Aktenzeichen L 5 KR 504/15
Leitsatz
Die HFNC-Beatmung Frühgeborener unter 1.500 gr ist als künstliche Beatmung iSd DKR (2009) 1001h zu kodieren und abzurechnen. (Rn. 38)
Verfahrensgang
S 2 KR 1501/13 2015-10-01 Urt SGMUENCHEN SG München
Tenor
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 01.10.2015 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte trägt die Kosten auch der Berufung.
III. Der Streitwert der Berufung wird auf 9.150,41 € festgesetzt.
IV. Die Revision wird zugelassen
Gründe
Die form- und fristgerecht eingelegte, statthafte Berufung ist zulässig (§§ 143, 151 SGG), aber unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht der Klägerin einen weiteren Vergütungsanspruch iHv 9.150,41 € nebst Zinsen zugesprochen, weil aus der Behandlung des frühgeborenen auch die Zeit bis 1.1.2010, 9:00 Uhr, also weitere 33,5 h als Beatmungszeit anzuerkennen sind.
1. Rechtsgrundlage des strittigen weiteren Vergütungsanspruchs ist § 109 Abs. 4 S. 3 SGB V iVm den weiteren gesetzlichen und untergesetzlichen Normen zur Vergütungshöhe (st. Rspr., vgl. BSG, 19.2.2017 – B 1 KR 18/17 R, Rn. 12). Das setzt voraus, dass die Behandlung des mit der Geburt bei der Beklagten familienversicherten (§ 10 SGB V) iSd § 39 Abs. 1 S. 2 SGB V erforderlich und wirtschaftlich war. Dies ist vorliegend der Fall, was die Beklagtenakten sowie die gesamte medizinische Dokumentation belegen. Zwischen den Beteiligten ist zudem nicht streitig, dass die Klägerin aufgrund stationärer Behandlungen Anspruch auf die in Anwendung der einschlägigen DRG zutreffend festzusetzende Vergütung hat. Damit erübrigten sich insoweit nähere Rechtsgrundlagenlistungen, Prüfungen und Sachaufklärungsmaßnahmen (vgl. zur Zulässigkeit dieses Vorgehens z.B. BSG, Urt. vom 21.4.2015 – B 1 KR 8/15 R; BSG SozR 4-2500 § 129 Nr. 7 Rn. 10; BSG SozR 4-2500 § 130 Nr. 2 Rn. 15; BSG SozR 4-5562 § 9 Nr. 4 Rn. 8 – zitiert jeweils nach Juris); zudem ist dieses bündige Vorgehen geboten gem. §§ 128 Abs. 1 S. 2, 202 SGG iVm 313 Abs. 3 ZPO, § 202 SGG (BSG, 10.8.1995 – 11 RAr 91/94, BeckRS 1995, 30756157 und 3.5.2010 – B 8 SO 50/09 B, BeckRS BeckRS 2010, 69617, Rn. 6 unter Zitat von BVerfGE 83, 24, 35; 86, 133, 145 f; 96, 205, 216 f sowie mwN).
2. Streitentscheidend ist die Qualifizierung und DRG-Zuordnung der Kodierung der HFNC-Beatmung des vom 30.12.2009, 23:59 Uhr bis 1.1.2010, 9:00 Uhr über infolge Überschreitens einer vollen Stundenzahl eine Zeitdauer von 33,5 h (zur Vorgehensweise bei der Vergütungsbemessung und DRG-Zuordnung ausführlich BSG, 26.9.2017 – B 1 KR 9717 R). Dazu ist in Auswertung der medizinischen Dokumentation festzustellen was folgt:
C. ist vorzeitig in der 33. Schwangerschaftswoche zur Welt gekommen. Sein Geburtsgewicht von 1.335 Gramm hatte in seinen ersten Lebenstagen nicht wesentlich zugenommen. Er bedurfte der Behandlung und Pflege in einer Intensivstation für Frühgeborene. wies eine (noch) nicht entwickelte Lunge auf und bedurfte der Atemunterstützung mittels Beatmungsmaschine/-gerät.
Kurz nach der Geburt wurde deshalb an ein Beatmungsgerät angeschlossen. Dieses erzeugte ein für Frühgeborene spezifisch angereichertes sowie angewärmtes und angefeuchtete Atemgas. Zugleich produzierte dieses Gerät einen spezifisch für eingestellten Beatmungsdruck. Dieses Gerät wurde sowohl in der unstreitig vergüteten Zeit, als auch im hier strittigen Zeitraum eingesetzt. Der auf dieses Gerät bezogene pflegerische Aufwand unterschied sich in der vergüteten Zeit nicht von der strittigen Zeit.
An dieses Beatmungsgerät wurde zunächst im Wege eines Tubus angeschlossen. Dieser Beatmungsendschlauch wurde in seinen Rachen eingebracht, nicht aber in seine Luftröhre. Sodann kam zur gebotenen Minimierung der intubationsspezifischen Infektionsgefahr als Anschluss an die Beatmungsmaschine vom 28.12.2009 0:15 Uhr bis 30.12.2009 23:59 Uhr eine Atemmaske zum Einsatz. Daran anschließend wurde bis 1.1.2010, 9:00 Uhr mit Hilfe einer HFNC-Nasenkanüle über Brille angeschlossen. In Anwendung der oben erwähnten Tabelle wurde dazu für ausgehend von seinem Gewicht ein Beatmungsdruck von 4,5 bis 4,8 cm Wassersäule angewandt.
Sodann folgte eine Low-Flow-Beatmung vom 1.1.2010 bis 3.1.2010. wurde bis 26.1.2010 auf der Neugeborenen-Intensivstation, ab 26.1.2010 auf der Neugeborenen-Station und ab 25.2.2010 auf der Kinderstation behandelt.
Auf diese gesamte, erforderliche, wirtschaftliche, notwendige Behandlung durch die Klägerin hatte einen Sachleistungsanspruch, die tatbestandlichen Voraussetzungen gem. §§ 27 Abs. 1 S. 1 Nr. 5, 39, 109, 12 Abs. 1, 2 Abs. 1 SGB V sind erfüllt, was auch zwischen den Beteiligten nicht strittig ist.
3. Die Beatmung des ist zutreffend im Fallpauschalen-Katalog der anzuwendenden Version 2009 der DRG P03B zuzuordnen – „Neugeborenes, Aufnahmegewicht 1000 bis 1499 g mit signifikanter OR-Prozedur oder Beatmung > 95 Stunden, ..“. Unzutreffend ist die Zuordnung zur DRG P64Z „Neugeborenes, Aufnahmegewicht 1250 -bis1499 g ohne signifikante OR-Prozedur, ohne Beatmung > 95 Stunden“. Denn zur unstrittigen Beatmungszeit von 77 h sind die weiteren 33,5 h HFNC-Beatmung hinzuzurechnen.
Der hier einschlägigen Begriff der „Beatmung“ richtet sich nach der folgenden Definition der DKR (2009) 1001h – Maschinelle Beatmung:
1Maschinelle Beatmung („künstliche Beatmung”) ist ein Vorgang, bei dem Gase mittels einer mechanischen Vorrichtung in die Lunge bewegt werden. 2Die Atmung wird unterstützt durch das Verstärken oder Ersetzen der eigenen Atemleistung des Patienten. 3Bei der künstlichen Beatmung ist der Patient in der Regel intubiert oder tracheotomiert und wird fortlaufend beatmet. 4Bei intensivmedizinisch versorgten Patienten kann eine maschinelle Beatmung auch über Maskensysteme erfolgen, wenn diese an Stelle der bisher üblichen Intubation oder Tracheotomie eingesetzt werden.
Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt:
a) Vorliegend wurden Atemgase zugeführt, welche in der Beatmungsmaschine aufbereitet waren.
b) Diese Atemgase wurden maschinell auf Druck gebracht, zur Vermeidung von Austrocknung der Frühgeborenenlunge maschinell angefeuchtet und um einer Auskühlung über die Lungen zuvorzukommen maschinell angewärmt sowie im Sauerstoffgehalt geregelt.
c) Die so maschinell aufbereiteten Atemgase wurden zuerst per Tubus, sodann per Atemmaske und daran anschließend per HFNC-Nasenkanülen-Brille als jeweilige Anschlussvorrichtung dem zur Atmung zugeführt, zu welcher er mangels Entwicklung in der Schwangerschaft nicht in der Lage war. Der Vorhaltungsaufwand, der pflegerische und der Überwachungsaufwand für waren bei allen drei Formen des Beatmungs-Anschlusses im Wesentlichen gleich.
d) In der HFNC-Phase erhielt die Atemgase mit einem Überdruck, welcher nach dem Körpergewicht und dem Flow entsprechend der hierzu entwickelten Tabelle – enthalten in der Stellungnahme des Prof. F. – spezifisch mit 4,5 bis 4, 8 cm Wassersäule berechnet und eingestellt worden ist.
e) Dies hat zu einem positiven ausdehnenden Druck geführt (PEEP) und damit die Gasaustauschfläche der Frühgeborenenlunge des erweitert sowie dessen Atemzugvolumen und Atemarbeit mit dem gleichen Effekt versehen, wie zuvor mit der Beatmung durch Rachentubus und Atemmaske.
Der Senat folgt insoweit ist dem überzeugenden erstinstanzlich eingeholten Sachverständigen des Neonatologen Dr. C. M. sowie der in der Berufung vorgelegten ebenfalls überzeugenden Stellungnahme des Prof. F. Beide sind auf die hier relevante neonatologische Intensivbehandlung von Frühgeborenen spezialisierte Experten mit jahrelanger, umfangreicher praktischer klinischer Erfahrung sowie in der entsprechenden Forschung anerkannte Fachleute. Ihrer Einschätzung zur Beurteilung des Druckaufbaues bei besonders früh Geborenen mit geringem Geburtsgewicht, welche sie detailreich und spezifisch dargelegt haben, kommt deshalb besonderer Wert zu. Beide widerlegen die Behauptung, dass über nicht geschlossene Nasenkanülen kein Druckaufbau in der Lunge erfolgen kann durch das Aufführen von Bläheffekten, welche bei Überdruck zu Verletzungen, zu Rupturen der Lunge und des Magens, geführt hatten. Die Druckeinstellung und Kalibrierung nach dem dokumentierten Tabellenwerk in Abhängigkeit vom speziellen Gewicht der Frühgeborenen ist als weiteres Indiz für die Beatmungswirkung im HFNC-Verfahren zu werten.
Nicht gefolgt kann hingegen den Einschätzungen des MDK sowie des in der Berufung vom Senat beauftragen Dr. T. Namentlich Dr. C. A., aber auch Dr. T. lassen in ihren Ausführungen die Expertise zu neonatologischen Intensivbehandlung von Frühgeborenen vermissen. Ihre Überlegungen, dass Nasenkanülen in offener Anwendung zur Atemdruckgenerierung ungeeignet sind, entbehren nicht einer gewissen Folgerichtigkeit, sind aber nicht auf die Spezifka der Beatmung von Frühgeborenen mit einem Gewicht unter 1.500 Gramm anwendbar. Außer Betracht wird nämlich gelassen, dass deren Lungen und Atemfähigkeit (noch) nicht entwickelt sind, dass Nasen-, Rachen und Atemwege winzig sind und dass Atemzüge nur in minimalem Ausmaß für den kleinen, unterentwickelten Neugeborenen erforderlich und durchführbar sind.
Aus der gebotenen Wortlautsubsumtion ergibt sich somit, dass Gase dem mittels einer mechanischen Vorrichtung – aus dem Beatmungsgerät über Schlauch und Nasenkanüle – in die Lunge bewegt worden sind DRK (2009) 1001h (Satz 1). Mittels des spezifischen Atemdruckes wurde die eigene Atemleistung des zumindest unterstützend verstärkt DRK (2009) 1001h (Satz 2). Satz 3 enthält zur Intubation nur eine Regelfallbestimmung und setzt eine Intubation oder Tracheotomierung nur in der Regel voraus, sodass Ausnahmen wie vorliegend nicht ausgeschlossen sind. Die fortlaufende Beatmung ist erfolgt. Der weitere Satz 4 konkretisiert erläuternd den in Satz 3 aufgeführten Regelfall und schließt damit die Sonderbehandlung in Fällen Frühgeborener mit besonders geringem Geburtsgewicht bis 1.500 Gramm nicht aus. Damit ist die Definition der künstlichen, maschinellen Beatmung erfüllt.
Die weitergehenden Ausführungen, welche im Laufe des Verfahrens zur DKR 1001 – Maschinelle Beatmung) sowie zum OPS 8-711 und zu deren Änderungen nach 2009 erfolgt sind, führen zu keinem anderen Ergebnis. Denn die Kodierrichtlinien sind wegen ihrer Funktion im Gefüge der Ermittlung des Vergütungstatbestandes innerhalb eines Vergütungssystems stets eng am Wortlaut orientiert und unterstützt durch systematische Erwägungen auszulegen; Bewertungen und Bewertungsrelationen bleiben außer Betracht (BSG, 10.3.2017 – B 1 KR 82/14 B, BeckRS 2015, 67247, Rn.7). Wenn eine Beatmungsmaßnahme bereits der Definition in DKR 1001 unterfällt, dann dürfen die weiteren Ausführungen zur Kodierung keine Einschränkung enthalten, was die DKR 1001 unter „Kodierung“ selbst belegt mit den Worten: „Wenn eine maschinelle Beatmung die obige Definition erfüllt, ist …“. Das Nämliche gilt für die weiteren Darlegungen unter Berechnung der Dauer, Beginn, Ende, Verlegte Patienten, Intubation sowie unter Kontinuierlicher positiver Atemwegsdruck.
4. Der Senat lässt vorliegend weder die Entscheidung des LSG Saarbrücken, 14.12.2011 – L KR 76/10, noch die des BSG, 10.3.2015 – B 1 KR 82/14 B unbeachtet.
Beide Entscheidungen kann entnommen werden, dass die jeweilige Wortlautauslegung vom Leitbild der Eisernen Lunge als Prototyp der maschinellen Beatmung beeinflusst ist. Die Entscheidungen schließen die vorliegende Beurteilung nicht aus, weil sie einen anderen Sachverhalt betreffen. Dort war die intensivmedizinische Behandlung Erwachsener zu beurteilen. Hier aber geht es um beatmungsmedizinische Spezifika der neonatologischen Intensivbehandlung Frühgeborener mit geringem Geburtsgewicht und mit in der Folge nicht ausgeprägtem Lungen und Atemvermögen.
Zusammenfassend ist zu bestätigen, dass maschinelle Beatmung iSd DKR (2009) 1001h vorliegt, wenn Frühgeborene mit einem Gewicht unter 1.500 Gramm im Wege des HFNC-Systems über Nasensonden beatmet werden.
5. Darüber hinaus begründet sich der Zahlungsanspruch der Klägerin auch daraus, dass die Beatmungsbehandlung in der Zeit ab 30.12.2009, 23:59 Uhr bis 3.1.2010 wenn nicht als künstliche Beatmung, so zumindest als Entwöhnung von der Beatmung anzusehen und der vergütungsrelevanten Beatmungsdauer des hinzuzuzählen ist (BSG, B 1 KR 18/17 R, BeckRS 2017, 142709, Rn. 15). Denn war mittels Beatmungsmaschine und Tubus gleich nach seiner Geburt sowie anschließend mittels Beatmungsmaschine und Maske bis 30.12.2009, 23:59 Uhr beatmet worden. Ohne Beatmungsgshilfe ist erst ab 3.1.2010 geblieben. Die Zeit vom 30.12.2009, 23:59 Uhr bis 3.1.2010 ist damit als Zeit der Beatmung – Entwöhnung zu qualifizieren, da wegen der gleichsam von Geburt ab nicht möglichen Eigenatmung an die künstliche Beatmung gewöhnt war und von dieser hinweg zur eigenen Atmung geführt werden musste (BSG aaO, Rn. 16).
Der Berufung der Beklagten bleibt somit vollumfänglich der Erfolg versagt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG iVm § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Zinsentscheidung folgt aus der tatbestandlichen Erfüllung von Verzug iVm den einschlägigen Pflegesatzbestimmungen und ist zwischen den Beteiligten auch dem Umfang und der Höhe nach nicht strittig.
Der Streitwert entspricht sowohl der erstinstanzlichen Festsetzung als auch der strittigen Forderungshöhe, §§ 47 Abs. 2 S. 1, 52 Abs. 3 GKG.
Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen, § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG.