Medizinrecht

Abschiebungsverbot für Russland wegen Erkrankung – Gehörsverstoß

Aktenzeichen  11 ZB 16.30101

Datum:
11.7.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 48813
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
GG Art. 103 Abs. 1
VwGO § 138 Nr. 3
AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 2, Nr. 3

 

Leitsatz

1 Da grundsätzlich davon auszugehen ist, dass die Gerichte entgegengenommenes Vorbringen zur Kenntnis nehmen, liegt ein zur Berufungszulassung führender Gehörsverstoß nicht vor, wenn das Verwaltungsgericht aus vorgelegten Attesten kein Abschiebungsverbot entnimmt, ohne ausdrücklich auf sämtliche Diagnosen einzugehen.  (redaktioneller Leitsatz)
2 Das Gericht geht davon aus, dass die medizinische Versorgung in der Russischen Föderation einfach, aber ausreichend ist. Deshalb würde ein Gehörsverstoß auch dann nicht vorliegen, wenn das Gericht einzelne Befunde nicht in Betracht gezogen hätte, da es auf die Perspektive des Gerichts im angefochtenen Urteil ankommt. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

AN 10 K 14.30678 2016-03-21 Ent VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II.
Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I. Die Kläger sind nach eigenen Angaben russische Staatsangehörige tschetschenischer Volkszugehörigkeit. Die im Jahr 2012 gestellten Asylanträge hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) mit Bescheid vom 10. Juli 2014 abgelehnt. Der Vortrag der Kläger hinsichtlich einer Vorverfolgung sei widersprüchlich, lebensfremd und nicht glaubhaft. Es würden auch keine Abschiebungshindernisse vorliegen.
Das Verwaltungsgericht hat die dagegen erhobene Klage mit Urteil vom 21. März 2016 abgewiesen. Auch hinsichtlich eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG sei nichts Durchgreifendes vorgetragen oder sonst ersichtlich. Die vorgelegten Befundberichte und Arztbriefe seien nicht geeignet, das Vorliegen von Krankheiten darzutun, die ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG begründen könnten. Die Klägerin leide nach den vorgelegten ärztlichen Attesten wohl an den Folgen eines Guillain-Barré-Syndroms. Sie habe aber schon in der russischen Föderation eine medizinische Behandlung erhalten. Nach § 60 Abs. 7 Satz 3 und 4 AufenthG n. F. sei es nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig sei. Auch nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 5. Januar 2016 sei die medizinische Versorgung in Russland auf einfachem Niveau gesichert.
Dagegen wenden sich die Kläger mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung. Das Urteil weiche von dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. Oktober 2002 (1 C 1.02) ab, da der Entlassungsbericht der Bezirkskliniken M. vom 24. Juli 2015 ignoriert werde. Dort sei nach einem einmonatigen stationären Aufenthalt neben einer Panikstörung (ICD-10 F. 41.0) eine posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10 F. 43.1) diagnostiziert worden. Dieses Krankheitsbild sei im Heimatland nicht behandelbar. Das Gericht habe keine gegenteilige Feststellung getroffen, sondern sich mit diesen Anknüpfungstatsachen überhaupt nicht auseinandergesetzt. Darin liege auch ein Verstoß gegen das Grundrecht auf Gewährung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.Die Berufung ist weder wegen einer Divergenz nach § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG noch wegen eines Verfahrensmangels nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i. V. m. § 138 Nr. 3 VwGO zuzulassen.
1. Eine Divergenz im Sinne von § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG setzt voraus, dass ein Rechts- oder Tatsachensatz des Verwaltungsgerichts von einem tragenden Rechts- oder Tatsachensatz des Divergenzgerichts abweicht und die Entscheidung darauf beruht.
Gemessen daran ist die Berufung nicht gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG zuzulassen. Das Urteil des Verwaltungsgerichts weicht nicht von dem in dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. Oktober 2002 (1 C 1.02) aufgestellten Grundsatz ab, dass sich ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG (nunmehr § 60 Abs. 7 AufenthG) auch aus der Krankheit eines Ausländers ergeben kann, wenn diese sich im Heimatstaat verschlimmert, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend sind. Das Verwaltungsgericht ist unter Anwendung dieses Grundsatzes aufgrund des Lageberichts des Auswärtigen Amts vom 5. Januar 2016 zu dem Ergebnis gekommen, dass ein solcher Fall nicht vorliegt, sondern die medizinische Versorgung in der Russischen Föderation ausreichend gesichert ist.
2. Das Verwaltungsgericht hat auch nicht den Anspruch der Kläger auf Gewährung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG i. V. m. § 138 Nr. 3 VwGO verletzt. Das rechtliche Gehör als prozessuales Grundrecht sichert den Parteien ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können, insbesondere dass sie mit ihren Ausführungen und Anträgen gehört werden (BVerfG, B.v. 30.4.2003 – 1 PBvU 1/02 – BVerfGE 107, 395/409 = NJW 2003, 1924). Das rechtliche Gehör gewährleistet im Sinn der Wahrung eines verfassungsrechtlich gebotenen Mindestmaßes, dass ein Kläger die Möglichkeit haben muss, sich im Prozess mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten zu behaupten (BVerfG, B.v. 21.4.1982 – 2 BvR 810/81 – BVerfGE 60, 305/310). Ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG kann allerdings nur dann festgestellt werden, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Gerichte von ihnen entgegengenommenes Parteivorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben. Deshalb müssen im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist (BVerfG, B.v. 29.10.2015 – 2 BvR 1493/11 – NVwZ 2016, 238).
Gemessen daran liegt hier keine Verletzung des rechtlichen Gehörs vor. Zwar hat das Verwaltungsgericht das Attest der Bezirkskliniken M. vom 24. Juli 2015 mit der Diagnose „Posttraumatische Belastungsstörung F 43.1“ nicht ausdrücklich erwähnt und sich in seinen Entscheidungsgründen in erster Linie mit den Behandlungsmöglichkeiten hinsichtlich des Guillain-Barré-Syndroms auseinandergesetzt. Es hat jedoch einleitend ausgeführt, „die vorgelegten Befundberichte bzw. Arztbriefe“ seien nicht geeignet, das Vorliegen von Krankheiten darzutun, welche ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG begründen könnten. Allein der Umstand, dass das Verwaltungsgericht nicht ausdrücklich auf sämtliche Diagnosen in den vorgelegten Attesten eingegangen ist, lässt nicht den Rückschluss zu, dass es diese nicht zur Kenntnis genommen hätte, zumal es in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich auf die Neufassung des § 60 Abs. 7 AufenthG, dessen Änderung die Regelung der Relevanz von Gefahren aus gesundheitlichen Gründen und die medizinische Versorgung im Zielstaat zum Gegenstand hatte, hingewiesen hat.
Darüber hinaus ist durch die Nichtverarbeitung von Teilen des tatsächlichen Vorbringens das rechtliche Gehör erst dann verletzt, wenn der Vortrag aus der Perspektive des entscheidenden Gerichts für das angefochtene Urteil entscheidungserheblich gewesen wäre (Kraft in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 138 Rn. 37). Selbst wenn man davon ausgehen würde, dass das Verwaltungsgericht den vorgelegten Entlassungsbericht der Bezirkskliniken M. vom 24. Juli 2015 nicht zur Kenntnis genommen und in seine Erwägungen einbezogen hat, ist das rechtliche Gehör nicht verletzt, da der Vortrag aus der Perspektive des Verwaltungsgerichts nicht entscheidungserheblich war. Das Verwaltungsgericht ist davon ausgegangen, dass gemäß dem Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 5. Januar 2016 die medizinische Versorgung in der Russischen Föderation zwar einfach, aber ausreichend sichergestellt ist. Eine Differenzierung zwischen psychischen und körperlichen Erkrankungen wird im Lagebericht nicht getroffen.
Hinsichtlich der diagnostizierten posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) entspricht der Entlassungsbericht darüber hinaus nicht den Mindestanforderungen an ein fachärztliches Attest, mit dem das Vorliegen einer behandlungsbedürftigen PTBS bestätigt wird. Aus einem solchen Attest muss sich nachvollziehbar ergeben, auf welcher Grundlage der Facharzt seine Diagnose gestellt hat und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt. Dazu gehören etwa Angaben darüber, seit wann und wie häufig sich der Patient in ärztlicher Behandlung befunden hat und ob die von ihm geschilderten Beschwerden durch die erhobenen Befunde bestätigt werden. Des Weiteren soll das Attest Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf (Medikation und Therapie) geben. Wird das Vorliegen einer PTBS auf traumatisierende Erlebnisse im Heimatland gestützt und werden die Symptome erst längere Zeit nach der Ausreise aus dem Heimatland vorgetragen, so ist in der Regel auch eine Begründung dafür erforderlich, warum die Erkrankung nicht früher geltend gemacht worden ist (BVerwG, U.v. 11.9.2007 – 10 C 8.07 – BVerwGE 129, 251 Rn. 15). Diesen Anforderungen genügt der Entlassungsbericht vom 24. Juli 2015 nicht, denn es ist schon nicht zweifelsfrei erkennbar, ob die Traumatisierung durch den Zweiten Tschetschenienkrieg und die angebliche Verfolgung und Folterung des Ehemanns oder auf die Erkrankung mit dem Guillain-Barré-Syndrom zurückzuführen sein soll und weshalb die Symptome erst drei Jahre nach der Ausreise im Jahr 2012 und mehr als zehn Jahre nach den Vorfällen vorgetragen werden. Der (frühere) Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat auch weder in seinen Schriftsätzen noch in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht diesbezüglich Ausführungen gemacht oder einen Beweisantrag gestellt.
Hinsichtlich der weiteren in dem Entlassungsbericht vom 24. Juli 2015 festgestellten psychischen Erkrankungen der Klägerin (mittelgradige depressive Episode und Panikstörung) ist nicht ersichtlich, dass diese zu einem Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen könnten. Im Entlassungsbericht ist ausgeführt, die Klägerin leide seit Oktober 2014 unter der Ungewissheit bezüglich der Aufenthaltserlaubnis und der Perspektivlosigkeit. Damit gehe eine psychische Verschlechterung mit depressiver Stimmung, Schlaflosigkeit, Reizbarkeit, Apathie, Angst und Panik einher. Vor der stationären Aufnahme fand nur eine medikamentöse Behandlung mit Sertralin und Citalopram statt. Das in den Bezirkskliniken angebotene Therapieprogramm konnte die Klägerin infolge der Sprachbarriere und der Gehbehinderung nur begrenzt in Anspruch nehmen. Medikamentös wurde sie mit Sertralin, Mirtazapin und Pipamperon behandelt und ohne Anhalt für Eigen- oder Fremdgefährdung nach Hause entlassen. Die behandelnden Ärzte empfahlen eine ambulante psychiatrische und psychotherapeutische Weiterbehandlung. Lebensbedrohliche oder gravierende Verschlechterungen bei einer nicht den Empfehlungen entsprechenden Weiterbehandlung werden nicht erwähnt. Die Klägerin hat selbst lediglich hinsichtlich des Guillain-Barré-Syndroms geltend gemacht, diese Erkrankung sei in der Russischen Föderation nicht behandelbar. In der mündlichen Verhandlung vom 18. März 2016 hat sie nicht vorgetragen, welchen Verlauf ihre Erkrankung nach der Entlassung aus den Bezirkskliniken am 24. Juli 2015 genommen hat. Weder führte sie aus, ob und welche Behandlungen weiterhin erfolgten, noch welche Medikamente sie weiterhin einnimmt und welche Beschwerden sie noch hat. Sie gab nur an, sie wolle gerne hier bleiben, um Ruhe für sich und ihr Kind finden zu können. Beweisanträge zum möglichen Verlauf und zur Behandelbarkeit der genannten psychischen Erkrankungen stellte sie nicht. Nach dem in das Verfahren eingeführten Lagebericht des Auswärtigen Amts, Stand Januar 2016, ist die medizinische Versorgung in der Russischen Föderation insgesamt einfach, aber ausreichend (Lagebericht, S. 27). Es ist daher nicht ersichtlich, dass die Erkrankungen der Klägerin im Heimatland überhaupt nicht behandelt werden können und sich deswegen lebensbedrohlich verschlimmern würden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.


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