Medizinrecht

Abänderungsbeschluss wegen nachträglicher Änderung der Sachlage – Ärztliches Attest

Aktenzeichen  M 5 S7 16.32584

Datum:
31.8.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 80 Abs. 7
AufenthG AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1, Abs. 2c

 

Leitsatz

Veränderte bzw. im Hauptsacheverfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachte Umstände nach § 80 Abs. 7 VwGO, die ein rechtliches Abschiebungshindernis begründen, können durch ein neues ärztliches Attest vorliegen, welches eine konkrete Gefahr für Leib und Leben bei einer Beendigung des Aufenthalts benennt. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts München vom 19. April 2016 (M 5 S 16.30526) wird die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin
(M 5 K 16.30525) gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid der Antragsgegnerin vom 17. Februar 2016 angeordnet.
II.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Wegen der Sachverhaltsdarstellung wird zunächst auf den zwischen denselben Beteiligten ergangenen Beschluss des zuständigen Einzelrichters der erkennenden Kammer vom 19. April 2016 (M 5 S 16.30526) verwiesen, mit dem der Antrag der Antragstellerin nach § 80 Abs. 5 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der erhobenen Klage abgelehnt wurde. Ein am 29. Juli 2016 gestellter Abänderungsantrag unter Bezugnahme auf eine Stellungnahme der Stadt I… – Gesundheitsamt – vom 17. Juni 2016 wurde mit Beschluss vom 3. August 2016 abgelehnt (M 5 S7 16.31903).
Am 27. August 2016 beantragte die Antragstellerin erneut
die Abänderung nach § 80 Abs. 7 VwGO.
Ausweislich des im Klageverfahren vorgelegten ärztlichen Attests des …Klinikums, M.-Ost, vom 4. Juli 2016 bestehe nicht nur ein inländisches Vollstreckungshindernis, sondern auch ein zielstaatsbezogenes Vollstreckungshindernis.
Das in Bezug genommene ärztliche Attest des …Klinikums M.-Ost, vom 4. Juli 2016 enthält in der abschließenden Beurteilung unter anderem folgende Ausführungen:
„… Durch eine Abschiebung käme es nicht nur zu einer erheblichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes, auch wäre der Therapieerfolg hinfällig, die bisher durchgeführte Behandlung zunichte gemacht. Eine sinnvolle Behandlung wäre im Kosovo durch eine Retraumatisierung durch das vorherrschende Bedrohungsgefühl nicht mehr möglich. Im Erleben der Patientin käme eine Abschiebung einem Todesurteil gleich. Das Gefühl der Bedrohung des eigenen Lebens und ihrer Angehörigen durch die Familie ihres Partners erlebe sie als so real und unmittelbar, dass es von ihr nicht zu tolerieren sei und sie für sich im Falle einer Abschiebung als Ausweg nur den Weg in den Freitod sehe. Eine akute Suizidalität wäre daher im Rahmen einer Abschiebung mindestens nicht mehr auszuschließen, wenn nicht sogar eine sehr wahrscheinliche Möglichkeit. Ein erweiterter Suizid, mindestens das Kind betreffend, wäre nicht mehr auszuschließen. In Anbetracht der oben genannten Symptomatik und des aktuellen psychopathologischen Befundes sowie der anzunehmenden wesentlichen Verschlechterung des psychischen Gesundheitszustandes ist von einer Abschiebung aus medizinischer Sicht dringend abzuraten…“
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- und der vorgelegten Behördenakten Bezug genommen (§ 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO analog).
II.
Der Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO auf Abänderung des Beschlusses vom 19. April 2016 (M 5 S 16.30526) hat Erfolg.
1. Gemäß § 80 Abs. 7 VwGO kann das Gericht der Hauptsache jederzeit, d. h. ohne Bindung an Fristen, von Amts wegen oder – wie hier – auf Antrag eines Beteiligten einen Beschluss über einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände ändern oder aufheben.
2. Eine in diesem Sinne beachtliche Änderung der Sachlage ergibt sich aus dem bislang nicht berücksichtigten ärztlichen Attest des …Klinikums, M.-Ost, vom 4. Juli 2016. Dieses Attest erfüllt die Voraussetzungen einer qualifizierten ärztlichen Bescheinigung im Sinne des § 60a Abs. 2c Aufenthaltsgesetz (AufenthG), die die gesetzliche Vermutung der Reisefähigkeit der Antragstellerin widerlegt.
a) Nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers
solange auszusetzen, wie sie aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist. Ein rechtliches Abschiebungshindernis liegt vor, wenn durch die Beendigung des Aufenthalts eine konkrete Leibes- oder Lebensgefahr zu befürchten ist, so dass die Abschiebungsmaßnahme wegen des nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgten grundrechtlichen Schutzes auszusetzen ist. Erforderlich ist dabei, dass infolge der Abschiebung als solcher (unabhängig vom konkreten Zielstaat) eine wesentliche Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes für den betroffenen Ausländer konkret droht (Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: Februar 2016, A1 § 60a, Rn. 57 ff.). In Betracht kommen damit nur inlands- und nicht zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote (vgl. zum ganzen BayVGH, B.v. 31.5.2016 – 10 CE 16.838 – juris, Rn. 7).
b) Aufgrund des ärztlichen Attests des … Klinikums, M.-Ost,
vom 4. Juli 2016 muss davon ausgegangen werden, dass vorliegend durch die Beendigung des Aufenthalts eine konkrete Leibes- oder Lebensgefahr der Antragstellerin im vorgenannten Sinne zu befürchten ist.
Wie bereits im Beschluss vom 19. April 2016 ausgeführt, bestehen aufgrund der vorgelegten ärztlichen Atteste für das Gericht keine Zweifel am Vorliegen einer psychischen Erkrankung der Antragstellerin. Nach dem nunmehr in Bezug genommenen weiteren ärztlichen Attest vom 4. Juli 2016 müsse im Fall einer Abschiebung von einer sehr wahrscheinlichen Möglichkeit eines Freitodes der Antragstellerin als Reaktion hierauf gerechnet werden.
3. Es wird darauf hingewiesen, dass die vorliegende Entscheidung jederzeit aufgehoben werden kann, wenn die Antragstellerin die ausweislich des ärztlichen Attests vom 4. Juli 2016 medizinisch für erforderlich gehaltene stationäre Behandlung zur medikamentösen Einstellung mit fachlicher Betreuung und therapeutischen Gesprächen zu ihrer Stabilisierung nicht durchführt.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.


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