Medizinrecht

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Aktenzeichen  RN 1 K 19.31637

Datum:
15.12.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 47169
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Regensburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Der Gerichtsbescheid ist in Ziffer II. vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Über die Klage konnte gemäß § 84 Abs. 1 VwGO durch Gerichtsbescheid entschieden werden, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist, der Sachverhalt geklärt ist und die Beteiligten vorher angehört wurden; das Einverständnis der Beteiligten ist hierzu nicht erforderlich.
Die zulässige – insbesondere fristgemäß erhobene (§§ 74 Abs. 1 Hs. 2, 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG) – Klage ist unbegründet und war daher abzuweisen.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Tunesien.
1. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 – EMRK – (BGBl. 1952 II, S. 686) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. In diesem Zusammenhang kommt vor allem eine Verletzung des Art. 3 EMRK in Frage (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – juris), wonach niemand unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, die auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verweist, ist eine unmenschliche Behandlung und damit eine Verletzung des Art. 3 EMRK allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen möglich (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C.15.12 – juris = BVerwGE 146, 12; U.v. 13.6.2013 – 10 C 13.12 – juris = BVerwGE 147, 8 = NVwZ 2013, 1489; EGMR, U.v. 21.1.2011 – M.S.S./Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09 – NVwZ 2011, 413; U.v. 28.6.2011 – Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 – NVwZ 2012, 681; U.v. 13.10.2011 – Husseini/Schweden, Nr. 10611/09 – NJOZ 2012, 952). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR, U.v. 28.6.2011 – Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 – NVwZ 2012, 681, Rn. 278, 282 f.) verletzen humanitäre Verhältnisse Art. 3 EMRK zum einen in ganz außergewöhnlichen Fällen, wenn die humanitären Gründe gegen die Rückführung in den Herkunftsstaat „zwingend“ seien. Solche humanitären Gründe können auch in einer völlig unzureichenden Versorgungslage begründet sein (so auch BayVGH, U.v. 19.7.2018 – 20 B 18.30800- juris, Rn. 54).
Im Falle einer Rückführung des Klägers in sein Heimatland kann eine Verletzung von Art. 3 EMRK nicht angenommen werden. Eine Verletzung von Menschenrechten oder Grundfreiheiten, die sich aus der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz des Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergäbe, ist vom Kläger nicht dargetan und für das Gericht auch nicht ersichtlich.
Aufgrund der generellen Arbeitsfähigkeit des Klägers kann davon ausgegangen werden, dass es ihm möglich ist, sich im Heimatland Tunesien notfalls auch mittels Gelegenheitsarbeiten ein Leben zumindest am Existenzminimum aufzubauen. Der Kläger hat in seiner Anhörung beim Bundesamt am 14. Juni 2011 selbst angegeben, dass er neben Arabisch auch Englisch und Französisch sprechen kann. Er habe insgesamt 13 Jahre die Schule besucht und habe im Dekorationsbereich gearbeitet. Von 2004 bis 2006 habe er so eine Art Ausbildung gemacht. Er habe die Kosten für die Flucht in Höhe von etwa 3000 Euro alleine aufbringen können.
Es ist nicht ersichtlich, warum der Kläger im Falle seiner Rückkehr nicht in der Lage sein sollte, sich den Lebensunterhalt selbst zu erwirtschaften. Er unterscheidet sich in keiner Weise von einer Vielzahl anderer junger Erwachsener, die nach einem mehrjährigen Aufenthalt im Ausland in ihr Heimatland zurückkehren müssen und dort wieder selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen müssen.
Zur allgemeinen Situation für Rückkehrer nach Tunesien wird auf den aktuellen Lagebericht des Bundesamts vom 19 Februar 2021 (Stand: Dezember 2020) unter IV. Rückkehrfragen, v.a. 1. Situation für Rückkehrer, 1.1. Grundversorgung und 1.3. medizinische Versorgung, S. 20 ff. verwiesen.
2. Auch die Voraussetzungen von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen hinsichtlich dem Kläger nicht vor.
Danach soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche, konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Die Not- und Gefahrenlage, der die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, ist nach § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG grundsätzlich bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen, d.h. im Wege einer generellen politischen Leitentscheidung der obersten Landesbehörden und nicht durch Einzelfallentscheidungen des Bundesamts.
Fehlt es – wie hier – an einem solchen Abschiebestopp-Erlass oder einem sonstigen vergleichbar wirksamen Abschiebungshindernis, ist die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG bei verfassungskonformer Auslegung ausnahmsweise dann unbeachtlich, wenn dem Ausländer auf Grund der allgemeinen Verhältnisse mit hoher Wahrscheinlichkeit extreme Gefahren drohen. Diese Voraussetzungen hat das Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung mit der Formulierung umschrieben, eine Abschiebung müsse ungeachtet der Erlasslage dann ausgesetzt werden, wenn der Ausländer ansonsten „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde“ (vgl. z.B. BVerwG, B. v. 14.11.2007 – 10 B 47/07 – juris m.w.N.). Eine extreme Gefahrenlage in diesem Sinn ist indes grundsätzlich auch dann anzunehmen, wenn dem Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage in seiner Heimat landesweit der alsbaldige sichere Hungertod drohen würde. Von einer derartigen extremen Gefahrenlage bzw. von einem begründeten Ausnahmefall im gerade dargelegten Sinne ist vorliegend jedoch nicht auszugehen.
Der volljährige Kläger ist im Wesentlichen gesund und ohne wesentliche erwerbsfähigkeitsmindernde Umstände. Die im Rahmen des Verfahrens vorgelegten ärztlichen Atteste sind völlig unzureichend, um erwerbsfähigkeitsmindernde Umstände oder eine Reiseunfähigkeit substantiiert dazutun. Aufgrund der generellen Arbeitsfähigkeit des Klägers kann davon ausgegangen werden, dass es ihm möglich ist, sich im Heimatland Tunesien notfalls auch mittels Gelegenheitsarbeiten ein Leben zumindest am Existenzminimum aufzubauen (siehe dazu die Ausführungen unter 1.).
Nach § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG liegt eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Erforderlich, aber auch ausreichend für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist, dass sich eine vorhandene Erkrankung des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, d.h. eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht (BVerwG, U.v. 17.10.2006 – 1 C 18.05 – juris).
Der Kläger hat nicht substantiiert vorgetragen und durch entsprechende ärztliche Atteste nachgewiesen, an einer Erkrankung zu leiden, die ihn in eine derartige Gefahr bringen könnte. Es wird daher gemäß § 60 a Abs. 2c AufenthG vermutet, dass einer Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen.
Die Qualität der vorgelegten Atteste erfüllt bei weitem nicht die von der obergerichtlichen Rechtsprechung entwickelten und zwischenzeitlich in §§ 60 Abs. 7 Satz 2, 60 a Abs. 2 c AufenthG formulierten Mindestanforderungen an ärztliche Atteste, mit denen ein Abschiebungshindernis geltend gemacht werden soll (hinsichtlich Diagnose, Schweregrad der Erkrankung, Klassifizierung, Behandlung, Folgen eines Therapieabbruchs). Die bloße Feststellung, dass eine Psychotherapie geplant sei, ist schon zu unbestimmt und stellt keinen konkreten Befund dar. Welche Untersuchungsergebnisse herausgekommen sind und welche therapeutischen Maßnahmen in Abhängigkeit davon veranlasst sind, sofern dies überhaupt der Fall gewesen ist, ist nicht bekannt. Soweit der Kläger sich auf eine Erkrankung von vor fünf Jahren und eine Operation im Jahr 2014 bezieht wird darauf hingewiesen, dass diese im Rahmen des damaligen Asylverfahrens (obwohl über dieses erst im Jahr 2016 entschieden wurde) nicht einmal vorgetragen wurde.
Soweit der Kläger aufgrund einer psychischen Erkrankung tatsächlich der ärztlichen Behandlung bedürfte, wäre er auf Behandlungsmöglichkeiten und den Erhalt von Medikamenten in seinem Heimatland zu verweisen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19.2.2021 – Stand: Dezember 2020, IV. Rückkehrfragen, 1. Situation für Rückkehrer, 1.1 Grundversorgung sowie 1.3 Medizinische Versorgung S. 20 – 21 des Lageberichts). Danach hat die medizinische Versorgung ein für ein Schwellenland übliches Niveau. Eine weitreichende Versorgung ist in den Ballungsräumen gewährleistet, auch die Behandlung psychischer Erkrankungen ist möglich. Dies wird auch durch das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich (BFA) vom 30. Juni 2020 unter Ziffer 17 „Medizinische Versorgung“ bestätigt.
Auch ein krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG scheidet daher aus.
3. Darüber hinaus führt auch die derzeitige weltweite COVID-19-Pandemie, ausgelöst durch das SARS-CoV-2-Virus, nicht zur Feststellung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbotes hinsichtlich Tunesien.
Diese Pandemie stellt allenfalls eine allgemeine Gefahr dar, die aufgrund der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG grundsätzlich nicht rechtfertigen kann. Mangels einer derartigen Anordnung kann diese Sperrwirkung nur im Wege einer verfassungskonformen Auslegung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG eingeschränkt werden, wenn für den Schutzsuchenden ansonsten eine verfassungswidrige Schutzlücke besteht. Die Voraussetzungen für die Durchbrechung der Sperrwirkung liegen indessen nicht vor, da die hierfür geforderte extreme Gefahrenlage – die Abschiebung würde den Betroffenen „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausliefern“ (BVerwG, U.v.12.7.2001 – 1 C 2/01 – juris Rn. 9) – in Tunesien zumindest derzeit nicht besteht.
Bei dem Kläger handelt es sich nach den Erkenntnissen des Gerichts um einen 43-jährigen Mann ohne relevante Vorerkrankungen, sodass selbst im Falle der Erkrankung keine hohe Wahrscheinlichkeit für einen schweren oder tödlichen Verlauf der Erkrankung besteht. Zudem hat es der Kläger selbst in der Hand, durch die notwendigen Schutzmaßnahmen (Impfung, Einhaltung der Abstands- und Hygieneregelungen) die Gefahr einer Erkrankung zu reduzieren. Überdies breitet sich die Pandemie länder- und kontinentübergreifend aus, sodass ein auf Tunesien bezogenes Abschiebungsverbot keinen Schutz vor einer Infektion böte, da das Infektionsrisiko weltweit und damit auch in Deutschland besteht (so auch VG Berlin, U.v. 8.6.2020 – 32 K 112.17 A – juris Rn. 107).
Außerdem fehlen belastbare Anhaltspunkte dafür, dass sich die Wirtschafts- und Versorgungslage der Bevölkerung im Zuge der Pandemie in Tunesien derart verschlechtert, dass der Kläger nicht mehr in der Lage wäre, seinen Lebensunterhalt sicherzustellen. Das Gericht verkennt – auch unter Berücksichtigung der COVID- 19 – Pandemie nicht die mitunter schwierigen Lebensverhältnisse in Tunesien. Diese betreffen jedoch tunesische Staatsangehörige in vergleichbarer Lage in gleicher Weise.
Nach alledem vermag das Gericht eine extreme Gefahrensituation für den Kläger nicht zu erkennen, aufgrund derer eine Rücküberstellung nach Tunesien ausscheiden müsste.
Die Feststellung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 AufenthG schied daher aus.
Daher war die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO; Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf den §§ 167 VwGO, 708 ff. ZPO.
Der Gegenstandswert folgt aus § 30 RVG.


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