Kosten- und Gebührenrecht

Schwerbehindertenrecht: Anforderungen an den Anordnungsgrund im einstweiligen Rechtsschutz

Aktenzeichen  L 18 SB 151/20 B ER

Datum:
3.12.2020
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 44920
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGG § 86b Abs. 2 S. 2, Abs. 2 S. 4

 

Leitsatz

1. Ein Rechtsschutzbedürfnis für eine einstweilige Anordnung besteht in der Regel jedoch nur, wenn sich der Antragsteller zuvor an die Verwaltung gewandt, dort einen Antrag gestellt hat und die normale Bearbeitungszeit abgewartet hat. (Rn. 13)
2. Im Verfahren nach dem SGV IX sind Anträge auf einstweiligen Rechtsschutz nicht grundsätzlich ausgeschlossen, unterliegen allerdings besonderen Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes. Denn grundsätzlich ist es Antragstellern nach dem SGB IX zuzumuten, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abzuwarten. Das gilt auch, wenn Merkzeichen geltend gemacht werden. (Rn. 16)

Verfahrensgang

S 15 SB 228/20 ER 2020-08-27 Bes SGBAYREUTH SG Bayreuth

Tenor

I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Bayreuth vom 27.08.2020 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

I.
Im vorliegenden Eilverfahren – Beschwerdeverfahren – geht es um die Frage, ob der Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten ist, den Grad der Behinderung (GdB) des Antragstellers und Beschwerdeführers (im Folgenden: Antragsteller) auf 90 zu erhöhen und die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen „G“ und „RF“ festzustellen.
Der 1966 geborene Antragsteller hat am 12.06.2020 (Schreiben vom 08.06.2020) beim Sozialgericht Bayreuth (SG) die Erhöhung seines Grades der Behinderung (GdB) auf 90 und die Zuerkennung der Merkzeichen „RF“ und „G“ im Wege einstweiligen Rechtsschutzes beantragt. Zur Begründung hat er auf eine Verschlimmerung seiner Atemwegserkrankung verwiesen und die Seiten 1 und 13 des Gutachtens des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) vom 29.04.2020 im Auftrag der BARMER GEK zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI vorgelegt. Der Antragsgegner sei mehrfach aufgefordert worden, per Widerspruch den GdB zu erhöhen. Der einstweilige Rechtsschutz sei begründet durch die jahrelange Verschleppung, insgesamt 4 Verfahren seit 2010 – in jedem einzelnen sei jeweils um 10% erhöht worden von 20 auf 30, von 30 auf 40, von 40 auf 50 und von 50 auf 60.
Der Antragsgegner hat vorgetragen (Schreiben vom 23.06.2020), dass weder ein Anordnungsanspruch noch ein Anordnungsgrund offenkundig oder glaubhaft gemacht seien.
Das SG hat die Prozessbevollmächtigte des Antragstellers mit Schreiben vom 24.06.2020 darauf hingewiesen, dass nicht ersichtlich sei, dass sich der Antragsteller mit einem neuen Antrag an den Antragsgegner gewandt hätte.
Mit Beschluss vom 27.08.2020 hat das SG den Antrag des Antragstellers auf Erhöhung des GdB auf 90 und Zuerkennung der Merkzeichen „RF“ und „G“ im Wege einstweiligen Rechtsschutzes abgewiesen. Der Antrag sei bereits unzulässig. Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes müssten die allgemeinen Sachentscheidungsvoraussetzungen vorliegen, d. h. der Sozialrechtsweg, die Beteiligten- und Prozessfähigkeit, das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis u.Ä.. Hier fehle es bereits am allgemeinen Rechtsschutzbedürfnis. Ein Rechtsschutzbedürfnis bestehe nämlich dann nicht, wenn mit einem Sach- oder Leistungsantrag bei der Behörde ein einfacherer Weg zur Verfügung stehe. In solchen Fällen könne das Rechtsschutzbedürfnis nur angenommen werden, wenn der Antragsgegner mit dem Streitgegenstand bereits befasst gewesen sei und bei einer sehr eiligen Sache die Wahrscheinlichkeit sehr gering sei, dass ein förmlicher Antrag rechtzeitig positiv erledigt werde (Lüdtke/Berchtold, SGG, § 86b Rn. 31). Diese Ausnahme liege nicht vor. Weder liege eine sehr eilige Sache vor – so sei auch von Seiten des Antragstellers mehrfach Fristverlängerung beantragt worden – noch sei der Antragsgegner bereits konkret mit diesem Streitgegenstand befasst gewesen. Zwar seien schon mehrfach Feststellungen nach dem Schwerbehindertenrecht getroffen worden, jedoch liege die letzte Feststellung schon mehrere Jahre zurück. Es gehöre zum Wesen des Verschlimmerungsantrages, dass sich damit auch der Streitgegenstand ändern könne.
Nur ergänzend weise das SG darauf hin, dass der Antrag auch unter keinem Gesichtspunkt begründet sei. Voraussetzung für den Erlass einer Regelungsanordnung sei gemäß § 86b Abs. 2 S. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) die Glaubhaftmachung sowohl eines Anordnungsgrundes (die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile) als auch eines Anordnungsanspruchs (die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Hauptsache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs). Gemessen hieran seien weder Anordnungsanspruch noch Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Ein fehlender Krankenversicherungsschutz könne für dieses Verfahren keine Eilbedürftigkeit begründen, da die Feststellung nach dem SGB IX keinerlei Auswirkung auf den Versicherungsschutz nach dem Fünften Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) habe. Die Tatsache, dass der Antragsgegner auf die jeweiligen Verschlimmerungsanträge hin neue Bescheide erlassen habe, sei der Ausgestaltung des § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) geschuldet und keine Verfahrensverschleppung. Ebenso wenig bestehe ein Anordnungsanspruch. Es existiere kein Verwaltungsakt, der mittels Anfechtungs- und Verpflichtungsklage Gegenstand eines Hauptsacheverfahrens sein könnte. Von der hinreichenden Wahrscheinlichkeit eines in der Hauptsache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs könne also keine Rede sein. Die vorgelegte Seite des MDK-Gutachtens könne im Übrigen das Begehren des Antragstellers in keiner Weise stützen. Die ermittelten gewichteten fünf Punkte in der Pflegeversicherung lägen weder einen GdB von 90 nahe noch das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für eine Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht oder für eine erhebliche Gehbehinderung.
Der Beschluss des SG vom 27.08.2020 ist der Prozessbevollmächtigten des Antragstellers am 01.09.2020 zugestellt worden. Hiergegen hat die Prozessbevollmächtigte für den Antragsteller am 01.10.2020 Beschwerde zum Bayer. Landessozialgericht (LSG) eingelegt. Eine Begründung der Beschwerde ist dem Senat trotz mehrfacher gerichtlicher Erinnerungen nicht übermittelt worden.
Der Antragsteller beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Bayreuth vom 27.08.2020 aufzuheben und den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den GdB auf 90 zu erhöhen und die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen „RF“ und „G“ festzustellen.
Der Antragsgegner beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Der Senat hat die Akte des Antragsgegners sowie die Akte des SG mit dem Az. S 15 SB 228/20 ER zum Verfahren beigezogen. Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der beigezogenen Akte und der Gerichtsakten beider Instanzen verwiesen.
II.
Die Beschwerde des Antragstellers ist gemäß § 172 Abs. 1 SGG statthaft und auch im Übrigen zulässig (§ 173 SGG). Die Beschwerde ist insbesondere nicht nach § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG ausgeschlossen. Dies wäre bei einer Beschwerde im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes dann der Fall, wenn in der Hauptsache die Berufung nicht zulässig wäre. Eine auf Höherbewertung des GdB und Zuerkennung der Merkzeichen „RF“ und „G“ gerichtete Berufung wäre aber nicht (nach § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG) ausgeschlossen.
Die Beschwerde ist jedoch unbegründet. Denn der Eilantrag des Antragstellers ist wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses bereits unzulässig. Darüber hinaus hat der Antragsteller weder einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht noch die besonderen Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes erfüllt. Der Senat weist die Beschwerde aus den Gründen des angefochtenen Beschlusses des SG zurück und nimmt zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen gemäß § 142 Abs. 2 S. 3 SGG Bezug auf diese Gründe, die auch der Überzeugung des Senats entsprechen Lediglich ergänzend weist der Senat auf Folgendes hin:
Ein Rechtsschutzbedürfnis ist zwar grundsätzlich gegeben, wenn die gerichtliche Eilentscheidung dem Antragsteller einen tatsächlichen oder rechtlichen Vorteil bringt und er sein Begehren nicht auf einfachere, schnellere und billigere Art durchsetzen kann, so dass gerichtlicher Rechtsschutz nicht erforderlich wäre (vgl. Krodel/Feldbaum, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, 4. Aufl. 2016, Rn. 24, 29; Beschluss des Senats vom 24.05.2017 – L 18 SO 110/17 B ER). Ein Rechtsschutzbedürfnis für eine einstweilige Anordnung besteht in der Regel jedoch nur, wenn sich der Antragsteller zuvor an die Verwaltung gewandt, dort einen Antrag gestellt hat und die normale Bearbeitungszeit abgewartet hat (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 14.03.2018 – 1 BvR 300/18, Orientierungssatz 2, Rn. 10, zitiert nach juris; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 30.10.2009 – 1 BvR 2242/09, Orientierungssatz 1, Rn. 3 m.w.N., zitiert nach juris; BayLSG, Beschluss vom 14.06.2016 – L 15 SB 97/16 B ER, juris Rn. 13; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 24.01.2012 – L 12 AS 1773/11 B ER, juris Rn. 18; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.04.2018 – L 23 AY 6/18 B ER, juris Rn. 8; Krodel/Feldbaum, a.a.O., Rn. 30; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 86b Rn. 26b m.w.N.). Ausnahmsweise kann bereits ohne Antragstellung ein Rechtsschutzbedürfnis bestehen, wenn die Sache sehr eilig ist und der Antragsteller aus besonderen Gründen mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen kann, bei der Verwaltung kein Gehör zu finden (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 21.07.2020 – L 7 AS 1014/20 B ER, Orientierungssatz 3, Rn. 11, zitiert nach juris; Keller a.a.O.).
Im vorliegenden Fall wurden vom Antragsgegner schon mehrfach Feststellungen nach dem Schwerbehindertenrecht getroffen. Der Akte des Antragsgegners ist jedoch zu entnehmen, dass der Antragsteller letztmals am 17.12.2014 über den VdK einen Antrag auf Feststellung nach dem SGB IX gestellt hat und beim Antragsteller im Wege einer Abhilfe im Widerspruchsbescheid vom 18.02.2020 ein GdB von 60 festgestellt worden ist. Somit hat sich der Antragsteller vor seinem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz am 12.06.2020 mit seinem Begehren nicht an den Antragsgegner gewandt. Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller bei dem Antragsgegner mit großer Wahrscheinlichkeit kein Gehör gefunden hätte, sind nicht gegeben. Von einer Verfahrensverschleppung – worauf der Antragsteller abstellt – kann nicht die Rede sein. Somit ist der Eilantrag wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses bereits unzulässig.
Der Antragsteller hat auch nicht die besonderen Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes – wie es bei einem Eilverfahren nach dem SGB IX Voraussetzung ist – erfüllt. Im Verfahren nach dem SGB IX sind Anträge auf einstweiligen Rechtsschutz nicht grundsätzlich ausgeschlossen, unterliegen allerdings besonderen Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes. Denn grundsätzlich ist es gerade Antragstellern nach dem SGB IX zuzumuten, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abzuwarten. Das gilt auch, wenn Merkzeichen geltend gemacht werden. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung kommt allenfalls dann in Betracht, wenn über die bloße Beschleunigung hinaus eine besondere Härte vorliegt (BayLSG, Beschlüsse vom 14.06.2016, a.a.O., juris Rn. 12; vom 10.03.2009 – L 15 SB 35/09 B ER -, juris Rn. 12 und vom 12.03.2009 – L 15 SB 30/09 ER, juris Rn. 12; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 23.11.2012 – L 8 SB 3897/12 ER – B, juris Rn. 45; vgl. auch LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 21.09.2015 – L 7 SB 48/14 B ER, Leitsatz Ziffer 1 und Rn. 23, zitiert nach juris). Eine solche besondere Härte kann nur in ganz eng begrenzten Ausnahmefällen (vgl. auch Dau in: Juris PR-SozR 1/2011) angenommen werden, z.B. dann, wenn der Antragsteller Gefahr läuft, sein verfassungsrechtlich verbürgtes Existenzminimum nicht mehr sichern zu können (vgl. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 23.11.2012, a.a.O.; Beschlüsse des BayLSG vom 10.03.2009, a.a.O., und vom 12.03.2009, a.a.O.; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 21.09.2015, a.a.O.).
Im vorliegenden Fall liegt eine besondere Härte, die einen Ausnahmefall begründen könnte, nicht vor. Es ist schon nicht ansatzweise ersichtlich, welche schwerwiegenden Nachteile dem Antragsteller drohen würden, wenn seinem Begehren auf Feststellung eines höheren GdB, nämlich Erhöhung auf einen GdB von 90, sowie auf Zuerkennung der Merkzeichen „RF“ und „G“ nicht sofort entsprochen wird. Eine besondere Härte bzw. existentielle Notlage ist weder vom Antragsteller vorgetragen worden (die Beschwerde ist trotz mehrfacher Erinnerungen nicht begründet worden) noch den Akten zu entnehmen. Soweit das SG auf einen Vortrag des Antragstellers Bezug nimmt, wonach sich die Eilbedürftigkeit aus einer fehlenden Krankenversicherung ergebe, ist den Akten ein solcher Vortrag des Antragstellers nicht zu entnehmen. Im Übrigen hat die Feststellung nach dem SGB IX keine Auswirkung auf den Versicherungsschutz nach dem SGB V. Vor diesem Hintergrund ist es dem Antragsteller zuzumuten, dass die Klärung der von ihm geltend gemachten Ansprüche einer Entscheidung in der Hauptsache vorbehalten bleibt, sofern er einen entsprechenden Antrag an den Antragsgegner stellt.
Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die Beschwerde zurückzuweisen war.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).


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