Medizinrecht

Beurteilung der Schuldfähigkeit eines alkoholisierten Täters – Unzulässigkeit der Berufungsbeschränkung

Aktenzeichen  2 OLG 7 ss 105/16

Datum:
7.2.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
NStZ-RR – 2017, 171
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
Bamberg
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
StGB StGB § 20, § 21, § 49 Abs. 1, § 64
StPO StPO § 246a, § 318, § 333, § 341 Abs. 1, § 344, § 345, § 353 Abs. 1 u. 2

 

Leitsatz

1. Die Berufungsbeschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch ist unwirksam, wenn das Erstgericht trotz Vorliegens entsprechender Anhaltspunkte weder die Frage der Schuldfähigkeit (§ 20 StGB) hinreichend geprüft noch die Annahme erheblich verminderter Schuldfähigkeit des Angeklagten (§ 21 StGB) rechtsfehlerfrei begründet hat. Maßgeblich für die Beurteilung der Wirksamkeit der Berufungsbeschränkung (§ 318 StPO) ist dabei das Ergebnis der der Urteilsverkündung durch das Berufungsgericht vorausgehenden Urteilsberatung, weil erst dann endgültig überprüft werden kann, ob die Voraussetzungen für die Annahme einer Trennbarkeit und Widerspruchsfreiheit zur Schuld- und Rechtsfolgenfrage und damit für die Frage der Wirksamkeit der Rechtsmittelbeschränkung vorlagen (Festhaltung an OLG Bamberg, Beschl. v. 09.12.2014 – 2 OLG 7 Ss 121/14 = OLGSt StPO § 318 Nr. 24). (amtlicher Leitsatz)
2. Der Beurteilung der Schuldfähigkeit eines alkoholisierten Täters hat auch dann der Versuch einer Berechnung der Blutalkoholkonzentration (BAK) zur Tatzeit vorauszugehen, wenn sich deren Berechnung als schwierig erweist, weil die Einlassung des Angeklagten sowie ggf. Bekundungen von Zeugen lediglich eine ungefähre zeitliche und mengenmäßige Eingrenzung des Alkoholkonsums zulassen. Auch in solchen Fällen ist deshalb die Berechnung – ggf. unter Inanspruchnahme sachverständiger Hilfe – aufgrund einer Schätzung unter Berücksichtigung des Zweifelssatzes vorzunehmen. Hiervon darf das Tatgericht nur dann Abstand nehmen, wenn nach Ausschöpfung der vorhandenen Beweise sich auch keine annähernd verlässliche Berechnung zur Tatzeit durchführen ließe (u. a. Anschluss an BGH, Beschl. v. 28.04.2010 – 5 StR 135/10 = NStZ-RR 2010, 257 = RUP 2010, 227). (amtlicher Leitsatz)
3. Fehlende Erfolgsaussichten einer Unterbringung nach § 64 StGB können nicht allein damit begründet werden, dass andere Behandlungsmaßnahmen erfolgversprechend, geplant oder bereits begonnen wurden. Ein bereits erzielter Behandlungserfolg einer zwischenzeitlich begonnenen (freiwilligen) Therapie kann die Anordnung der Unterbringung nach § 64 StGB aber ausnahmsweise entbehrlich machen (u. a. Anschluss an BGH, Beschl. v. 03.03.2016 – 4 StR 497/15 = BGHR StGB § 46 I Spezialprävention 6 und 07.01.2008 – 5 StR 425/07 = RuP 2008, 229). (amtlicher Leitsatz)

Gründe

I. Die gemäß § 333 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige (§§ 341 I, 344, 345 StPO) Revision des Angekl. hat bereits deshalb – zumindest vorläufigen – Erfolg, weil dem Senat eine Überprüfung, ob das LG zu Recht von einer wirksamen Beschränkung der Berufungen auf den Rechtsfolgenausspruch ausgegangen ist, auf der Grundlage der im Berufungsurteil zu einer möglichen alkoholbedingten Aufhebung bzw. Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit des Angekl. zum Tatzeitpunkt getroffenen Feststellungen nicht möglich ist.
1. Auf eine zulässige und ihrerseits unbeschränkte Revision hat das Revisionsgericht von Amts wegen, unabhängig von einer sachlichen Beschwer des Rechtsmittelführers, zu prüfen, ob das Berufungsurteil über alle Teile des erstinstanzlichen Urteils entschieden hat, die der Überprüfungskompetenz der Berufungskammer unterlagen (LR/Franke StPO 26. Aufl. § 337 Rn. 37; Graf [Hrsg.]/Eschelbach StPO 2. Aufl. § 318 Rn. 31). Aus diesem Grund muss das Revisionsgericht auch nachprüfen, ob und inwieweit erklärte Berufungsbeschränkungen (§ 318 StPO) rechtswirksam waren (OLG Bamberg, Beschl. v. 09.12.2014 – 2 OLG 7 Ss 121/14 = OLGSt StPO § 318 Nr. 24 und 31.07.2014 – 2 Ss 77/14 [unveröffentlicht]; OLG Bamberg, Urt. v. 25.06.2013 – 3 Ss 36/13 = DAR 2013, 585 = OLGSt StVG § 21 Nr. 10; OLG München ZfS 2012, 472; Meyer-Goßner/Schmitt StPO 59. Aufl. § 318 Rn. 33; § 352 Rn. 4).
a) Im Ansatz zutreffend ist das LG davon ausgegangen, dass eine Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch grundsätzlich zulässig ist und die Frage der erheblich verminderten Schuldfähigkeit nach § 21 StGB, welche zur Rechtsfolge gehört, grundsätzlich von der Frage der Schuldfähigkeit nach § 20 StGB, die dem Schuldspruch zuzurechnen ist, trennbar ist. Allerdings ist eine Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch dann unwirksam, wenn bereits das AG weder die Frage der Schuldfähigkeit nach § 20 StGB geprüft hat, obwohl aufgrund seiner eigenen Feststellungen Anlass hierfür bestand, noch eine erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit nach § 21 StGB rechtsfehlerfrei begründet hat (OLG Bamberg, Beschl. v. 09.12.2014 – 2 OLG 7 Ss 121/14 = OLGSt StPO § 318 Nr. 24; OLG Köln NStZ 1984, 379; BayObLGST 1994, 253; BayObLG NZV 2001, 353; BGH NJW 2001, 1435; BayObLG NJW 2003, 2397 [zur Frage der Beschränkung des Einspruchs gegen einen Strafbefehl]; OLG Hamm BA 45, 262; OLG Hamm NStZ-RR 2008, 138; OLG Hamm, Beschl. v. 14.01.2014 – 3 RVs 97/13 = BeckRS 2014, 12983; Meyer-Goßner/Schmitt § 318 Rn. 17 m. w. N.; Eschelbach § 318 Rn. 18 a.E. m. w. N.). In einem solchen Fall kann aufgrund der lückenhaften Feststellungen nicht ausgeschlossen werden, dass der Angekl. schuldunfähig war. Damit besteht zwischen der Schuld- und Straffrage eine derart enge Verbindung, dass eine isolierte Überprüfung des angefochtenen Teils nicht möglich ist.
b) Insoweit entspricht es gefestigter Rspr. auch des Senats (OLG Bamberg, Beschl. v. 09.12.2014 – 2 OLG 7 Ss 121/14 = OLGSt StPO § 318 Nr. 24), dass das Berufungsgericht die Wirksamkeit der Berufungsbeschränkung von Amts wegen endgültig erst aus der Sicht des Ergebnisses der Beratung über die zu treffende Entscheidung zu prüfen hat, weil nur so im konkreten Einzelfall geprüft werden kann, ob – ggf. auch unter Berücksichtigung durchgeführter Beweiserhebungen zum Rechtsfolgenausspruch – Trennbarkeit und Widerspruchsfreiheit im oben angeführten Sinn bejaht werden kann (BGHSt 27, 70/72; OLG Koblenz NStZ-RR 2005, 178; OLG Bamberg, Beschl. v. 10.09.2012 – 2 Ss 91/12 [unveröffentlicht]; KG, Beschl. v. 27.08.2013 – 161 Ss 101/13 [bei juris] = BeckRS 2013, 18258; OLG Bamberg, Beschl. v. 30.05.2014 – 2 Ss 67/2014; Meyer-Goßner/Schmitt § 318 Rn. 8; KK/Paul StPO § 318 Rn. 1 a.E.).
c) Dass das LG jedenfalls auf der Grundlage der von ihm getroffenen Feststellungen mit Blick auf die angegebenen Trinkmengen, die Alkoholgewöhnung des Angekl. und sein Nachtatverhalten eine vollständige Aufhebung der Steuerungsfähigkeit i. S.v. § 20 StGB ausgeschlossen hat mit der Folge der Wirksamkeit der Berufungsbeschränkungen, begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Soweit sich das LG hierfür – dem AG folgend – im Wesentlichen auf die „noch mögliche Artikulierung“ des Angekl. und seine „planmäßige Flucht“ stützt, fehlen hierzu schon nähere Ausführungen zum Verhalten des Angekl., die dem Senat die Überprüfung dieser Erwägungen ermöglichen. Dies wäre aber schon im Hinblick auf den Umstand geboten gewesen, dass Trinkgewöhnung bei Alkoholikern zu körperlich unauffälligem Verhalten auch bei extrem hohen BAK-Werten führen kann und im Übrigen der ‚Zielgerichtetheit‘ des Täterverhaltens für sich allein kaum Aussagewert zukommt (Fischer StGB 64. Aufl. § 20 Rn. 20, 25, jeweils m. w. N.). Vor diesem Hintergrund wäre das LG insbesondere mit Blick auf die von dem Angekl. angegeben Trinkmengen und die von ihm geltend gemachte Erinnerungslosigkeit gehalten gewesen, ggf. mit sachverständiger Hilfe nähere Einzelheiten zur Alkoholisierung des Angekl. aufzuklären. Insoweit entspricht es ständiger Rspr. des Bundesgerichtshofs, dass bei einem alkoholisierten Täter für die Beurteilung der Schuldfähigkeit eine Berechnung der Blutalkoholkonzentration (BAK) zur Tatzeit vorausgehen muss, um den Grad der Alkoholisierung einschätzen zu können (vgl. nur BGH, Beschl. v. 28.04.2010 – 5 StR 135/10 = NStZ-RR 2010, 257 = RUP 2010, 227; BGH, Beschl. v. 26.05.2009 – 5 StR 57/09 = BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 41 = BGHR JGG § 74 Kosten 3; BGH, Urt. v. 13.05.1993 – 4 StR 183/93 = StV 1993, 519). Hiervon kann der Tatrichter nicht schon dann Abstand nehmen, wenn sich die Berechnung als schwierig erweist, etwa weil die Angaben zum konsumierten Alkohol nicht exakt sind. Vielmehr ist in solchen Fällen eine Berechnung der BAK aufgrund von Schätzungen unter Berücksichtigung des Zweifelssatzes auch dann vorzunehmen, wenn die Einlassung des Angekl. sowie gegebenenfalls die Bekundungen von Zeugen zwar keine sichere Berechnungsgrundlage ergeben, jedoch eine ungefähre zeitliche und mengenmäßige Eingrenzung des Alkoholkonsums ermöglichen (BGH, Beschl. v. 28.04.2010 – 5 StR 135/10 = NStZ-RR 2010, 257 = RUP 2010, 227 m. w. N.). Hiervon hätte das LG nur dann Abstand nehmen dürfen, wenn nach Ausschöpfung der vorhandenen Beweise sich auch keine annähernd verlässliche Berechnung der BAK zur Tatzeit durchführen ließe. Dass diese Prämissen erfüllt waren, lässt sich den Urteilsgründen indes nicht entnehmen.
2. Die neue Strafkammer wird daher – ggf. unter Inanspruchnahme sachverständiger Hilfe – die tatsächlichen Grundlagen, die für die Beurteilung der Schuldfähigkeit mit Blick auf den der Tat vorangegangenen Alkoholkonsum von Bedeutung sind, zu klären und hierzu Feststellungen zu treffen haben. Sie hat sodann in eigener Verantwortung die Subsumtion unter §§ 20, 21 StGB vorzunehmen und auf dieser Grundlage die Frage der Wirksamkeit der Berufungsbeschränkung erneut zu prüfen.
II. Auf die Revision des Angekl. hin ist daher das angefochtene Urteil bereits wegen des aufgezeigten sachlich-rechtlichen Mangels mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben (§ 353 I und II StPO), ohne dass es auf das Vorliegen weiterer Rechtsfehler ankommt. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten des Revisionsverfahrens – an eine andere Strafkammer des LG zurückverwiesen (§ 354 II 1 StPO).
III. Die neue Strafkammer wird Folgendes zu beachten haben:
1. Fakultative Strafrahmenmilderung
Im Falle eingeschränkter Schuldfähigkeit i. S.v. § 21 StGB können zwar schulderhöhende Umstände zur Versagung der fakultativen Strafrahmenmilderung gemäß §§ 21, 49 I StGB führen, wenn durch diese Umstände die infolge Herabsetzung der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit verminderte Tatschuld aufgewogen wird (vgl. Fischer § 21 Rn. 20 ff.). Dies setzt im Falle einer alkoholbedingten Verminderung der Schuldfähigkeit indes regelmäßig voraus, dass diese auf eine selbst zu verantwortende, verschuldete Berauschung zurückgeht und dem Täter uneingeschränkt vorwerfbar ist (BGH NStZ 2008, 330). Eine Intoxikation ist dem Täter jedenfalls dann nicht uneingeschränkt vorwerfbar, wenn er alkoholkrank ist und aufgrund unwiderstehlichen Drangs trinkt, weil ihm als Alkoholiker die Kraft fehlt, sich vom Alkohol zu lösen, wenn ihn der Alkohol weitgehend beherrscht oder der jahrelang betriebene Alkoholabusus bereits eine hirnorganische Störung hervorgerufen hat (vgl. Schönke-Schröder/Perron/Weißer StGB 29. Aufl. § 21 Rn. 20; Fischer § 21 Rn. 26). Im Hinblick auf die bisherigen Urteilsfeststellungen zur Vorahndungslage, zum Verlauf der vorausgegangenen Alkoholtherapie sowie zu den Angaben des Angekl. hinsichtlich Trinkmenge, Erinnerungslosigkeit und gewohnheitsmäßigen, exzessiven Alkoholkonsums sind die Erwägungen, mit denen das LG die Milderung des Strafrahmens abgelehnt hat, nicht geeignet, die Annahme einer selbstverschuldeten Alkoholisierung zu tragen.
2. Anordnung der Unterbringung in der Entziehungsanstalt (§ 64 StGB)
Nach den bisher getroffenen Feststellungen, wonach der Angekl. mehrfach wegen unter Alkoholeinwirkung begangener Taten vorgeahndet ist und den Abbruch einer von ihm in Befolgung einer Bewährungsauflage angetretenen stationären Alkoholtherapie durch Rückfall nach eigenmächtigem Entfernen veranlasst hat, sowie mit Blick auf das von ihm angegebene Trinkverhalten drängt sich die Prüfung auf, ob eine Maßregel nach § 64 StGB anzuordnen ist (vgl. BGH, Beschl. v. 13.03.2013 – 2 StR 60/13 [bei juris]). Langjähriger exzessiver Alkoholkonsum macht die Auseinandersetzung damit erforderlich, ob bei dem Angekl. ein Hang im Sinne von § 64 StGB vorliegt, mithin eine chronische auf körperlicher Sucht beruhende Abhängigkeit oder zumindest eine eingewurzelte, auf psychischer Disposition beruhende oder durch Übung erworbene intensive Neigung, immer wieder Alkohol zu sich zu nehmen (st.Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschl. v. 20.12.2011 – 3 StR 421/11 = NStZ-RR 2012, 204 m. w. N.). Dass sich der Angekl. einer weiteren freiwilligen stationären Alkoholtherapie unterzogen hat, welche zum Zeitpunkt der Berufungshauptverhandlung etwa 6 Wochen andauerte, machte diese Prüfung nicht obsolet. Fehlende Erfolgsaussichten der Unterbringung nach § 64 StGB können nicht allein darauf gestützt werden, dass andere Maßnahmen erfolgversprechend, ins Auge gefasst oder bereits begonnen wurden. Zwar kann ein zwischenzeitlich bereits erzielter Behandlungserfolg einer bereits begonnenen Therapie ausnahmsweise die Anordnung der Unterbringung nach § 64 StGB entbehrlich machen (vgl. BGH, Urt. v. 03.03.2016 – 4 StR 497/15 = BGHR StGB § 46 I Spezialprävention 6). Ein solcher war ausweislich der Feststellungen des LG aber jedenfalls zum Zeitpunkt der Berufungshauptverhandlung (noch) nicht gegeben (vgl. hierzu BGH, Beschl. v. 07.01.2008 – 5 StR 425/07 = BeckRS 2008, 01548). Daher wird sich ggf. die neue Strafkammer – unter Hinzuziehung eines Sachverständigen gemäß § 246a StPO – mit der Frage der Frage der Anordnung der Unterbringung nach § 64 StGB zu befassen haben. […]


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