Medizinrecht

Befreiung von der Versicherungspflicht für einen Arzt aufgrund dessen Tätigkeit als Senior Product Specialist Cardiac Rhythm Management

Aktenzeichen  S 30 R 2451/15

Datum:
6.7.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VI SGB VI § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1

 

Leitsatz

1 Die Aufnahme eines Arztes in die Ärztekammer und das ihr zugeordnete Versorgungswerk hat Tatbestandswirkung für die Entscheidung des Rentenversicherungsträgers über den Antrag auf Befreiung von der Rentenversicherungspflicht. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
2 Vom Rentenversicherungsträger muss aber geprüft werden, ob die Mitgliedschaft in einer entsprechenden berufsständischen Versorgungseinrichtung auf genau jener Beschäftigung oder selbstständigen Tätigkeit beruht, für die eine Befreiung von der Versicherungspflicht begehrt wird. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
3 Die Bestimmung des Inhalts und der Grenzen der Berufsbilder der Ärzte, Tierärzte, Apotheker und Architekten sind dem Gesetzgeber und den zuständigen Kammern mit ihren Satzungen zu überlassen, wobei sich diese wiederum an der Weiterentwicklung der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu orientieren haben. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
4 Die Zugrundelegung “klassischer” Berufsbilder führt heute nicht mehr zu Ergebnissen ausreichender Schärfe. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 20.07.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.11.2015 zur Befreiung des Klägers von der Versicherungspflicht für seine Tätigkeit bei
D-Firma verurteilt.
II. Die Beklagte hat dem Kläger seine notwendigen Kosten zu erstatten.

Gründe

Die Klage wurde nach Durchführung des gesetzlich vorgeschriebenen Widerspruchsverfahrens form- und fristgerecht beim zuständigen Gericht erhoben und ist somit zulässig.
Sie ist auch begründet. § 6 Absatz 1 S. 1 Nr. 1 SGB IV gebietet auf Antrag die Befreiung derjenigen Beschäftigten und selbstständig Tätigen von der Versicherungspflicht, die wegen ihrer Beschäftigung oder selbstständigen Tätigkeit kraft Gesetzes Mitglied einer öffentlich-rechtlichen Versicherungs- oder Versorgungseinrichtung ihrer Berufsgruppe und zugleich kraft Gesetzes Mitglied einer berufsständischen Kammer sind.
Mit weiteren vorliegend unstrittigen Anforderungen hat der Gesetzgeber eine in den neunziger Jahren beobachtete Tendenz beschränkt, immer neuen Berufsgruppen durch Schaffung oder Ausweitung von Versorgungswerken außerhalb der Rentenversicherung die Befreiung hiervon zu ermöglichen.
Ein Rentenversicherungsträger hat sich bei der Prüfung einer kraft Gesetzes eintretenden Versicherungsfreiheit nach § 5 SGB VI und einer auf Antrag einzuräumenden Befreiung von der Versicherungspflicht nach § 6 SGB VI zunächst bei mehreren Varianten in hohem Maße an den Entscheidungen eines jeweils anderen Rechtsträgers zu orientieren. So hat der Rentenversicherungsträger keine Prüfungskompetenz über das für § 5 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 maßgebliche Beamtenverhältnis oder über die Rechtmäßigkeit der Gewährleistungsentscheidung nach § 6 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI.
Auch die Aufnahme eines Arztes in die Ärztekammer und das ihr zugeordnete Versorgungswerk hat eine erhebliche Tatbestandswirkung. Der Rentenversicherungsträger darf und muss angesichts solcher Aufnahmeentscheidungen zunächst durchaus annehmen, dass es sich bei der entsprechenden Person um einen Arzt im ärztlichen Beruf handelt. Gleichwohl ist vom Gesetz gedeckt und von der Rechtsprechung anerkannt, dass durch den Rentenversicherungsträger geprüft werden muss und darf, ob die Mitgliedschaft in einer entsprechenden berufsständischen Versorgungseinrichtung auf genau jener Beschäftigung oder selbstständigen Tätigkeit beruht, für die eine Befreiung von der Versicherungspflicht begehrt wird. Eine solche Prüfung könnte im Einzelfall auch zu dem abweichenden Ergebnis führen, dass beispielsweise eine journalistische Tätigkeit in einer mit Fragen der gesundheitsbewussten Ernährung befassten Redaktion oder eine kommerzielle Tätigkeit im Zusammenhang mit Produktion und Bewerbung von Nahrungsergänzungsmitteln unter lediglich beiläufiger Nutzung medizinischer Kenntnisse jeweils unter werbewirksamer Nutzung des Doktortitels ohne berufsspezifischen Zusammenhang mit der zur Mitgliedschaft im Versorgungswerk führenden Berufsausübung bleibt. Freilich wird man schon beim ausgewiesenen Medizinjournalisten oder beim Geschäftsführer eines Krankenhauses durchaus einen unmittelbaren Bezug zum Arztberuf zu erkennen haben.
Vorliegend ist jedoch mit ausreichender Deutlichkeit und unwidersprochen belegt, dass der Tätigkeitszweig Cardiac Rhythm Management durch eine fächerübergreifende, jedoch im Schwerpunkt medizinische, wissenschaftliche Arbeitsweise gekennzeichnet ist und eine wissenschaftliche Ausbildung jedenfalls vorzugsweise als Arzt voraussetzt. Man mag die Ökonomisierung des Medizinbetriebes vor dem Hintergrund klassischen ärztlichen Wirkens beklagen, muss aber anerkennen, dass auch in der gewinnorientierten Medikamentenforschung und -produktion und in der Herstellung und Vermarktung hochtechnisierter medizinischer Apparate die Tätigkeit von Ärzten (wie auch von Pharmakologen und ggf. Tierärzten) unerlässlich ist. Die Anforderungen an Hightechgeräte, die Beurteilung ihrer Sicherheit, ihre richtige Einstellung und laufende Überwachung ihres erfordern zweifellos das Wirken von Ärzten. Nur sie können letztverantwortlich auf berufsethischer Basis die insoweit notwendigen Entscheidungen treffen. Ganz unabweisbar ist die ärztliche Verantwortung bei der Implantation von Geräten in den Körper des Patienten. Genau hier wird der Kläger unmittelbar behandelnd tätig.
Den Einsatz von Ärzten und beispielsweise auch von Pharmakologen für hochspezifische Arbeitsbereiche als notwendig zu erklären, muss den entsprechenden Institutionen und Firmen vorbehalten bleiben. Die Beklagte verkennt den Sachverhalt und ignoriert sorgfältiges Vorbringen, wenn sie dem Kläger ein rein ökonomisches Tätigkeitsprofil zuschreibt. Die angegriffenen Bescheide betonen stark, dass als Einstellungsvoraussetzung für den Kläger nicht unbedingt ein abgeschlossenes medizinisches Studium verlangt wurde. Die Spezifizierung im Laufe des Verwaltungs- und Gerichtsverfahren hat jedoch deutlich genug herausgearbeitet, dass die ersatzweise genügenden Berufserfahrungen in anderen Fächern im medizinischen und ökonomischen Umfeld ebenfalls von höchster Qualifikation sein müssten und kaum unterhalb eines abgeschlossenen Studiums zu erreichen sein könnten.
Wie bei der bis zur gesetzlichen Neuregelung gerichtlich zu prüfenden Fallgruppe der Befreiung von Rechtsanwälten bei nichtanwaltlichen Arbeitgebern zeigt der Blick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit, dass die Zugrundelegung „klassischer“ Berufsbilder heute nicht mehr zu Ergebnissen ausreichender Schärfe führt. Auch wenn der Arztberuf selbstverständlich immer noch von der freien Praxis bzw. dem Krankenhaus geprägt ist, können Tätigkeiten wie hier an der Schnittstelle zwischen der Herstellung hochtechnologischer Hilfsmittel und der Versorgung der Patienten mit diesen Hilfsmitteln weder ignoriert noch mit administrativer Deutungshoheit aus ärztlichem (und tierärztlichem) Tätigkeitsfeld, Verantwortungsbereich und Selbstverständnis wegdefiniert werden. Es kann nicht angehen, dass die gesetzliche Rentenversicherung letztlich mit Breitenwirkung für die gesamte Rechts- und Gesellschaftsordnung die Deutungshoheit über die Berufsbilder von Ärzten, Tierärzten, Apothekern und Architekten übernimmt. Die Bestimmung des Inhalts und der Grenzen dieser Berufsbilder sind vielmehr dem Gesetzgeber und den zuständigen Kammern mit ihren Satzungen zu überlassen, wobei sich diese Autoritäten wiederum an der Weiterentwicklung der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu orientieren haben.
Abschließend sei verwiesen auf das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 30.09.2016 mit dem Aktenzeichen L 4 R 238/15. Im dort entschiedenen Fall war der Kläger als Arzt bei einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft mit den Funktionen eines Unternehmensberaters im Gesundheitswesen beschäftigt. Das Gericht stellte fest, dass der Begriff der Ausübung des ärztlichen Berufs unter Berücksichtigung kammer- bzw. versorgungsrechtlicher Bestimmungen sowie mithilfe allgemeiner Auslegungsgrundsätze wie Zweck, Sinnzusammenhang und historischer Entwicklung zu konkretisieren sei. Unter Anwendung dieser Maßstäbe liege eine Ausübung des ärztlichen Berufs jedenfalls dann vor, wenn die Anwendung oder Mitverwendung von ärztlichem Wissen der konkret ausgeübten Tätigkeit ihr Gepräge gibt. Nicht hingegen sei ärztliche Tätigkeit nur anzunehmen, wenn der Arzt die Heilkunde in Form einer unmittelbaren Behandlung von Patienten ausübt. Der ärztliche Aufgabenbereich erschöpfe sich nicht in der unmittelbaren Behandlung konkret einer einzelnen erkrankten Person, sondern ziele in weit umfassenderem Maß auf den Schutz bzw. die Wiederherstellung der Gesundheit allgemein ab. Auch bei historischer Betrachtung lasse sich eine Beschränkung ärztlicher Tätigkeit auf unmittelbar patientenbezogene (Be-)handlungen nicht erkennen. Schon die Reichsärzteordnung von 1935 habe neben dem Gebiet der Heilkunde die Tätigkeit in der ärztlichen Wissenschaft als ärztliche Aufgabe erkannt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.


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