Medizinrecht

Behandlungsfehler, Schmerzensgeld, Schadensersatz, Fehlbehandlung, Schmerzen, Aufklärungspflicht, Operation, Harnleiterkomplikation

Aktenzeichen  22 O 187/17

Datum:
20.11.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 51856
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
Amberg
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
BGB § 280 Abs. 1,§  249,§  253 Abs. 2, 630 a, § 630 c, § 823 Abs. 1,

 

Leitsatz

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Beschluss
Der Streitwert wird auf 65.000,- € festgesetzt.

Gründe

A.
Die Klage ist zulässig, insbesondere ist das für den Klageantrag zu Ziffer 2.) gemäß § 256 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse gegeben, da die Möglichkeit weiterer materieller Schäden für die Klägerin geltend gemacht wird und die Beklagte sich auf eine regelgerechte Behandlung beruft.
B.
Die Klage ist unbegründet.
I.
Der Klägerin steht gegen die Beklagte ein Anspruch auf Zahlung von Schmerzensgeld nicht zu.
1. Ein Anspruch ist insbesondere nicht gemäß §§ 280 Abs. 1, 249, 253 Abs. 2, 630 a, 630 c BGB bzw. §§ 823 Abs. 1, 249, 253 Abs. 2 BGB entstanden.
Ein Behandlungsfehler der Angestellten und sonstigen Mitarbeiter der Beklagten lag während des gesamten Behandlungsverlaufs nicht vor.
a. Ein Behandlungsfehler liegt vor, wenn die behandelnden Ärzte von einer medizinisch gebotenen Vorgehensweise absehen und damit vom maßgeblichen ärztlichen Standard abweichen. Ausreichend ist bereits, dass das Unterbleiben dem medizinischen Standard zuwiderläuft; die Maßnahme muss nicht zwingend geboten sein (zum Ganzen: Palandt/Weidenkaff, BGB, 76. Aufl., 2017, § 630 a Rn. 27). Es ist darauf abzustellen, ob der Beklagte „unter Einsatz der von ihm zu fordernden medizinischen Kenntnisse und Erfahrungen im konkreten Fall vertretbare Entscheidungen über die diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen getroffen und diese Maßnahmen sorgfältig durchgeführt hat“ (BGH, NJW 1987, 2291, 2292; BeckOK-BGB/Forster, 38. Edition, Stand 01.02.2016, § 823 Rn. 780).
Gemessen an diesen Maßstäben ist der Beklagten ein fehlerhaftes Vorgehen im Rahmen der verfahrensgegenständlichen Behandlung nicht vorzuwerfen.
b. Insbesondere aufgrund des Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. med. … sieht das Gericht der Beklagten zurechenbare Behandlungsfehler als nicht bewiesen an.
Nach dem in § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO normierten Grundsatz der freien Beweiswürdigung ist ein Beweis erbracht, wenn das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Ergebnisses der Beweisaufnahme und der sonstigen Wahrnehmungen in der mündlichen Verhandlung von der Richtigkeit einer Tatsachenbehauptung überzeugt ist. Dabei reicht ein für das praktische Leben brauchbarer Grad an Gewissheit aus, der Zweifeln Schweigen gebietet. Dies ist vorliegend nicht der Fall.
(1) Der Sachverständige führt in seinem schriftlichen Gutachten vom … Folgendes aus:
„… Die Indikationsstellung zu einer Strahlentherapie bei einem lokal fortgeschrittenen Cervixkarzinom des vorliegenden Stadiums ist vollständig lege artis erfolgt und hat zwingend zugestellt werden müssen. Die Durchführung der Strahlentherapie in Feldwahl und Dosis ist adäquat, der Einsatz der VMAT-Technologie ist vollständig adäquat und verstößt gegen keinen fachärztlichen Standard. Die Indikation zur begleitenden Chemotherapie entspricht randomisierten Studienergebnissen – auch wenn keine Lymphknoten befallen waren, ist das Vorliegen anderer Risikofaktoren ausreichend, um diese Indikation zu stellen. Die Indikation ist durch eine Tumorkonferenz geprüft und somit kritisch hinterfragt worden und kann auch somit nicht als ein Verstoß gegen gebotene ärztliche Sorgfaltspflicht gewertet werden. Die zusätzliche auf Aufsättigung des Hochrisikotumorbereichs durch eine Brachytherapie liegt im Entscheidungsmaßstab des lokal strahlentherapeutischen Kollegen. Aufgrund der lokalen Hochrisikosituation kann ich diese Entscheidung nachvollziehen und halte sie im Rahmen der gebotenen ärztlichen Sorgfaltspflicht für angebracht. Die Durchführung einer Strahlentherapie bei vorliegender Lymphozele ist ebenfalls kein Verstoß gegen eine gebotene ärztliche Sorgfaltspflicht, sondern resultiert aus dem Abwägen einer möglichen Verzögerung durch Resektion, den damit verbundenen Risiken im Abgleich zur dringlich gebotenen Einleitung einer Strahlentherapie. Auch hier halte ich das Vorgehen für medizinisch adäquat, die Tatsache, dass unter der laufenden Strahlentherapie zur Symptomlinderung der raumfordernden Lymphozele Punktionen durchgeführt worden sind, ist eine nachvollziehbare Maßnahme, die auch nicht als Verstoß gegen eine gebotene Sorgfaltspflicht gewertet werden kann …
Im Kern leidet die Patientin bis heute an Abflussstörungen im Bereich der Harnleiter beidseits. Diese Folge stellt eine klassische Problematik nach einer Wertheim-OP dar, insbesondere, wenn sie mit einer Strahlentherapie kombiniert wurde. Ein fehlerhaftes Handeln kann bei besonderer Betrachtung der Dosisverteilungen nicht abgeleitet werden …
Die durchgeführten medizinischen Maßnahmen waren indiziert und ausreichend. Bezüglich der medizinischen Alternativen könnte hochgradig theoretisch noch diskutiert werden, dass man eine primäre Radiochemotherapie hätte durchführen können. Diese hätte der Patientin die Kombinationstoxizität aus Strahlentherapie und OP erspart, allerdings ist am konkreten Fall der Konjunktiv bereits problematisch. Durch die Biopsie ist in dem fortgeschrittenen Tumor eine Perforation erfolgt, somit war eine chirurgische Sanierung spätestens nach eingetretener Perforation dringlich indiziert. Aus onkologischer/tumormedizinischer Sicht sind die dann durchgeführten Maßnahmen vollständig indiziert gewesen und ausreichend gewesen. Eine sinnhafte Alternative hätte es nicht gegeben …”
In der mündlichen Verhandlung gelangt der Sachverständige noch zu folgenden Feststellungen:
„Ich weise darauf hin, dass es in meinem Gutachten auf Seite 9, 2. Absatz, korrekt heißen muss: „Das Auftreten von Lymphozelen stellt keine zwingende Indikation zur Verzögerung der Einleitung der Radiotherapie/Radio-Chemotherapie dar …
Die adjuvante Strahlentherapie war bereits vorgegeben durch die lokale Tumorausbreitung und Tumorbiologie.
Die Indikationsstellung erfolgt in der Regel durch ein Tumorboard. Das Tumorboard ist in den Unterlagen dokumentiert. Die Dosisverteilung selbst ist lege artis.
Der Fall der Klägerin ist in seiner Individualität (perforierter Tumor) in der Leitlinie nicht abgebildet. Es muss daher ein individuelles Konzept erstellt werden. Die Leitlinie hilft bei der ärztlichen Behandlung in den Eckpunkten weiter.
Die von der Beklagten durchgeführte Behandlung war unter Berücksichtigung der Individualisierung lege artis …
Das primäre Ziel ist die Tumorkontrolle, weil dies lebensbedrohlicher ist. Der Tumorkontrolle werden weitere ggf. notwendige Maßnahmen untergeordnet …
Es kann ex post nicht gesagt werden, auf welche Ursache die Harnleiterproblematik bei der Klägerin zurückzuführen ist. Die Harnleiterproblematik kann bereits durch die Wertheim-Operation angelegt worden sein. Es ist aber so, dass sich das Risiko bei einer OP mit anschließender Bestrahlung erhöht.
Im Bereich der Harnleiter wurde mit 50 Gray bestrahlt. Hierbei handelt es sich um eine vergleichsweise niedrige Dosis. Bei dieser Dosis würde man, wenn man nur bestrahlt ohne vorausgehende OP, nicht mit einem erhöhten Fibroserisiko rechnen.
Bei der Brachytherapie handelt es sich um eine hochgradig individualisierte Therapie. Wir hätten in … sogar mit dreimal 5 Gray bestrahlt, in … wurde mit zweimal 5 Gray bestrahlt.“
(2) Das Gericht folgt den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen und macht sie sich nach eingehender Prüfung zu eigen. Das Gutachten ist in sich schlüssig und nachvollziehbar. Insbesondere ist der Sachverständige von zutreffenden Tatsachen ausgegangen und hat die daraus gezogenen Konsequenzen logisch und widerspruchsfrei dargestellt.
Dem Antrag der Klägerin, ein Obergutächten einzuholen, war nicht nachzugehen. Die Kammer erachtet das Gutachten nicht für ungenügend im Sinne des § 412 Abs. 1 ZPO. Der Sachverständige Prof. Dr. … ist als Direktor der Klinik für Strahlentherapie und Radioonkologie für die Begutachtung der aufgeworfenen Beweisfragen hervorragend geeignet.
Der Sachverständige hat die Beweisthemen erschöpfend behandelt und verständlich sowie unter Darlegung der entsprechenden Standards und Leitlinien erläutert, wie er zu der Einschätzung gekommen ist. Die Kammer wurde dadurch in die Lage versetzt, sich aufgrund eigener Würdigung ein schlüssiges Bild hiervon zu machen. Eine inhaltlich unsachgemäße Auseinandersetzung des Sachverständigen mit den Gutachten des MDKs ist nicht ersichtlich.
(3) Danach steht zur Überzeugung der Kammer sogar fest, dass die behandelnden Ärzte fehlerfrei gehandelt haben.
Insbesondere konnte aufgrund der lokalen Hochrisikosituation der Klägerin für ein vorzeitiges Ableben die vollständige Versorgung der Lympozele hinten angestellt werden. Die zusätzliche Ausfertigung des Tumorbereiches durch eine Brachytherapie war nachvollziehbar und angebracht. Auch die Dosis der Bestrahlung mit 2 mal 5 Gray war nicht zu beanstanden und sogar noch vergleichsweise niedrig.
Die Indikation für die Bestrahlung ist durch eine Tumorkonferenz geprüft und somit kritisch hinterfragt worden. Ein Verstoß gegen gebotene ärztliche Sorgfaltspflichten hat nicht bestanden.
Aus dem Umstand, dass sich die die Strahlentherapie durchführende Ärztin noch in der Facharztausbildung befunden hat, vermag die Klägerin ebenfalls keine Rechte herzuleiten. Zwar führt eine hieraus etwaige abzuleitende mangelnde Befähigung der Zeugin … zur Behandlung gemäß § 630 h Abs. 4 BGB zu einer Beweislastumkehr hinsichtlich der (nunmehr fehlenden) Kausalität zwischen mangelnder fachlicher Qualifikation und Eintritt der gesundheitlichen Folgen. Die entsprechende Beweisführung ist der Beklagten aber auch gelungen. Nach den Angaben des Sachverständigen stellen die klägerischen Beschwerden nämlich eine klassische Problematik nach einer Wertheim-OP dar, insbesondere, wenn sie mit einer Strahlentherapie kombiniert wurde. Da die Durchführung der Strahlentherapie in Feldwahl und Dosis, wie der Sachverständige plausibel konstatiert hat, zudem einwandfrei war, ist der Nachweis, dass die Beschwerden der Klägerin schicksalhaft eingetreten sind, zur Überzeugung der Kammer geführt.
Nach alledem ist zu konstatieren, dass sich auf tragische Weise einzig das der Behandlung immanente Komplikationsrisiko verwirklicht hat.
2. Ein klägerischer Anspruch auf Zahlung von Schmerzensgeld folgt ferner nicht aus §§ 280 Abs. 1, 249, 253 Abs. 2, 630 e, 630 a BGB.
Ein Aufklärungsfehler liegt nicht vor bzw. begründet keine Haftung der Beklagten.
a. Dabei ist zwar durchaus diskussionswürdig, ob die Klägerin auch über das erhöhte Risiko von Harnleiterbeschwerden bei Bestrahlung nach vorangegangener Operation hätte aufgeklärt werden müssen. Selbst wenn dieser Auffassung, die die Kammer für vertretbar hält, gefolgt wird, vermag dies der Klägerin indes nicht zum Erfolg zu verhelfen.
Zwischen dem Unterlassen der gebotenen Aufklärung und dem Auftreten der entsprechenden Folgen ist nämlich bereits ein Pflichtwidrigkeitszusammenhang fraglich.
So hat der Sachverständige, wie aufgezeigt, erläutert, dass es ex-post nicht gesagt werden könne, auf welche Ursache die Harnleiterproblematik bei der Klägerin zurückzuführen ist. Die Harnleiterproblematik könne bereits durch die Wertheim-Operation angelegt worden sein.
Im schriftlichen Ergänzungsgutachten vom … führt der Sachverständige weiter wie folgt aus:
„… Daten zeigen … zunächst, dass das chirurgische Vorgehen hoch relevant für das Auftreten von späteren Nebenwirkungen ist …
Zu den spezifischen Nebenwirkungen der Patienten – im Kern Strikuren – liegen wenige verlässliche Daten vor. Eine aktuelle Arbeit, in der die Nebenwirkungen am Genitaltrakt nach einer Radiochemotherapie mit Brachytherapie ohne Operation beschrieben werden, findet sich bei Fokdal in 2018 und 2019. Die Arbeit von 2019 beinhaltet im Kern das Risiko von Uretherstrikuren nach primärer Radiochemotherapie und Brachytherapie. Für Patienten mit kleinen Tumoren … entsteht ein Risiko von ca. 1 Prozent nach 60 Monaten in einer Kohorte von 1860 Patienten. Das Risiko steigt stark an in Abhängigkeit mit der Tumorgröße – dies ist ein Hinweis, dass Schäden an den Uretheren durch den Tumor mitverursacht werden. Zu beachten ist auch, dass in dieser Studie etwas höhere Bestrahlungsgesamtdosen appliziert worden sind, da der primäre Tumor nicht operiert wurde. In der Summe ist somit das Risiko durch die Strahlentherapie verglichen mit den alleinigen chirurgischen Risiken als vergleichsweise gering anzusehen …”
Demnach ist das Risiko für das Auftreten der klägerischen Beschwerden bei einer Kombination aus Operation und Bestrahlung gegenüber dem Risiko nach allein erfolgter Operation derzeit nur schwer fassbar, jedenfalls wahrscheinlich aber nur leicht erhöht.
Folglich ist selbst eine auch nur geringfügige, haftungsauslösende Mitursächlichkeit der zusätzlichen Bestrahlung für die Harnleiterkomplikationen der Klägerin nicht zweifelsfrei bewiesen.
Ob sich das (erhöhte) Risiko der Kombination aus Operation und Bestrahlung bei der Klägerin tatsächlich verwirklicht hat, ist letztlich nicht aufklärbar. Es steht nach wie vor unwiderlegt im Raum, dass bereits die Operation, hinsichtlich derer keine Aufklärungspflichtverletzung gerügt wurde, allein ausschlaggebend für die klägerischen Harnleiterdisfunktionen war. Die Klägerin ist für die Mitursächlichkeit der Bestrahlung für ihre gesundheitlichen Beschwerden mithin beweisfällig geblieben. Verwirklicht sich aber ein aufklärungspflichtiges und mitgeteiltes Risiko, besteht keine Haftung, auch wenn über ein anderes Risiko nicht aufgeklärt wurde (vgl. BGH NJW 01, 2798). Da eine mangelnde Aufklärung keine Beweislastumkehr für die mangelnde Kausalität der Beschwerden der Klägerin zur Folge hat, gehen die verbleibenden Zweifel im Hinblick auf einen Verursachungsbeitrag der Bestrahlung zu den gesundheitlichen Folgen der Klägerin zu deren Lasten.
Eine mangelnde Aufklärung, die keine Beweislastumkehr für die mangelnde Kausalität der Folgen zeitigt, hätte sich nicht ausgewirkt.
b. Eine Aufklärungspflicht über mögliche Auswirkungen der Bestrahlung auf das Gewebe, insbesondere im Hinblick auf Nahtinsuffizienzen bei Folgeoperationen infolge der Brüchigkeit des bestrahlten Gewebes hat nicht bestanden.
Eine den ärztlichen Heilangriff rechtfertigende Einwilligung des Patienten setzt lediglich voraus, dass er über den Verlauf des Eingriffs, seine Erfolgsaussichten, seine Risiken und mögliche echte Behandlungsalternativen mit gleichwertigen Chancen, aber andersartigen Risiken und Gefahren „im Großen und Ganzen“ aufgeklärt worden ist. Dabei müssen dem Patienten die möglichen Risiken nicht medizinisch exakt und in allen denkbaren Erscheinungsformen dargestellt werden; es genügt, wenn dem Patienten ein allgemeines Bild von der Schwere und Richtung des Risikospektrums dargelegt, ihm die „Stoßrichtung“ die Risiken verdeutlicht wird (BGH, Urteil vom 06.06.2012, Az.: VI ZR 198/09).
Erforderlich ist jedoch nur eine Aufklärung über unmittelbare OP-Risiken (OLG Koblenz, Urteil vom 09.04.2009, Az.: 5 U 621/08).
Die Nahtinsuffizienz des Gewebes der Klägerin stellt jedoch keine unmittelbare Folge der streitgegenständlichen Bestrahlung dar. Sie würde sich vielmehr erst mittelbar aufgrund einer operativen Versorgung der Harnleiterstenosen herausbilden.
Eine Aufklärungspflicht hierüber würde bedeuten, dass zunächst einmal über mögliche hypothetische, noch nicht eingetretene Folgen der unmittelbar zuvor durchgeführten Wertheim-Operation aufgeklärt hätte werden müssen. Zunächst war allerdings noch nicht absehbar, ob und gegebenenfalls welche Folgen die Wertheim-Operation nach sich ziehen könnte. Weiterhin müsste dann darüber aufgeklärt werden, wie diese hypothetische, noch nicht eingetretene Komplikation behandelt werden könnte. Auch insoweit würden sich mannigfaltige Behandlungsmöglichkeiten ergeben. Im Rahmen dieser verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten wäre dann das von der Klägerin bezeichnete Risiko eines der möglichen. Eine derartige Aufklärung über hypothetische Geschehensabläufe würde den Patienten überdies schlichtweg überfordern.
c. Schließlich und dessen ungeachtet ist die Kammer aber davon überzeugt, dass die Klägerin auch bei einem den gesetzlichen Anforderungen genügenden Aufklärungsgespräch in die verfahrensgegenständliche Bestrahlung eingewilligt hätte, sodass die Haftung der Beklagten wegen unvollständiger Aufklärung nach dem Rechtsgedanken der hypothetischen Einwilligung entfallen ist, § 630 h Abs. 2 Satz 2 BGB (vgl. nur BGH, Urteil vom 17.04.2007, Az.: VI ZR 108/06, VersR 2007, 999, 1000).
Für den Einwand, der Patient würde auch im hypothetischen Fall einer ordnungsgemäßen Aufklärung in den Eingriff eingewilligt haben, ist der Arzt darlegungs- und beweispflichtig. An diesen Beweis sind immer besonders strenge Anforderungen zu stellen. Allerdings bedarf die Beweisführung des Arztes, der in einer solchen Konstellation im Regelfall ein Bestreiten des Patienten widerlegen muss, ein plausibles Vorbringen des Patienten zu Überzeugung des Gerichts, dass dieser, wäre er vor der Operation vollständig aufgeklärt worden, vor einem echten Entscheidungskonflikt gestanden hätte. Zwar sind an die Substantiierungspflicht für die Darlegung eines solchen Konflikts durch den Patienten keine hohen Anforderungen zu stellen, das Vorbringen des Patienten muss aber ergeben, in welcher persönlichen Entscheidungssituation er bei vollständiger und ordnungsgemäßer Aufklärung über das Für und Wider des Eingriffs gestanden hätte und ob ihn die Aufklärung ernsthaft vor die Frage gestellt hätte, seine Einwilligung zu erteilen oder nicht. Dabei braucht er nicht darzulegen, wie er sich tatsächlich entschieden hätte (Spickhoff/Greiner, Medizinrecht, 3. Aufl. 2018, § 839 BGB Rn. 284; Beck OK BGB, 51. Edition, § 630 h BGB Rn. 38).
Gemessen an diesen Maßstäben ergeben sich aus der entsprechenden Einlassung der Klägerin keine greifbaren Anhaltspunkte für einen echten Entscheidungskonflikt, sodass der beklagtische Einwand der hypothetischen Einwilligung durchgreift.
Zwar hat die Klägerin im Rahmen ihrer informatorischen Anhörung erklärt, dass sie sich nicht hätte bestrahlen lassen, wenn Sie das Risiko von Abflussstörungen in den Harnleitern bei kombinierter Operation und Bestrahlung gekannt hätte. Für sie sei auch die Kenntnis davon, dass im Falle einer Harnleiterproblematik eine operative Korrektur ohne vorhergehende Bestrahlung anders als beim nunmehr vorliegenden Zustand noch möglich gewesen sei, ein entscheidender Aspekt gewesen.
Dieser Aussage können keinerlei Gründe entnommen werden, die einen ernsthaften Entscheidungskonflikt der Klägerin plausibel erscheinen lassen.
Die gesundheitlichen Folgen, mit denen die Klägerin zu leben hat, sind zwar einerseits gravierend und zweifelsohne nur schwer zu verkraften und zu bewältigen.
Andererseits hätte sich die Klägerin bei nicht erfolgter Bestrahlung, wie der Sachverständige überzeugend ausgeführt hat, der hohen Wahrscheinlichkeit eines Rezidivs ausgesetzt, welches gegebenenfalls so gut wie immer zum Tode des Patienten führt. Demgegenüber könne die Rezidivrate nach erfolgter Bestrahlung um 47 % reduziert werden.
Die Beurteilung, ob sich der Patient in einem ernsthaften Entscheidungskonflikt befunden hat, ist aus früherer Sicht (ex-ante Betrachtung) vorzunehmen. Es ist also zu bewerten, in welcher Situation sich die Klägerin zum hypothetischen Zeitpunkt einer ordnungsgemäßen Aufklärung kurz vor der Bestrahlung befunden hätte.
Dabei ist insbesondere auch zu berücksichtigen, dass die Klägerin die Beschwerden, unter denen sie seitdem dauerhaft zu leiden hat und die der Klägerin sowohl psychisch als auch physisch derart zu setzen, dass diese ihren Alltag überwiegend bestimmen und alles andere überschatten, zum Zeitpunkt der Aufklärung über die Risiken noch nicht verspürt haben konnte.
Zum maßgeblichen Zeitpunkt der Beurteilung musste der Klägerin bei korrekter Aufklärung allerdings überaus bewusst gewesen sein, dass die Nichtvornahme der (anschließenden) Bestrahlung mit einer nicht auszublendenden Wahrscheinlichkeit zum Tode führen wird. Dies galt umso mehr, als der Tumor zwar randfrei entfernt werden konnte, im Rahmen der vorangegangenen Biopsie allerdings perforiert wurde, was ebenfalls als schicksalhaft zu werten ist, wie der Sachverständige ausgeführt hat. Damit befand sich die Klägerin, wie sie behauptet hat, aber gerade nicht in einer Situation, bei der das Risiko eines Rezidivs als gering einzustufen war. Der Sachverständige hat hierzu ausgeführt, dass mit einer Perforation die anatomischen Grenzen verletzt würden und davon ausgegangen werden müsse, dass Tumorzellen über die bestehenden Tumorgrenzen verschleppt werden. Es entstehe somit eine Situation, die man am ehesten einer R1 Resektion gleichsetzen könne. Formal bedeute „R1“, dass Tumorzellen am Resektionsrand verblieben sind. Ein R1 Status entspreche somit einem ausgesprochen hohen Rezidivrisiko. In der Situation eines pathologisch verifizierten R1 Status sei das Rezidivrisiko nahezu 100 %. Im Detail betrachtet werde das Risiko im konkreten Fall etwas geringer sein, da in der nachfolgenden OP versucht worden sei, die Bereiche der Perforation zu entfernen. Dies sei jedoch kaum sicher prüfbar.
In diesem Zusammenhang ist unerheblich, dass die Klägerin erst im Jahr … über die Perforation aufgeklärt worden ist. Da es sich bei der mutmaßlichen Einwilligung um eine hypothetische Betrachtung handelt, ist dieser eine vollumfängliche Aufklärung zugrundelegen. Zu ihr gehört auch der Umstand, dass der Tumor bei der Biopsie perforiert ist, weil sich damit das Risiko eines Rezidivs deutlich zum Nachteil der Klägerin verschoben hat.
Schließlich ist in die Betrachtung mit einzustellen, dass es zur verfahrensgegenständlichen Bestrahlung keine Alternative, insbesondere im Sinne einer konservativen Therapie gegeben hat.
Der Sachverständige hat zur Überzeugung des Gerichts entsprechend erläutert, dass bislang keine zuverlässigen diagnostischen Maßnahmen etabliert sind, mit denen ein nachwachsendes Rezidiv früh und sicher erkannt werden könnte. Weder mit einem PET, CT noch mit einer MRT kann dies zuverlässig geleistet werden. Es muss zusätzlich berücksichtigt werden, dass das wachsende Rezidiv auf dem Weg vom mikroskopischen Tumor zum sichtbaren Tumor eine erneute und 2. Chance hat, eine Metastasierung zu triggern. Damit würde nicht nur die lokale Kontrolle schlechter sein, sondern durch eine eintretende Metastasierung die Chance auf Heilung vergeben werden. Zur Belastbarkeit einer solchen Nachsorge kann keine Aussage gemacht werden, da bereits die Sinnhaftigkeit dieses Vorgehens in Zweifel zu ziehen ist. Somit hätte auch bei einer angenommenen engmaschigen Kontrolle der Klägerin das Risiko des vorzeitigen Ablebens gegenüber dem bei Durchführung einer Strahlentherapie nicht signifikant gesenkt werden können.
Die Kammer ist sich bewusst, dass nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes grundsätzlich nicht auf einen vernünftigen Patienten abzustellen ist, sondern auf die konkrete Situation des betroffenen Patienten. Damit ist aber nicht die Aussage verbunden, dass die Tatgerichte jeglicher Darstellung von Patienten hinsichtlich des Entscheidungskonflikts zu folgen und insoweit auf jegliche Plausibilitätsprüfung zu verzichten haben. Bei der Frage, ob ein Entscheidungskonflikt plausibel dargestellt ist, kann sehr wohl auf den allgemeinen Erfahrungsgrundsatz zugegriffen werden, dass ein Mensch, insbesondere junge Menschen, der sein Leben noch vor sich hat, sich im Zweifel für eine lebenserhaltende Therapie entscheidet und nicht für ein wahrscheinlich frühen Tod (vgl. auch OLG München, Urteil vom 24.11.2011, Az.: 1 U 4262/10).
Die Klägerin verkennt bei ihrem Vortrag zu einem Entscheidungskonflikt, dass sie auch nach der randfreien Entfernung des Tumors noch schwer krank war und die streitgegenständliche Bestrahlung zur Rettung ihres Lebens erforderlich war. Ein Zwiespalt der Klägerin oder gar eine ausdrückliche Entscheidung für den Tod ist ihren Äußerungen schon allein deshalb nicht zu entnehmen.
Vor diesem Hintergrund konnte bei der Klägerin ein ernsthafter Konflikt im Sinne einer Abwägung zwischen möglichen Strahlenschäden und der nicht geringen Wahrscheinlichkeit des Todes zu Überzeugung des Gerichts nicht bestehen.
Dies gilt nicht zuletzt auch angesichts der Tatsache, dass die Klägerin, wie die Zeugin … nachvollziehbar und glaubhaft geschildert hat, über die nicht minder bedeutsame sichere Folge der Unfruchtbarkeit, über das hohe Risiko der Verklebung und Verengung der Scheide und über das äußerst seltene Risiko einer vollständigen Lähmung aufgeklärt worden ist und dennoch in die Vornahme der Bestrahlung eingewilligt hat. Daneben wurde die Klägerin auch über mögliche Risiken wie insbesondere dauerhafte Verklebungen und Verengungen von Darmschlingen oder chronischen Blasenentzündungen sowie über Einengungen der Harnröhre und der Harnleiter aufgeklärt, wie auch über das Risiko von Fisteln zwischen Blase, Enddarm und Scheide oder zwischen Enddarm und Blase. Dies könne eine Operation erforderlich machen, unter Umständen mit einer lebenslangen Umleitung von Harn und Stuhl (künstlicher Ausgang). Werden zusätzlich durch Einlagen oder Spickung radioaktive Strahler eingesetzt (Brachytherapie) – wie vorliegend bei der Klägerin geschehen – sei dieses Risiko deutlich erhöht.
Die Klägerin hat daher nicht plausibel dargelegt, wie sie nun gerade die nicht quantifizierbare Erhöhung dieses spezifischen Risikos im Vergleich zu allen anderen Risiken, welche sie hingenommen hat, in Anbetracht der sehr wahrscheinlich letalen Entwicklung ihrer Erkrankung vor eine neue Entscheidungssituation gestellt hätte.
II.
Der Feststellungsantrag ist in Ermangelung eines einschlägigen haftungsbegründenden Tatbestandes (nach dem oben Gesagten) ebenfalls unbegründet.
C.
Die prozessualen Entscheidungen ergehen aufgrund der §§ 91, 709 Satz 1, 2 ZPO, 63 Abs. 2 GKG.


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