Medizinrecht

Abschiebungsverbot nach Afghanistan wegen Depression

Aktenzeichen  M 26 K 17.36174

Datum:
26.2.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 57754
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1

 

Leitsatz

1. Eine zielstaatsbezogene Gefahr (als Abschiebungshindernis) für Leib und Leben besteht auch dann, wenn eine notwendige medizinische Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
2. Vorliegend wäre im Falle einer Abschiebung eine suizidale Krise wahrscheinlich. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt. Der Bescheid des Bundesamts für … vom 13. März 2017 wird in den Nummern 4 bis 6 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, festzustellen, dass beim Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen.
II. Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens tragen der Kläger und die Beklagte je zur Hälfte.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Soweit die Klage hinsichtlich der Zuerkennung subsidiären Schutzes zurückgenommen wurde, war das Verfahren einzustellen, § 92 Abs. 3 VwGO.
Die Klage, über die gemäß § 101 Abs. 2 VwGO mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden wird, ist, soweit sie aufrechterhalten wurde, zulässig und begründet.
Die Klage ist zulässig. Da sich in den Akten kein Zustellungsnachweis hinsichtlich des Bescheids vom 13. März 2017 findet, ist in Anwendung der drei-Tages-Fiktion des § 4 Abs. 2 Satz 2 VwZG von einer Zustellung am 17.03.2017 auszugehen, so dass die zweiwöchige Klagefrist eingehalten wurde.
Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid des Bundesamts für … vom 13. März 2017 ist, soweit er angegriffen ist, rechtswidrig. Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 AsylG) einen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten, ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Aus diesem Grund ist auch die Abschiebungsandrohung rechtswidrig. Insoweit war der streitgegenständliche Bescheid aufzuheben.
Dem Kläger droht aufgrund seiner ausweislich der vorgelegten fachärztlichen und psychologischen Atteste derzeit schlechten psychischen Verfassung und der schwierigen Gesamtsituation in Afghanistan bei einer Rückkehr dorthin eine extreme Gefahrenlage.
Nach der Vorschrift des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Erfasst sind damit nur zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, die sich in den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat, hier in Afghanistan, begründen. Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kann sich dabei auch daraus ergeben, dass die im Abschiebezielstaat zu erwartende Rechtsbeeinträchtigung in der Verschlimmerung einer Krankheit wegen unzureichender Behandlungsmöglichkeiten besteht, unter welcher der Ausländer bereits in Deutschland leidet. Ein Abschiebungshindernis kann sich trotz an sich verfügbarer medikamentöser und ärztlicher Behandlungsmöglichkeiten aber auch aus den sonstigen Umständen im Zielstaat ergeben, die dazu führen, dass der betroffene Ausländer diese medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen kann. Denn eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist. Denn in die Beurteilung mit einzubeziehen und bei der Gefahrenprognose zu berücksichtigen sind sämtliche zielstaatsbezogenen Umstände, die zu einer Verschlimmerung der Erkrankung führen können (BayVGH, U.v. 23.11.2012 – 13A B 12.30061).
Darüber hinaus wird im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG analog die Frage geprüft, ob bei Gefahren, die der Bevölkerung oder der Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein drohen und bei denen eine politische Leitentscheidung nach § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG fehlt, ausnahmsweise Verfassungsrecht in Fällen einer extremen Gefahrenlage ein Abschiebungsverbot erforderlich macht. In diesem Zusammenhang wird auch die schlechte wirtschaftliche Lage im Herkunftsland berücksichtigt (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2001 – 1 C 5.01 – Rn. 15 ff. juris).
In Anwendung dieser Grundsätze besteht hinsichtlich des Klägers nach Überzeugung des Gerichts ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Zwar sind nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, der sich die erkennende Einzelrichterin anschließt, arbeitsfähige, gesunde junge Männer auch ohne besondere Qualifikation, nennenswertes Vermögen und familiären Rückhalt in der Lage, durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Einkommen zu erwirtschaften und damit ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten, so dass für sie keine extreme Gefahrenlage besteht (BayVGH, B.v. 25.1.2017 – 13a ZB 16.30374 – juris Rn. 12; B.v. 23.1.2017 – 13a ZB 17.30044 – juris Rn. 5). Nach den vorgelegten Attesten gehört der Kläger – derzeit – jedoch nicht zu dieser Gruppe der arbeitsfähigen gesunden Männer. Der Kläger ist psychisch stark angeschlagen. Ausweislich der vorgelegten Atteste leidet er an depressiven Episoden und Trauma bedingten angstgeprägten Schlafstörungen. Er werde seit mehr als zwei Jahren sowohl nervenärztlich/medikamentös als auch psychotherapeutisch behandelt, was beides weiterhin notwendig sei. Unter der Behandlung seien Selbstverletzungen deutlich seltener geworden. Bei einem Abbruch der Behandlung wäre er nach fachärztlicher Beurteilung jedoch wieder erheblich gefährdet, in selbstverletzendes Handeln bis hin zu Suizidalität zu geraten. Darüber hinaus wäre eine gravierende dauerhafte Schädigung seiner körperlichen und psychischen Gesundheit zu befürchten. Im Falle einer Abschiebung sei eine suizidale Krise wahrscheinlich.
Die Atteste legen in ihrer Gesamtschau unter Angabe der Befunde in nachvollziehbarer Weise dar, dass der Kläger auch weiterhin psychotherapeutischer und medikamentöser Behandlung bedarf; anderenfalls bestehe die Gefahr, dass sich das Krankheitsbild erheblich verschlechtern würde. Die Beklagte ist diesen Befunden nicht entgegengetreten.
Nach den Informationen des Auswärtigen Amts (Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 19. Oktober 2016) leidet die medizinische Versorgung in Afghanistan weiterhin an unzureichender Verfügbarkeit von Medikamenten und Ausstattung der Kliniken, insbesondere aber an fehlenden Ärzten und Ärztinnen sowie gut qualifiziertem Assistenzpersonal. Die Behandlung von psychischen Erkrankungen findet, abgesehen von einzelnen Pilotprojekten, nach wie vor nicht in ausreichendem Maße statt.
Das Gericht ist vor diesem Hintergrund davon überzeugt, dass der Kläger bei einer Rückkehr binnen kurzer Zeit einer erheblichen individuellen Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausgesetzt wäre. Zum einen dürfte er aufgrund seiner labilen psychischen Verfassung kaum voll belastbar sein, so dass nicht gewährleistet ist, dass er derzeit auf dem hart umkämpften afghanischen Arbeitsmarkt bestehen und seinen Lebensunterhalt sichern könnte. Zu berücksichtigen ist hierbei auch, dass der Kläger noch nie in Afghanistan war und daher weder mit den dortigen Verhältnissen vertraut ist noch auf ein unterstützendes Netzwerk zurückgreifen kann. Weiter erschwerend kommt hinzu, dass er der Volksgruppe der Hazara angehört, die in Afghanistan weiterhin einer gewissen, insbesondere wirtschaftlichen Diskriminierung unterliegen (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19. Oktober 2016), so dass zu befürchten steht, dass er auch aus diesem Grund Nachteile bei der Arbeitssuche zu befürchten hätte. Zum anderen erscheint wegen der unzureichenden Therapieplätze und der schwierigen wirtschaftlichen Situation in Afghanistan nicht gewährleistet, dass die für den Kläger erforderliche dauerhafte Therapie erreichbar wäre. Bei fehlender Behandlungsmöglichkeit stünde nach den vorgelegten Attesten aber zu befürchten, dass sich die psychische Erkrankung des Klägers erheblich verschlimmern würde Aufgrund des Umstands, dass der Kläger bereits von einem Facharzt und einer Psychotherapeutin begutachtet wurde, bei denen er bereits seit Langem in Behandlung ist, sowie der vorliegenden Erkenntnisse zur medizinischen Versorgungs- und wirtschaftlichen Lage in Afghanistan hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung nicht für erforderlich. Die vorliegenden Erkenntnisse reichen aus, um dem Gericht die Überzeugung zu vermitteln, dass der Kläger jedenfalls derzeit nicht zum Kreis der alleinstehenden, gesunden, arbeitsfähigen Männer gehört, die das Überleben in Afghanistan durch die Aufnahme von Gelegenheitsarbeit sichern können.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1, § 155 Abs. 2 VwGO, § 83 b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, §§ 708 ff. ZPO.


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