRUR 2002, 511 – Kunststoffrohrteil).
Darüber hinaus ist das EPA im Erteilungsverfahren der Stammanmeldung EP’… im Ergebnis zum Ergebnis gekommen, dass der Anspruch „weder eine Anordnung des Seitenaufprallschutzes hinter dem Rücken fordert, noch dass etwaige Seitenkräfte vollständig hinter dem Rücken vorbei übertragen werden“ (vgl. Anlage B 11). Den von der Beklagten vorgebrachten Widerspruch vermag die Kammer daher nicht zu erkennen.
(6) im Wesentlichen flaches Anliegen an der Seitenfläche in Ruhestellung – Merkmal 3.1
Merkmal 3.1 fordert, dass das Seitenelement in Ruhestellung im Wesentlichen flach an der Seitenfläche anliegt. Der angesprochene Fachmann setzt dies in Zusammenhang mit den weiteren Merkmalen in der Merkmalsgruppe 3.1.
Hierbei misst er dem „oder“ in Verbindung mit den Ausführungsbeispielen jedoch nicht die – von den Beklagten behauptete – Bedeutung zu, dass das Seitenelement entweder im Wesentlichen flach anliegt oder im Wesentlichen bündig mit einer Seitenfläche abschließt und nur im zweiten Fall eingeklappt wird (vgl. Merkmal 3.1). Er wird das Klagegebrauchsmuster also nicht derart eng auslegen, dass ein eingeklapptes Seitenelement bündig mit der Seitenfläche abschließen muss.
Ein solches enges Verständnis kann dem Wortlaut des Anspruchs nicht entnommen werden. Es wird darüber hinaus auch nicht gestützt durch die Beschreibung und die Figuren. Vielmehr zeigen die Beschreibung, insbesondere die Ausführungsbeispiele, und die Figuren, dass es das Ziel der Erfindung ist, dass das Seitenelement in Ruhestellung nicht über die Hüllkurve hinausragt und dadurch die Handhabbarkeit des erfindungsgemäßen Kindersitzes begünstigt (vgl. Abs. [0008]).
Der Fachmann legt das Merkmal demnach so aus, dass es Ziel des Anspruchs ist, Überstände über die Seitenfläche in Ruhestellung möglichst zu vermeiden. Dem Begriff Seitenfläche misst der Fachmann dabei funktionell die Bedeutung zu, dass damit die äußere seitliche Fläche des Kindersitzes gemeint ist, unabhängig davon wie der Sitz konkret aufgebaut ist.
2. Die von den Beklagten angebotenen angegriffenen Ausführungsformen verletzen Anspruch 1 des Klagegebrauchsmusters unmittelbar wortsinngemäß im Sinne des § 11 Abs. 1 GebrmG.
a. Die angegriffenen Ausführungsformen verwirklichen Merkmal 1 Insbesondere verfügen sie über eine anspruchsgemäße Sitzschale. Dabei ist unschädlich, dass die Sitzschale der angegriffenen Ausführungsform #1 mehrteilig ausgestaltet ist. Wie erörtert erfordert das Merkmal nicht, dass die Sitzschale aus einem Stück, also „aus einem Guss“ angefertigt ist. Es genügt, wenn insbesondere das Rückenteil derart solide gebaut ist, dass eine Kraftübertragung vom Seitenaufprallschutz auf die Sitzschale am Kind vorbei gewährleistet ist. Das Merkmal ist daher verwirklicht.
b. Die angegriffenen Ausführungsformen verwirklichen Merkmal 2. Insbesondere verfügen die angegriffenen Ausführungsformen über eine anspruchsgemäße Ruhe- und Funktionsstellung innerhalb bzw. außerhalb der Standardbreite.
Die eingeklappten Seitenelemente der angegriffenen Ausführungsformen liegen innerhalb der Hüllkurve des Sitzes; im ausgeklappten Zustand liegen sie außerhalb der Hüllkurve und damit näher an einer Kraftfahrzeuganlagefläche. Damit ist das Merkmal verwirklicht.
Soweit die Beklagten darüber hinaus ein Anliegen an der Kraftfahrzeugseitenwand in Funktionsstellung fordern, wäre dieses Merkmal zumindest für die angegriffene Ausführungsform #1 in Ausgestaltung des „…“ auch erfüllt, da dieser im Modell VW Sharan (EZ 11/2015) an der Kraftfahrzeugseitenwand anliegt.
c. Die angegriffenen Ausführungsformen verwirklichen auch Merkmal 4. Der Seitenaufprallschutz ist beidseitig der Sitzschale so positioniert, dass er etwaige Seitenkräfte nicht unmittelbar auf den Körper des Kindes überträgt, sondern am Körper des Kindes vorbei in die Sitzschale einleiten kann. Auf das konkrete Maß der Krafteinleitung kommt es dabei nicht an – maßgeblich ist allein, ob der diesbezügliche Zweck erfüllt werden kann (vgl. oben).
Soweit die Beklagten vortragen, bei den angegriffenen Ausführungsformen würde die Kraft überhaupt nicht abgeleitet, kann dies die Kammer nicht überzeugen. Es erscheint der Kammer bereits schwer vorstellbar, dass die Beklagten eine Funktion in ihre Kindersitze einbauen und bewerben, die sie „guard sourround safety“ nennen – der sie aber diese Funktion absprechen. Im Übrigen dürften physikalische Grundsätze dafür sprechen, dass zumindest ein Teil der auftretenden Seitenkräfte in die Sitzschale abgeleitet wird.
Dies scheint der Kammer auch aus den von den Beklagten in der Hauptverhandlung gezeigten Videos ersichtlich, so dass das Merkmal bei den angegriffenen Ausführungsformen ebenfalls verwirklicht ist.
d. Das Seitenelement liegt bei den angegriffenen Ausführungsformen in Ruhestellung außerdem an der Seitenfläche der Sitzschale im Wesentlichen flach an. Merkmal 3.1 ist damit verwirklicht.
Maßgeblich ist dafür, dass das Seitenelement möglichst vollständig in der Hüllkurve verschwindet (vgl. oben). Das ist bei den angegriffenen Ausführungsformen der Fall.
Da der Fachmann zur Seitenfläche der Sitzschale auch eventuelle Aufbauten zählt – maßgeblich ist die äußere Hüllkurve (vgl. oben) – verfängt die Argumentation der Beklagten, dass bei den angegriffenen Sitzen teilweise Styroporteile um das Seitenelement herumgebaut sind, nicht. Es macht im Ergebnis keinen Unterschied, ob das Seitenelement in die Seitenfläche eingebettet ist oder nicht – ein flaches Anliegen ist gegeben. Auch dieses Merkmal ist daher verwirklicht.
3. Die Beklagten sind auch passivlegitimiert. Sie sind beide „Verletzer“ im Sinne des § 24 GebrMG, da sie das Klagegebrauchsmuster benutzen. Die Kammer sieht dabei beide Beklagte als Mittäter an.
Die Benutzung liegt dabei bereits in der Verfügbarmachung über die Webseite. Alle angegriffenen Ausführungsformen sind auf der von der Webseite der Beklagten zu 2) als in Deutschland verfügbar genannt. Die Beklagte zu 1) wird dort als zuständige Firma für den Vertrieb in Deutschland genannt. Dies erachtet die Kammer als ausreichend.
II.
Die mit Klageanträgen Ziffern 2. (Auskunft), 3. (Rechnungslegung), 4. (Rückruf), 5. (Vernichtung) und 6. (Schadensersatz) geltend gemachten Folgeansprüche stehen der Klägerin ebenfalls zu.
1. Die Beklagten sind der Klägerin aufgrund des zumindest fahrlässigen Handelns, von dem in Anbetracht der hohen Sorgfaltsanforderungen auszugehen ist, aus § 24 Abs. 2 GebrMG zum Schadensersatz verpflichtet.
2. Der Auskünfts- und Rechnungslegungsanspruch ergibt sich aus § 24 b GebrMG sowie aus Gewohnheitsrecht in Verbindung mit §§ 242, 259, 260 BGB, da die Klägerin nicht über die notwendigen Informationen verfügt, die Beklagten dagegen ohne weiteres Auskunft erteilen können.
Soweit die Beklagten beantragt haben, diesbezüglich einen Wirtschaftsprüfervorbehalt auszusprechen, war dem nicht zu entsprechen. Die Beklagten legten insoweit nicht dar, warum dieser Vorbehalt begründet wäre.
3. Der Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte zu 1) auf Rückruf und Vernichtung der angegriffenen Ausführungsformen ergibt sich § 24 a GebrMG.
Soweit die Beklagten beantragt haben, den Rückruf- und Vernichtungsanspruch aus Verhältnismäßigkeitsgründen zu beschränken, war dem nicht zu entsprechen. Die Beweislast für die Unverhältnismäßigkeit trifft die Beklagten; die Beklagten haben diesbezüglich jedoch nicht substantiiert dargelegt, warum ein Rückruf oder die Vernichtung für sie unverhältnismäßig wäre. Auch soweit sie eine Abänderung der angegriffenen Ausführungsformen vorbringen, blieben sie den konkreten Vortrag schuldig, wie eine derartige Abänderung, die keine Verletzung mehr sein soll, durchgeführt werden würde. Daher war im Ergebnis ein unbedingter Rückruf- und Vernichtungsanspruch auszusprechen.
B.
Das Klagegebrauchsmuster ist weder mangels unzureichender Offenbarung, noch mangels Neuheit oder erfinderischer Tätigkeit löschungsreif im Sinne von §§ 13 Abs. 1, 15 Abs. 1 Nr. 1, 1 Abs. 1, 3 GebrMG. Die Klage war daher weder abzuweisen noch war das Verfahren nach § 148 ZPO auszusetzen.
I.
Der Gegenstand des Klagegebrauchsmuster in den geltend gemachten Ansprüchen geht nicht über den Gegenstand der ursprünglichen Anmeldung hinaus, wie von den Beklagten vorgetragen.
Soweit die Beklagten der Ansicht sind, der von der Klägerin im Wege der Klage geltend gemachte Anspruch gehe über den des Klagegebrauchsmusters hinaus, da ein in die Sitzschale eingeklapptes Seitenelement nach dem Klagegebrauchsmuster nicht im Wesentlichen flach anliege, überzeugt dies nicht. Bereits die Auslegung führt zu einem entsprechenden Anspruchsverständnis (vgl. oben), so dass eine unzulässige Erweiterung ausscheidet.
II.
Die vorgelegten Entgegenhaltungen lassen nicht auf fehlende Neuheit schließen.
1. Soweit die Beklagten Druckschriften als neuheitsschädlich anführen, die verstellbare Seitenwangen bzw. Kopfstützen haben (insbesondere …21 und …1), erachtet die Kammer diese nicht als neuheitsschädlich.
Zwar sprechen die diesbezüglichen Druckschriften diesen „side supports“ (D21) bzw. „head guards“ (D1) einen Seitenaufprallschutz zu. Allerdings zeigen insbesondere diese beiden Druckschriften keine „Funktionsstellung“ im Sinne des Klagegebrauchsmusters. Wie im Rahmen der Auslegung ausgeführt, zeichnen sich Ruhe- und Funktionsstellung im Sinne des Klagegebrauchsmusters dadurch aus, dass in der Ruhestellung der Seitenaufprallschutz nicht über die Hüllkurve des Sitzes hinausragt und in Funktionsstellung über die Hüllkurve hinausragt. Demgegenüber befinden sich die Seitenwangen der Entgegenhaltungen quasi immer in Funktionsstellung – denn wenn diese „ausgeklappt“ werden, verbreitern sie geradezu die Hüllkurve des Sitzes. Denn sie bilden kein zusätzliches Bauteil aus, das an der Sitzschale befestigt wird, sondern sind quasi Teil der Sitzschale.
Entsprechend haben die Seitenwangen selbst Kontakt zum im Kindersitz sitzenden Kind. Sie sind daher auch nicht geeignet, etwaige „Seitenkräfte am Körper des Kindes vorbei in die Sitzschale einzuleiten“. Vielmehr schaffen sie eine zusätzliche Knautschzone zwischen Kind und Fahrzeugseitenwand – sie leiten die Kraft aber nicht in eine separate Sitzschale ab.
Im Ergebnis offenbaren die …21 und …1 demnach insbesondere nicht die Merkmale „Ruhe- und Funktionsstellung“ und den gebrauchsmustergemäßen Seitenaufprallschutz, der so positioniert ist, dass er „etwaige Seitenkräfte hinter dem Rücken eines im Kindersitz sitzenden Kindes vorbei überträgt und in die Sitzschale einleitet.
2. Im Ergebnis nimmt damit auch die …4 den Anspruch 1 des Klagegebrauchsmusters nicht neuheitsschädlich vorweg.
Zwar mögen die Figuren 3a – 3e eine Ruhe- und Funktionsstellung offenbaren; denn im eingeklappten Zustand befinden sich die in der Druckschrift offenbarten „energy absorbing members“ innerhalb der Hüllkurve des Sitzes und im ausgeklappten bzw. aufgeblasenen Zustand außerhalb der Hüllkurve:
Allerdings offenbaren diese „energy absorbing members“ ebenfalls nicht den gebrauchsmustergemäßen Aufprallschutz – denn sie sind nicht so konstruiert, dass sie „etwaige Seitenkräfte hinter dem Rücken eines im Kindersitz sitzenden Kindes vorbei übertragen und in die Sitzschale einleiten“. Vielmehr dienen sie als Knautschzone – aus diesem Grund werden sie auch aufgeblasen. Im Übrigen schützen sie im Wesentlichen den benachbarten Fahrgast, wie folgende Figur zeigt:
3. Die übrigen von den Beklagten angeführten Entgegenhaltungen befinden sich noch weiter vom Gegenstand des Klagegebrauchsmusters entfernt. Auch sie nehmen Anspruch 1 nicht neuheitsschädlich vorweg.
4. Soweit die Beklagten anführen, es sei von fehlender Neuheit auszugehen, weil das EPA im Einspruchsverfahren des Stammpatents EP’… davon ausgeht, dass die …21 und …1 den Gegenstand des Anspruchs 1 des EP’… neuheitsschädlich vorwegnehmen, war dem nicht zu folgen.
Zunächst ist das Klagegebrauchsmuster, das ein deutsches Schutzrecht ist, vom Bestand des europäischen Stammpatents EP’… unabhängig. Darum fällt insbesondere auch ins Gewicht, dass das DPMA in seinem Vorabbescheid im Rahmen des Löschungsverfahrens von einer Neuheit und erfinderischen Tätigkeit ausgeht – obwohl ihm die Entgegenhaltungen des Einspruchsverfahrens beim EPA, die …21 und …1, ebenfalls vorlagen.
Es liegen also zwei widersprüchliche Stellungnahmen einer fachkundigen Stelle vor – die Mitteilung der Löschungsabteilung des DPMA, die von Neuheit und erfinderischer Tätigkeit ausgeht, und die Vorabmitteilungen der Einspruchsabteilung des EPA, die von fehlender Neuheit und erfinderischer Tätigkeit ausgeht.
Vor diesem Hintergrund setzt sich zur Überzeugung der Kammer das EPA in seiner Preliminary Opinion nicht ausreichend mit den Merkmalen des Stammpatents auseinander. Es stellt fest, dass den Bezeichnungen „Ruhestellung“ und „Funktionsstellung“ keine technische Bedeutung beigemessen werden kann, außer dass die Seitenelemente von einer engeren Stellung in eine außerhalb derselben gelegenen Stellung (und umgekehrt) bringbar sein müssen. Das EPA übergeht hier vollständig, dass das Stammpatent in diesem Zusammenhang in der Beschreibung auf die „Hüllkurve“ des Sitzes eingeht. Das Stammpatent – und auch das Klagegebrauchsmuster – definieren gerade einen Seitenaufprallschutz, der im ausgeklappten Zustand außerhalb dieser Hüllkurve liegt. Sie definieren keinen Seitenaufprallschutz, der in ausgeklappten Zustand die Hüllkurve erweitert. Patent- bzw. gebrauchsmustergemäß ändert sich die Sitzschale bzw. der Sitzbereich des Kindes durch den Wechsel von der Ruhe – in die Funktionsstellung gerade nicht. Dies ist jedoch bei der …21 und der …1 gerade der Fall (s.o.). Sie dienen im Wesentlichen nämlich dazu, den Sitz mitwachsen zu lassen.
Da die Beklagte für den mangelnden Bestand des Klagegebrauchsmusters die Beweislast trägt und dieser Widerspruch nicht zu Ungunsten des Klagegebrauchsmusters aufzulösen ist, geht die Kammer nicht von einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit der Vernichtung aus.
5. Auch die von den Beklagten geltend gemachte neuheitsschädliche offenkundigen Vorbenutzung im Inland, insbesondere durch den Kindersitz „…“ liegt nicht vor.
Voraussetzung einer jeden Vorbenutzung ist, dass die Benutzung den Erfindungsgedanken erkennbar werden lässt (vgl. Schulte, PatG, § 3 Rn. 20 m.w.N.). Hier ist bereits zu beachten, dass die von den Beklagten vorgebrachten „Gurtstrafferklappen“ ihre Funktion nur in eingeklapptem Zustand erfüllen – sie werden nur zum Einlegen des Gurtes aufgeklappt. Die von den Beklagten behauptete objektive Eignung als Seitenaufprallschutz mit einer Funktionsstellung ist aber nur gegeben, wenn die „Gurtstrafferklappen“ entgegen der Intention nicht eingeklappt werden. Daher lässt diese Benutzung bereits den Erfindungsgedanken des Klagegebrauchsmusters nicht erkennbar werden.
Im Übrigen läge allenfalls eine zufällige Offenbarung vor, da die Lösung durch den entgegengehaltenen Kindersitz die Aufgabe des Klagegebrauchsmusters nur zufällig löst. Diese Lösung – dass die „Gurtstrafferklappen“ möglicherweise auch als Seitenaufprallschutz geeignet sind – ergibt sich für den Fachmann aber erst ex post. Ohne Kenntnis der klagegebrauchsmustermäßigen Lösung hätte der Fachmann der Vorbenutzung keine entsprechende Gebrauchsmöglichkeit entnommen (vgl. Schulte, PatG, § 3 Rn. 110). Auch aus diesem Grund ist die Vorbenutzung nicht neuheitsschädlich.
III.
Die vorgelegten Entgegenhaltungen lassen nicht auf einen fehlenden erfinderischen Schritt schließen.
Soweit die Beklagten diesbezüglich im Wesentlichen vortragen, dass allenfalls der pilz- bzw. tellerförmige Endabschnitt noch nicht im Stand der Technik bekannt gewesen sei, kann dies nicht überzeugen. Wie oben unter Ziff. I. gezeigt, weicht der Stand der Technik in mehreren Punkten von Anspruch 1 des Klagegebrauchsmusters ab. Daher kommt es auf die Überlegungen der Beklagten, diese Dokumente in Kombination mit der WO … und dem allgemeinen Fachwissen legten den pilz- oder tellerförmigen Endabschnitt nahe, im Ergebnis nicht an.
C.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 Satz 1 und 2 ZPO. Die Sicherheitsleistung für Ziffer 1. des Tenors (Unterlassung) war nach § 709 S. 1 ZPO mit 150.000,00 EUR festzusetzen, für die Ziffern 2., 3., 4 mit jeweils 25.000,00 EUR und 5. des Tenors mit 50.000,00 EUR.
Soweit die Beklagten beantragt haben, die Sicherheitsleistung für die Nebenansprüche dem Unterlassungsantrag anzupassen, war dies abzulehnen. Hierbei handelt es sich um gesonderte Ansprüche, die jeweils einen unterschiedlichen wirtschaftlichen Gehalt haben.
Soweit die Beklagten beantragt haben, die vorläufige Vollstreckbarkeit gegen jede Beklagte gesondert anzuordnen, war auch dies abzulehnen. Da die Beklagten gesamtschuldnerisch haften, ist auch nur eine Sicherheit zu leisten.


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