Medizinrecht

Anspruch auf streckenbezogene Geschwindigkeitsbeschränkung, Anspruch auf 30 km/h, besondere örtliche Gefahrenlage

Aktenzeichen  B 1 K 19.1259

Datum:
19.1.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 49478
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
StVO § 45 Abs. 1, Abs. 9 S. 1, S. 3
VwV zur StVO zu Zeichen 274

 

Leitsatz

Tenor

1.Die Klage wird abgewiesen.
2.Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
3.Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. 

Gründe

Die Klage hat keinen Erfolg.
1. Die Beteiligten haben sich mit am 16. November 2020 und am 23. November 2020 eingegangenen Schriftsätzen mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 101 Abs. 2 VwGO einverstanden erklärt.
2. Die Klage ist als Versagungsgegenklage zulässig. Sie richtet sich auf den Erlass einer verkehrsrechtlichen Anordnung, durch die das Aufstellen des Verkehrszeichens 274 „zulässige Geschwindigkeit 30 km/h“ bewirkt wird, mithin auf eine Allgemeinverfügung. Auf Nachfrage des Gerichts erklärte der Bevollmächtigte im Augenscheinstermin ausdrücklich, dass nicht die Anordnung einer „Tempo-30-Zone“, sondern eine streckenbezogene Geschwindigkeitsbeschränkung begehrt werde.
3. Die Klage ist aber unbegründet.
Nach § 45 Abs. 1 Satz 1 der Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) können die Straßenverkehrsbehörden die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs beschränken oder verbieten.
Verkehrszeichen sind nur dort anzuordnen, wo dies aufgrund der besonderen Umstände zwingend erforderlich ist, § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO. Nach der Begründung zu dieser Vorschrift sollen die zuständigen Behörden bei der Anordnung von Verkehrszeichen restriktiv verfahren und stets nach pflichtgemäßem Ermessen prüfen, ob die vorgesehene Regelung durch Verkehrszeichen deshalb zwingend erforderlich ist, weil die allgemeinen und besonderen Verhaltensregeln der Verordnung für einen sicheren und geordneten Verkehrsablauf nicht ausreichen (BR-Drs. 374/97 Anlage S. 8). Eine den fließenden Verkehr beschränkende Anordnung kommt dabei nach § 45 Absatz 9 Satz 3 StVO nur in Betracht, wenn auf Grund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in den vorstehenden Absätzen genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt.
§ 45 StVO gibt keinen subjektiven Anspruch auf straßenverkehrsbehördliche Maßnahmen, sondern stellt diese in das Ermessen der Behörde. Die Rechtsprechung hat anerkannt, dass der Einzelne einen auf ermessensfehlerfreie Entscheidung der Behörde begrenzten Anspruch haben kann, wenn die Verletzung seiner öffentlich-rechtlich, z.B. durch Art. 2 Abs. 2 und Art. 14 GG geschützten, Individualinteressen in Betracht kommt (vgl. BVerwG, B.v. 3.7.1986 – 7 B 141/85 – NJW 1987, 1096; U.v. 22.1.1971 – VII C 48/69 – VerwRspr 1971, 854; U.v. 29.6.1983 – 7 C 102/82 – NVwZ 1983, 610). Zu einem Anspruch auf verkehrsregelndes Einschreiten verdichtet sich dieses Ermessen lediglich in Fällen, in denen nur eine einzige richtige Behördenentscheidung denkbar ist (Ermessensreduktion auf Null) (BayVGH, B.v. 23.6.2008 – 11 CE 08.745 – BeckRS 2008, 28095 Rn.19). Bei der Überprüfung, ob die Behörde das ihr grundsätzlich in der Folge zustehende Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt hat, ist zu berücksichtigen, dass aufgrund der hohen Anforderungen an die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 45 Abs. 9 Satz 1 und 3 StVO das Ermessen stark eingeschränkt ist. Bei Bejahung der Tatbestandsvoraussetzungen, zumal bei einer konkreten Gefahr für die Rechtsgüter Leib und Leben, ist in der Regel ein Tätigwerden der Behörde geboten und somit ihr Entschließungsermessen reduziert (vgl. BVerwG, U.v. 23.9.2010 a.a.O. Rn. 35; vgl. BayVGH, B.v. 28.9.2011 – 11 B 11.910 – juris Rn. 24, 39).
Für die Annahme der oben beschriebenen qualifizierten Gefährdungslage reicht es aus, dass eine entsprechende konkrete Gefahr besteht, die sich aus den besonderen örtlichen Verhältnissen ergibt. Es müssen nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Schadensfälle zu erwarten sein. § 45 Abs. 9 Satz 2 StVO setzt nur – aber immerhin – eine das allgemeine Risiko deutlich übersteigende Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts voraus (stRspr, vgl. BVerwG, U.v. 23.9.2010 – 3 C 32.09 – BeckRS 2010, 56020 Rn. 22; BayVGH, U.v. 5.6.2018 – 11 B 17.1503 – BeckRS 2018, 14503 Rn. 26; VG Oldenburg, U.v. 19.5.2004 – 7 A 1055/03 – BeckRS 2004, 23062 Rn. 26).
Ausweislich der Begründung zur Änderungsverordnung vom 30. November 2016 (BR-Drs 332/16 S. 10) sind derzeit für eine solche Gefahrenlange bislang z. B. Nachweise für Unfallraten erforderlich, die ca. 30% über denen bei vergleichbaren Strecken anderenorts liegen.
Besondere örtliche Verhältnisse im Sinne von § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO können bei verkehrsbehördlichen Maßnahmen insbesondere in der Streckenführung, dem Ausbauzustand, der zur Verfügung stehenden Fläche für den Fahrzeug- und Fußgängerverkehr, den Ausweichmöglichkeiten, witterungsbedingten Einflüssen, der dort anzutreffenden Verkehrsbelastung, der Verteilung des Verkehrs über den Tag und den daraus resultierenden Unfallzahlen begründet sein (vgl. BVerwG, B.v. 3.1.2018 – 3 B 58.16 – BeckRS 2018, 372 Rn. 21; B.v. 23.4.2013 – 3 B 59.12 – BeckRS 2013, 51142 Rn. 9; U.v. 23.9.2010 a.a.O. Rn. 21 m.w.N.). Zur Feststellung, ob eine konkrete Gefahrenlage vorliegt, bedarf es vor allem einer sorgfältigen Prüfung der Verkehrssituation, aber nicht der Ermittlung eines Unfallhäufigkeits-Prozentsatzes oder vertiefter Ermittlungen zur Frage, wie hoch konkret der Anteil an feststellbaren bzw. zu erwartenden Unfällen ist. Eine besondere Unfallhäufigkeit und die Feststellung, dass Unfälle auf überhöhter Geschwindigkeit beruhen, ist nicht erforderlich. Unfälle sind selten monokausal, sondern beruhen ganz überwiegend auf einer Mehrzahl von zusammenwirkenden Ursachen, die in ihren Verursachungsanteilen nicht oder nur schwer festzulegen sind (vgl. BVerwG, U.v. 5.4.2001 – 3 C 23.00 – NJW 2001, 3139; BayVGH, U.v. 5.6.2018 – 11 B 17.1503- BeckRS 2018, 14503 Rn. 26).
Zur Bejahung einer das allgemeine Risiko übersteigenden Gefahrenlage bedarf es also nicht der Feststellung, dass die Strecke als Unfallhäufungsstelle zu klassifizieren war. Zwar kann sich eine erhöhte Unfallgefahr in einer gesteigerten Zahl an Unfällen niederschlagen, so dass von einem hohen Unfallhäufigkeits-Prozentsatz durchaus auf eine gesteigerte Unfallgefahr geschlossen werden kann. Das Vorliegen einer Gefahrenlage setzt aber nicht voraus, dass sich die identifizierten Gefahren auch bereits in einem oder mehreren Schadensereignissen realisiert haben. Die Forderung nach einer Unfallhäufungsstelle als Voraussetzung für eine Anordnung liefe im Grunde darauf hinaus, dass die Straßenverkehrsbehörde die aus der Gefahrenlage resultierende Unfallentwicklung zunächst weiter abzuwarten hätte (VG Köln, U.v. 8.11.2013 – 18 K 4473/12 – juris Rn. 52).
Die Klage bleibt deshalb ohne Erfolg, weil eine Ermessensreduktion auf Null nicht eingetreten ist und der klägerische Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung für den maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung umfassend rechtsfehlerfrei erfüllt worden ist.
a. Die Voraussetzungen des § 45 Abs. 9 StVO liegen nach Auffassung der Kammer unter Berücksichtigung der Erkenntnisse aus dem Augenschein nicht vor. Dabei legt die Kammer zunächst folgende Erwägungen zugrunde:
aa. Zu Zeichen 274 heißt es in den Verwaltungsvorschriften zur StVO unter I. Rn. 1: „Geschwindigkeitsbeschränkungen aus Sicherheitsgründen sollen auf bestehenden Straßen angeordnet werden, wenn Unfalluntersuchungen ergeben haben, dass häufig geschwindigkeitsbedingte Unfälle aufgetreten sind. Dies gilt jedoch nur dann, wenn festgestellt worden ist, dass die geltende Höchstgeschwindigkeit von der Mehrheit der Kraftfahrer eingehalten wird. Im anderen Fall muss die geltende zulässige Höchstgeschwindigkeit durchgesetzt werden. Geschwindigkeitsbeschränkungen können sich im Einzelfall schon dann empfehlen, wenn aufgrund unangemessener Geschwindigkeiten häufig gefährliche Verkehrssituationen festgestellt werden.“
Das Ermessen der Straßenverkehrsbehörde wird durch diese aufgrund des Art. 84 Abs. 2 GG erlassene Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung (VwV-StVO) vom 26. Januar 2001 i.d.F. vom 22. Mai 2017 (BAnz AT 29.05.2017 B8) gelenkt und gebunden. In Bezug auf die dort genannten Voraussetzungen sieht das Gericht keinen Grund zu Beanstandung, obwohl es sich lediglich um verwaltungsinterne Anweisungen und keine das Verwaltungsgericht bindenden Rechtsnormen handelt (VG Oldenburg, U.v. 19.5.2004 – 7 A 1055/03 – BeckRS 2004, 23062 Rn. 33-35).
Die Messung zwischen dem 19. und 25. April 2017 ergab eine Durchschnittsgeschwindigkeit (vd) von weit weniger als 50 km/h, wobei hervorzuheben ist, dass bei dieser Zählung auch lediglich Kraftfahrzeuge berücksichtigt wurden. Eine unzutreffende Abbildung der Geschwindigkeiten, die der Klägerbevollmächtigte im Augenscheinstermin bei den seit 2018 dauerhaft installierten Anlagen bemängelt hat, da diese auch Fußgängerverkehr aufzeichnen würden, scheidet daher aus. Die Geschwindigkeit von 85% der Verkehrsteilnehmer (v85%) lag (zwar) in Einzelfällen bei 52 km/h. Aber bei 6050 Kraftfahrzeugen im Bereich 0-49 km/h und nur 863 im Bereich 50-79 km/h bzw. auf der anderen Spur 5.118 im Bereich 0-49 km/h gegenüber 1.133 im Bereich 50-79 km/h, ergibt sich nur ein Anteil von circa 12,5% bzw. 18%, die sich im Bereich 50-79 km/h bewegen, wobei eine Geschwindigkeit von 50 km/h sogar noch zulässig ist und damit herauszurechnen wäre. Der tatsächlich zu schnell fahrende Anteil wäre damit noch geringer.
Auch im Jahr 2018 betrug die Durchschnittsgeschwindigkeit (vø) an keinem Tag 50 km/h. Es ergab sich zwar durchaus stadteinwärts eine erhöhte Geschwindigkeit von 85% der Verkehrsteilnehmer mit 53 km/h. Aber anteilig zur gesamten Zahl der aufgezeichneten Verkehrsteilnehmer wurden in jedem Messzeitraum weniger als 28% der Verkehrsteilnehmer im Bereich <55 km/h aufwärts verzeichnet. Dies gilt sogar für den Fall, dass die Zahl der Verkehrsteilnehmer in der Zeile „<10 km/h“ abgezogen wird, wollte man annehmen, dass es sich dabei lediglich um aufgezeichnete Fußgänger und Radfahrer handelt. Hinzukommt, dass in der Zeile „<55 km/h“ auch der Anteil der Verkehrsteilnehmer enthalten zu sein scheint, der genau 50 km/h fährt. Denn die darüberliegende Zeile gibt die „<50 km/h“ (weniger als 50 km/h)- fahrenden Verkehrsteilnehmer an. Ist der Teil der 50 km/h - fahrenden Teilnehmer aber mitenthalten, wäre der prozentuale Anteil der tatsächlich zu schnell fahrenden Verkehrsteilnehmer noch geringer.
Die Geschwindigkeit von 85% der Verkehrsteilnehmer blieb auch im Jahr 2019 stadteinwärts erhöht bei 53 km/h. Aber auch hier wurden stadteinwärts anteilig zur gesamten Zahl der aufgezeichneten Verkehrsteilnehmer in jedem Messzeitraum weniger als 27% der Verkehrsteilnehmer im Bereich <55 km/h aufwärts verzeichnet; wiederum ebenfalls den Fall berücksichtigend, dass die Zahl der Verkehrsteilnehmer in der Zeile „<10 km/h“ abgezogen wird.
Zuletzt setzen die aktuellen Daten diese Dimensionen fort: die Geschwindigkeit von 85% blieb stadteinwärts bei 53 km/h. Im Bereich <55 km/h aufwärts wurden (auch unter obig erläutertem Abzug) maximal 25% verzeichnet.
Es ergibt sich daher in der Gesamtschau das Bild, dass 85% der Verkehrsteilnehmer stadteinwärts am klägerischen Grundstück vorbei zwar geringfügig zu schnell fahren, der konkret berechnete zu schnell fahrende Anteil sich aber um die 25% einpendelt, da das Gericht davon ausgeht, dass ein großer Anteil der Fahrzeuge genau 50 km/h fährt. Stadtauswärts wird auf eine dezidierte Darstellung der Prozentanteile verzichtet, da dieser weit geringer ist und sogar 85% der Verkehrsteilnehmer (mit Ausnahme eines Zeitraums vom 30. August bis 27. September 2018) eine Geschwindigkeit von nicht mehr als 50 km/h gefahren sind.
Aus diesen Zahlen zieht das Gericht den Schluss, dass die geltende Höchstgeschwindigkeit von der Mehrheit der Kraftfahrer eingehalten wird. Dies beruht auch auf dem sich aus VwV – StVO zu Zeichen 274
II. Rn. 2, 3 ergebenden Umkehrschluss:
„Außerhalb geschlossener Ortschaften können Geschwindigkeitsbeschränkungen nach Maßgabe der Nummer I erforderlich sein,
1.wo Fahrzeugführer insbesondere in Kurven, auf Gefällstrecken und an Stellen mit besonders unebener Fahrbahn (vgl. aber Nr. I zu § 40 VwV-StVO Rn. 1), ihre Geschwindigkeit nicht den Straßenverhältnissen anpassen; die zulässige Höchstgeschwindigkeit soll dann auf diejenige Geschwindigkeit festgelegt werden, die vorher von 85% der Fahrzeugführer von sich aus ohne Geschwindigkeitsbeschränkungen, ohne überwachende Polizeibeamte und ohne Behinderung durch andere Fahrzeuge eingehalten wurde,
2.wo insbesondere auf Steigungs- und Gefällstrecken eine Verminderung der Geschwindigkeitsunterschiede geboten ist; die zulässige Höchstgeschwindigkeit soll dann auf diejenige Geschwindigkeit festgelegt werden, die vorher von 85% der Fahrzeugführer von sich aus ohne Geschwindigkeitsbeschränkungen, ohne überwachende Polizeibeamte und ohne Behinderung durch andere Fahrzeuge eingehalten wurde“
Dort wird auf 85% der Fahrzeugführer abgestellt, nicht auf die „Mehrheit“ wie noch unter I. Rn. 1 zu Zeichen 274. Dadurch erscheint es dem Gericht sachgerecht, dass es für die Frage welche Zahl maßgeblich ist, um von einer „Mehrheit der Kraftfahrer“ sprechen zu können, nicht darauf ankommt, welche Geschwindigkeit 85% der Verkehrsteilnehmer fahren, sondern darauf, wie viele aller Verkehrsteilnehmer 50 km/h überschreiten. Es ist davon auszugehen, dass die Unterscheidung zwischen der Mehrheit der Kraftfahrer in Rn. 1 und „85% der Fahrzeugführer“ in Rn. 2, 3 innerhalb einer Verwaltungsvorschrift bewusst gewählt wurde. Ohnehin hält das Gericht eine solche (geringe) Geschwindigkeitsüberschreitung von 85% der Verkehrsteilnehmer nicht allein für ausreichend, um eine besondere Gefahrenlage anzunehmen, die die Anordnung einer Geschwindigkeit von 50 km/h auf 30 km/h rechtfertigt. Unter Berücksichtigung des § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO kann bei 3 km/h von einem erheblichen Übersteigen des allgemeinen Risikos nicht gesprochen werden. Überdies weist das Gerät ausweislich der EMail der Fa. … vom 8. Dezember 2020 eine Messtoleranz von +/- 2 km/h unter 100 km/h und +/- 2% über 100 km/h auf. Die Geschwindigkeit von 85% der Verkehrsteilnehmer könnte also auch bei nur 51 km/h anzusiedeln sein. Diese geringfügige Überschreitung kann daher nicht allein entscheidendes Kriterium sein. Darüber hinaus sieht auch die Verwaltungsvorschrift vor, dass für den Fall, dass die Mehrheit der Kraftfahrer die Geschwindigkeit überschreiten, „die geltende zulässige Höchstgeschwindigkeit durchgesetzt werden“ muss. Dies bedeutet indes nicht, dass es der Anordnung von 30 km/h bedarf. Es kommt also darauf an, ob sich im Übrigen aufgrund der besonderen örtlichen Verhältnisse unter Berücksichtigung der Zahlen eine qualifizierte Gefahrenlage ergibt.
bb. Hiervon geht die Kammer aufgrund der beim Augenschein festgestellten örtlichen Verhältnisse nicht aus. Die Zusammenschau des relativ niedrigen Verkehrsaufkommens, des Ausbauzustands mit den beidseitigen Fußgängerwegen und der Auswertungen ergibt keine Gefahrenlage, die das allgemeine Risiko erheblich übersteigt.
Die Hellip Straße weist einen (unstreitig) sehr guten Ausbauzustand auf. Sie bietet aufgrund ihrer Breite und den angrenzenden Gehwegen ausreichend Fläche für den Fahrzeug- und Fußgängerverkehr. Die Kraftfahrzeuge haben für den Parkbedarf vom Straßenraum durch Parkbuchten abgegrenzten Platz zur Verfügung. Dies sorgt auf der Straße selbst für Übersichtlichkeit. Auch die Buslinie hat einen Parkstreifen zur Verfügung, sodass die Passagiere nicht auf der Straße warten müssen. In der Hellip Straße selbst befindet sich nach Angaben der Beklagten im Augenscheinstermin weder eine Schule, eine Kindertagesstätte noch anderweitige besonders schutzwürdige Nutzungen.
Das Verkehrsaufkommen ist mit maximal 1500 Verkehrsteilnehmern/ 24 h pro Fahrstreifen, durchschnittlich deutlich weniger, eher niedrig. Zwar weist die Straße eine Kurve auf und fällt Richtung Innenstadt ab, sodass das Teilstück Richtung Hellip- Straße / … vom Grundstück der Klägerin bzw. das andere Teilstück bei einem Verkehrsteilnehmer von Richtung Hellip- Straße / … kommend, bei der Ausfahrt schwer einsehbar ist, allerdings liegt zwischen der Ausfahrt der Klägerin und dem uneinsehbaren Teil der Kurve ausreichend Entfernung (unstreitig circa 54 Meter schon bis zum Beginn der Kurve, weiter noch bis zum uneinsehbaren Teil). Dies gilt insbesondere für einen Bremsvorgang. Fahrzeugführer sind stets gehalten sich beim Ausfahren auf eine Vorfahrtsstraße vorzutasten. Dies begründet keine von anderen Ausfahrten sich unterscheidende, das allgemeine Risiko übersteigende Gefahrenlage, noch dazu nicht erheblich. Hinzukommt, dass vor dem Grundstück der Klägerin eine breite Überfahrt auf die Straße führt und es sich nicht um einen direkten Zugang zur Straße handelt.
Ferner haben sich auf der Hellip Straße laut Bürgerinformationsgespräch vom 17. August 2017 vier Unfälle in vier Jahren ergeben, aus der Ausfahrt der Klägerin bislang keiner. Dies ist zumindest ein weiteres Indiz gegen eine besondere Gefahrenlage. Die klägerseits im Februar 2017 vorgetragenen „kleineren Unfälle“ bei Ausfahrten wurden weder damals noch im gerichtlichen Verfahren konkretisiert, ebenso wie der Vortrag, es würden ähnliche Situationen wie die im Frühjahr 2016 regelmäßig vorkommen. Auf Nachfrage beim Augenscheinstermin ergaben sich diesbezüglich auch keine aktuelleren Erkenntnisse. Insbesondere ein im Augenscheinstermin erinnerlicher Vorfall zulasten der Nachbarin der Klägerin erfolgte nicht bei der Ausfahrt aus dem Grundstück.
Auf die stadtauswärts verlaufende Fahrbahn wird wie oben nur insoweit eingegangen, als die Gefahrenlage auf den örtlichen Besonderheiten beruhen muss. Verkehrsrechtswidriges Verhalten von (ungeduldigen) Kraftfahrern ist hierunter nicht subsumierbar (vgl. König in Hentschel/Dauer/König, Straßenverkehrsrecht, 45. Auflage, § 45 Rn. 28a). Die Klägerin gab im Augenscheinstermin indes selbst an, dass die Problematik auf der rechten Fahrbahnseite Richtung Kirche bei der Einfahrt nicht darin bestehe, dass ihr Fahrzeug von entgegenkommenden Fahrzeugen übersehen werde, sondern links von drängelnden Fahrzeugen überholt werde. Dies komme jedoch nicht regelmäßig, sondern zeitweise vor.
b. Der erste Hilfsantrag ist ebenfalls unbegründet, da die Beklagte ihr Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt hat.
Hinsichtlich der pflichtgemäßen Ermessensentscheidung ist die Prüfungsbefugnis des Verwaltungsgerichts begrenzt (§ 114 S. 1 VwGO). Die eigenen Rechte der Klägerin beschränken sich darauf, dass ihre über die an der bloßen Benutzung hinausgehenden Interessen ohne Rechtsfehler mit denen der Allgemeinheit und anderer Betroffener, die für die Verkehrsbeschränkung sprechen, abgewogen worden sind (BVerwG, B.v. 3. 4. 1996 – 11 C 3/96 – BeckRS 1996, 12527; VG Oldenburg, U.v. 19.5.2004 – 7 A 1055/03 – BeckRS 2004, 23062 Rn. 33-35). Es sind insbesondere die Belange des Straßenverkehrs und der Verkehrsteilnehmer und die Interessen anderer Anlieger zu würdigen (vgl. BVerwG, U.v. 4.6.1986 – NJW 1986, 2655). Zu einer rechtmäßigen Ermessensausübung gehört auch die Prüfung der Frage, ob es zu einer Verkehrsverlagerung zu Lasten der Anwohner an anderen Straßen und insbesondere zu Lasten von Wohngebieten kommt (MüKoStVR/Steiner, 1. Aufl. 2016, StVO § 45 Rn. 14 m.w.N.). Die Beklagte ist dabei auch an die Grundentscheidung in § 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO gebunden, wonach innerorts eine Geschwindigkeitsbeschränkung von 50 km/h und nicht von 30 km/h gilt (VG Köln, U.v. 28.1.2008 – 11 K 153/07 – juris Rn. 39).
Die Beklagte hat den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet und die betroffenen Interessen gegeneinander abgewogen. Das Gericht teilt den Einwand der Klägerin, wonach nicht dargelegt worden sei, auf welcher Grundlage und nach welchen Maßstäben die Beklagte ihr Ermessen ausgeübt habe, nicht. Auch die Gefahrensituation wurde nicht verkannt.
Die Beklagte hat schon 2017 Zählstellen und Geschwindigkeitsmessungen veranlasst und das Landratsamt um Einschätzung gebeten. Die Polizei wurde bei der Sachverhaltsermittlung miteinbezogen. Auch war durch die Polizei die „Unfallstatistik“ von vier Unfällen in vier Jahren bekannt. Der … hat schon 2017 die Differenzierung zwischen Zone und streckenbezogener Geschwindigkeitsbeschränkung und damit auch die unterschiedlichen zu berücksichtigenden Gesichtspunkte erkannt. Auch wurde die Immissionsbelastung thematisiert, da das Landratsamt mitgeteilt hat, dass die Daten der letzten Messung hochgerechnet würden, um festzustellen welchen Belastungen die Bevölkerung ausgesetzt sei.
Vor der Entscheidung im Jahr 2019 wurde das Landratsamt unter Vorlage der Auswertungen erneut zu einer Geschwindigkeitsreduzierung auf 30 km/h befragt. Die Beklagte wurde über die fortbestehende Unauffälligkeit Unfälle betreffend aufgeklärt. Außerdem hat die Beklagte bei der Polizei um Radarmessungen gebeten. Dies zielt ersichtlich darauf ab, die Gefahrenlage zu erforschen. Gleiches gilt für die erfolgten Augenscheinnahmen.
Die Beteiligten haben bei ihrer Besprechung auf Wunsch der Klägerin verschiedene Maßnahmen diskutiert, es wurde auf Einschätzungen des Landratsamtes und der Polizei hingewiesen, welche eine Gefahrenlage verneinen und gefährliche Situationen in der Vergangenheit angesprochen. Im … sind ebenfalls die Voraussetzungen einer möglichen Geschwindigkeitsbeschränkung und anderer Maßnahmen diskutiert worden. Es erfolgte eine Abwägung zwischen dem Ausbauzustand, der Übersichtlichkeit und Bedeutung der Straße. Auch Fraktionen des Stadtrats haben die Situation vor Ort eingesehen.
Aus all diesen Umständen ergibt sich, dass die Beklagte die zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen, gesetzlichen Vorgaben, die beantragten Maßnahmen und somit die Interessen der Klägerin in ihre Entscheidung einbezogen hat. Schlussendlich gehört es zum Kernbereich des Ermessensspielraumes, bei sich widersprechenden Zielen Prioritäten zu setzen (VG Köln, U.v. 28.1.2008 – 11 K 153/07 – juris Rn. 45). Den sachlichen Konflikt zwischen dem Interesse des Autofahrers nach einer zügigen Fortbewegung einerseits und der Sicherheit der schwächeren Verkehrsteilnehmer andererseits hat die Straßenverkehrsbehörde bei ihrer Ermessensentscheidung abwägend zu bewältigen. Dies hat die Beklagte hier – bei nicht vorliegender besonderer Gefahrenlage – getan, indem sie der Bedeutung der Straße, ihrer Erschließungsfunktion und dem fließenden Verkehr Vorrang eingeräumt hat c. Der zweite Hilfsantrag ist ebenfalls unbegründet, da auch für den Anspruch auf derartige Maßnahmen eine Ermessensreduktion auf Null erforderlich wäre, da die Auswahl der Mittel im Ermessen der Behörde steht und die vom Gericht voll überprüfbaren (König in Hentschel/Dauer/König, Straßenverkehrsrecht, 45. Auflage, § 45 Rn. 28d) Voraussetzungen des § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO nicht vorliegen. Im Übrigen erscheint fragwürdig, den Hilfsantrag 2 nach dem Hilfsantrag 1 zu stellen, da der Hilfsantrag 2 in seinem Begehren auf konkrete geschwindigkeitsvermindernde Maßnahmen weitergeht als die bloße Neuverbescheidung. Jedenfalls aber hält es das Gericht für möglicherweise sogar gefahrbegründend, Fahrbahnteiler an den vorgesehenen Stellen anzubringen, wenn es bei einer Geschwindigkeit von 50 km/h verbleiben darf.
4. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
5. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit richtet sich nach § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 Zivilprozessordnung (ZPO). Der Einräumung einer Abwendungsbefugnis bedurfte es angesichts der – wenn überhaupt anfallenden – jedenfalls geringen, vorläufig vollstreckbaren Aufwendungen der Beklagten nicht, zumal diese auch die Rückzahlung garantieren kann, sollte in der Sache eine Entscheidung mit anderer Kostentragungspflicht ergehen.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen


Nach oben