Kosten- und Gebührenrecht

Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs bei einer nicht wirksamen Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung

Aktenzeichen  11 ZB 21.1166

Datum:
7.1.2022
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 207
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
GG Art. 103 Abs. 1
VwGO § 56 Abs. 1, Abs. 2, § 102 Abs. 1 S. 1, § 108 Abs. 2, § 124 Abs. 2 Nr. 5, § 166 Abs. 1 S. 1
ZPO § 114 Abs. 1 S. 1, § 121 Abs. 1, § 178 Nr. 3, § 181

 

Leitsatz

1. Das Gebot des rechtlichen Gehörs ist verletzt, wenn das Gericht in Abwesenheit eines Beteiligten mündlich verhandelt, obwohl dieser zu dem Verhandlungstermin nicht ordnungsgemäß geladen wurde, und führt ohne Weiteres zur Zulassung der Berufung (vgl. BVerwG BeckRS 2004, 2596; BeckRS 2008, 39703; BeckRS 2003, 30308946; BeckRS 1999, 30087760; OVG Berlin-Brandenburg BeckRS 9998, 94388). (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Beweiskraft der Zustellungsurkunde beschränkt sich auf den Einwurf in den Briefkasten, hier den Gemeinschaftsbriefkasten. Der Zustellungsempfänger muss daher im Falle der Wohnungsaufgabe insoweit keinen qualifizierten Gegenbeweis gem. § 418 Abs. 2 ZPO erbringen (VGH München BeckRS 2021, 2782). (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 6 K 20.683 2020-11-30 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

Der Klägerin wird für einen noch zu stellenden Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 30. November 2020 Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt …, bewilligt.

Gründe

I.
Die Klägerin ist Inhaberin einer Fahrerlaubnis der Klassen A (44.06), A1 (44.06), B (42), C1 (42, 171), C1E (42), L (175, 174, 42) und M (44.06) und begehrt Prozesskostenhilfe für den beabsichtigten Antrag auf Zulassung der Berufung, die eine Klage gegen eine Entziehung der Fahrerlaubnis zum Gegenstand hat.
Nachdem die Klägerin ein negatives Fahreignungsgutachten einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung vom 7. November 2018 vorgelegt hatte, entzog ihr die Beklagte mit Bescheid vom 21. März 2019 die Fahrerlaubnis. Während des anschließenden vorläufigen Rechtsschutzverfahrens beim Verwaltungsgericht München hob die Beklagte den Entziehungsbescheid mit Bescheid vom 28. Mai 2019 wieder auf.
Mit Schreiben vom 7. Juni 2019 ordnete sie erneut eine Begutachtung der Klägerin durch einen (Fach-)Arzt einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung an.
Mit Schreiben vom 14. Juni und 15. Juli 2019 teilte der damalige Bevollmächtigte der Klägerin der Beklagten mit, nach den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung sei bei den verfahrensgegenständlichen psychischen Krankheiten ausdrücklich eine Begutachtung bzw. erforderliche Nachuntersuchung durch einen Facharzt für Psychiatrie durchzuführen. Die Klägerin werde sich folglich nicht von einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung untersuchen lassen, wenn nicht die Beklagte bestätige, dass die Begutachtung durch einen Facharzt für Psychiatrie bei einer der angeführten Begutachtungsstellen durchgeführt werde und eine geeignete Stelle benenne.
Ein Gutachten legte die Klägerin in der Folge nicht vor. Am 19. Dezember 2019 zog sie aus dem Zuständigkeitsbereich der Beklagten in den Landkreis München (H. Str., …) fort.
Mit Bescheid vom 16. Januar 2020 entzog ihr die Beklagte die Fahrerlaubnis und forderte sie unter Androhung eines Zwangsgelds auf, den Führerschein spätestens innerhalb von einer Woche nach Zustellung des Bescheids abzugeben. Ferner ordnete sie die sofortige Vollziehung dieser Verfügungen an.
Hiergegen erhob die Klägerin Klage zum Verwaltungsgericht München. Sie machte geltend, die Beklagte sei nicht mehr örtlich zuständig. Ihr Anwalt habe keine Zeit mehr für ihren Fall und sie selbst kein Geld, um einen anderen Anwalt zu beauftragen. Da ihr Anwalt ihr dazu geraten habe, könne ihr die Nichtvorlage des Gutachtens nicht zum Vorwurf gemacht werden. Nachdem das Verwaltungsgericht der Ansicht ihres Anwalts gefolgt sei und das Verfahren eingestellt habe, habe die erneute Beibringungsaufforderung eine gewisse Verwirrung ausgelöst, da wiederum kein Facharzt die Untersuchung habe vornehmen sollen. Sie lasse sich jederzeit von einem Psychiater begutachten. Sie sei seit Jahren im Verkehr nicht mehr auffällig geworden, sei ganz sicher krankheitseinsichtig, lebe in einer entsprechenden Wohngemeinschaft und nehme ihre Medikamente regelmäßig ein. Ihr Führerschein habe sie bis heute ca. 20.000 bis 30.000,- EUR gekostet. Sie könne die Vorgehensweise der Beklagten nicht nachvollziehen. Ihr Führerschein sei bei dem Umzug abhandengekommen.
Mit Schreiben vom 20. April 2020 stimmte das Landratsamt München der Fortführung des Verwaltungsverfahrens durch die Beklagte zu.
Mit Beschluss vom 20. Mai 2020 bestellte das Amtsgericht München einen Betreuer für die Klägerin u.a. mit dem Aufgabenkreis „Vertretung gegenüber Behörden, Versicherungen, Renten und Sozialleistungsträgern“.
Mit gerichtlichem Schreiben vom 4. November 2020 wurde die Klägerin zur mündlichen Verhandlung am 30. November 2020 geladen. Das Ladungsschreiben wurde ihr gegen Postzustellungsurkunde vom 13. November 2020 unter der Anschrift „H.Str., …“ durch Niederlegung bei der Post zugestellt. In dem am 11. November 2020 ausgestellten Betreuerausweis des Betreuers der Klägerin ist als Wohnanschrift „W. Straße, …“ angegeben.
Zur mündlichen Verhandlung am 30. November 2020 erschien die Klägerin nicht. Das Verwaltungsgericht wies die Klage mit Urteil vom selben Tag, das ihrem Betreuer am 1. April 2021 und ihr persönlich am 9. April 2021 zugestellt wurde, ab. Zur Begründung ist ausgeführt, die gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis und die Ablieferungspflicht gerichtete Klage sei zulässig, jedoch unbegründet. Die Beklagte habe mit Zustimmung der nunmehr zuständigen Fahrerlaubnisbehörde das Verwaltungsverfahren gemäß Art. 3 Abs. 3 BayVwVfG fortführen dürfen. Die Beklagte habe nach § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV auf die fehlende Fahreignung der Klägerin schließen dürfen, nachdem sie kein Eignungsgutachten vorgelegt habe. Die Gutachtensanordnung sei rechtmäßig gewesen. Insbesondere sei nicht zu beanstanden, dass die Beklagte die fachärztliche Feststellung einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis als Tatsache erachtet habe, die Bedenken gegen die Fahreignung begründe, und ein (fach-) ärztliches Gutachten einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung (§ 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 5 FeV) gefordert habe. Gemäß § 11 Abs. 2 Satz 3 FeV lege die Behörde fest, von welcher der in den Nummern 1 bis 5 genannten Gutachtern das Gutachten erstellt werden solle. Dabei könne sie die grundsätzlich freie Wahl der Untersuchungs-/Begutachtungsstellen durch den Betroffenen einschränken, wenn nur bestimmte Untersuchungsstellen oder Ärzte die erforderlichen Voraussetzungen erfüllten. Werde dagegen die Auswahl ohne ersichtlichen Grund eingeschränkt, könne nicht automatisch auf die Nichteignung geschlossen werden. Die Beklagte habe ihr Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt und unter Bezugnahme auf die obergerichtliche Rechtsprechung begründet, weshalb sie abweichend von den Begutachtungsleitlinien eine Begutachtung nicht durch einen Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie mit verkehrsmedizinischer Qualifikation, sondern einen Arzt einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung fordere. Dabei habe sie auf den konkreten Einzelfall bezogen ausführlich aufgezeigt, dass und inwieweit die bislang vorliegenden fachärztlichen Stellungnahmen und Gutachten jedenfalls teilweise gerade nicht den Anforderungen entsprochen hätten, und ausgeführt, dass erforderlichenfalls spezielle fachärztliche Fragen durch Einholung von Vor- und/oder Fremdbefunden beantwortet werden könnten.
Mit Schreiben vom 9. April 2021 beantragte die Klägerin unter Beifügung einer Erklärung über ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sinngemäß Prozesskostenhilfe sowie Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und legte „Berufung“ gegen das erstinstanzliche Urteil ein. Zur Begründung trug sie vor, sie wohne seit 10. August 2020 in der W. Str. … … Eine Ladung zum Termin sei ihr nie zugestellt worden. Sie habe erst am 9. April 2021 unter der richtigen Anschrift das Urteil erhalten. Das Gericht habe eine falsche Adresse gehabt. Da sie nie etwas von einem Termin noch von einem Urteil gewusst habe, sei die Sache so zu behandeln, als hätte nie ein Termin stattgefunden. Ihr sei auch eine Beibringungsanordnung nicht bekannt gewesen. Vielleicht liege hier eine Säumnis des ehemaligen Bevollmächtigten vor, was diesem nicht zur Last gelegt werden könne. Sie werde zur genaueren Begründung der Berufung eventuell einen Anwalt Stellung nehmen lassen. Da ihre Mittel jedoch sehr beschränkt seien, reiche sie vorab diesen Schriftsatz ein. Der beigefügten Meldebestätigung und dem Mietvertrag ist zu entnehmen, dass der Einzug in die gegenwärtige Wohnung am 5. August 2020 stattgefunden hat.
Mit Schreiben vom 5. Oktober 2021 beantragte der Prozessbevollmächtigte seine Beiordnung.
Wegen des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der im Interesse der Klägerin zweckgerecht (§§ 88, 122 Abs. 1 VwGO) als Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für einen beabsichtigten Antrag auf Zulassung der Berufung auszulegende Antrag vom 9. April 2021 hat Erfolg.
Nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht oder nur eingeschränkt aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
Die Klägerin hat belegt, dass sie nicht in der Lage ist, die Prozesskosten zu tragen.
Der beabsichtigte Antrag auf Zulassung der Berufung bietet auch hinreichende Aussicht auf Erfolg. Dies ist der Fall, wenn ein Prozesserfolg mit gewisser Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, d.h. wenn bei summarischer Überprüfung ein Obsiegen ebenso wahrscheinlich ist wie ein Unterliegen (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 166 Rn. 26).
Die Klägerin rügt, dass sie nicht ordnungsgemäß geladen worden sei und aus diesem Grund im Termin zur mündlichen Verhandlung nicht habe erscheinen können. Eine mündliche Verhandlung ohne wirksam zugestellte Ladung stellt einen Verfahrensmangel im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO dar. Das Gebot des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) gibt einem Prozessbeteiligten das Recht, alles aus seiner Sicht Wesentliche vorzutragen, und verpflichtet das Gericht, dieses Vorbringen zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Es ist verletzt, wenn das Gericht in Abwesenheit eines Beteiligten mündlich verhandelt, obwohl dieser zu dem Verhandlungstermin nicht ordnungsgemäß geladen wurde, und führt ohne weiteres zur Zulassung der Berufung (vgl. BVerwG, B.v. 25.1.2005 – 7 B 93.04 – juris Rn. 3; U.v. 15.9.2008 – 1 C 12.08 – NVwZ 2009, 59 = juris Rn. 11; U.v. 26.2.2003 – 8 C 1.02 – NVwZ 2003, 1129/1130 = juris Rn. 18 ff.; U.v. 16.12.1999 – 4 CN 9.98 – NVwZ 2000, 810/813 = juris Rn. 27; B.v. 17.10.1983 – 6 C 84.82 – Buchholz 310 § 138 Ziff 3 VwGO Nr. 37 = juris Rn. 10 ff.; OVG Bln-Bbg, B.v. 21.3.2011 – 6 N 6/11 – juris Rn. 5; Neumann/Korbmacher in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 138 Rn. 152 m.w.N.; Eichberger/Buchheister in Schoch/Schneider, VwGO, Stand Juli 2021, § 138 Rn. 102).
Nach § 56 Abs. 1 und 2 VwGO ist den Beteiligten die Ladung zur mündlichen Verhandlung (§ 102 Abs. 1 Satz 1 VwGO) nach den Vorschriften der Zivilprozessordnung (ZPO) zuzustellen. Vorliegend ist die Ladung im Wege der Ersatzzustellung durch Niederlegung gemäß § 181 ZPO zugestellt worden, da eine Zustellung nach § 178 Abs. 1 Nr. 3 ZPO (in Gemeinschaftseinrichtungen Übergabe an dessen Leiter oder einen dazu ermächtigten Vertreter) oder § 180 ZPO (Ersatzzustellung durch Einlegen in den zur Wohnung oder zum Geschäftsraum gehörigen Briefkasten) nach der Postzustellungsurkunde vom 13. November 2020 nicht ausführbar war (§ 181 Satz 1 ZPO). Ob die Ladung auf diese Weise wirksam bewirkt werden konnte, ist fraglich und im Berufungsverfahren unter Berücksichtigung des hierzu gebotenen Vorbringens des Prozessbevollmächtigten der Klägerin zu klären. Die Klägerin hat zum Zeitpunkt der Zustellung schon seit längerem nicht mehr unter der Ladungsanschrift gewohnt. Die Wohnungsaufgabe ist durch die – allerdings erst nach Abschluss des Verfahrens – vorgelegte Meldebestätigung und den Mietvertrag über die Wohnung unter der aktuellen Anschrift belegt. Die Beweiskraft der Zustellungsurkunde erstreckt sich nicht darauf, dass der Zustellungsempfänger auch tatsächlich im Zeitpunkt der Zustellung unter der angegebenen Anschrift gewohnt hat (vgl. BayVGH, B.v. 12.2.2021 – 11 CS 20.2953 – juris Rn. 26). Eine dahingehende Prüfung ist nicht Aufgabe des Zustellers. Auch wenn die entsprechende Bestätigung des Zustellers als Beweisanzeichen für das Innehaben der Wohnung gewertet werden kann, beschränkt sich die Beweiskraft der Zustellungsurkunde auf den Einwurf in den Briefkasten, hier den Gemeinschaftsbriefkasten. Der Zustellungsempfänger muss daher im Falle der Wohnungsaufgabe insoweit keinen qualifizierten Gegenbeweis gemäß § 418 Abs. 2 ZPO erbringen (BayVGH, a.a.O. m.w.N.).
Nachdem der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe erfolgreich und eine Vertretung durch Anwälte vorgeschrieben ist, war der Klägerin gemäß § 121 Abs. 1 ZPO auch ein zur Vertretung bereiter Rechtsanwalt ihrer Wahl beizuordnen.
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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