Medizinrecht

Einstweilige Anordnung, Pakistan, Psychische Erkrankung, Reiseunfähigkeit (nicht glaubhaft gemacht)

Aktenzeichen  M 4 E 22.573

Datum:
8.2.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 3129
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 123
AufenthG § 60a Abs. 2

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 1.250,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt mit seinem Antrag den Erlass einer einstweiligen Anordnung auf vorläufige Aussetzung seiner bevorstehenden Abschiebung nach Pakistan.
Der Antragsteller ist pakistanischer Staatsangehöriger, reiste am 21. Juli 2015 erstmalig ins Bundesgebiet ein und stellte am 23. Juni 2016 einen Asylantrag, den das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) mit Bescheid vom 10. November 2017 ablehnte und die Abschiebung nach Pakistan oder in einen andren Staat, in den der Antragsteller einreisen darf oder der zu seiner Aufnahme verpflichtet ist, androhte. Die gegen diesen Bescheid beim Bayerischen Verwaltungsgericht München erhobene Klage des Antragstellers (Az. M 23 M 17.4291) wurde mit Urteil vom 15. November 2019 abgewiesen.
Im Rahmen seiner Anhörung beim Bundesamt am 6. Oktober 2016 hatte der Antragsteller im Wesentlichen vorgetragen, er habe Pakistan verlassen, weil er sehr viele Schulden gehabt habe. Außerdem habe sein Cousin mütterlicherseits jemanden getötet, weswegen der Antragsteller und dessen Familie als Verwandte des „Mörders“ beleidigt worden seien. Nachdem der Cousin des Antragstellers 2011 aus dem Gefängnis entlassen worden sei, sei die Familie des Getöteten zum Antragsteller gekommen und habe diesen verprügelt, da er nicht preisgegeben habe, wo sich der Cousin aufhalte. Von 2011 bis 2015 habe er sehr viel gearbeitet, aber das Geld habe nicht gereicht, sodass seine Familie oft nicht genug zu essen gehabt habe. Bei einer Rückkehr nach Pakistan befürchte der Antragsteller, von der Familie des durch seinen Cousin Getöteten umgebracht zu werden.
Zur Begründung der ablehnenden Entscheidung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, dass es zur Feststellung des Flüchtlingsstatus bereits an einem Anknüpfungsmerkmal fehle, da der Antragsteller nicht vorgetragen habe, wegen einem der in § 3 AsylG genannten Gründe verfolgt zu sein. Im Übrigen wäre der Antragsteller auf die Nutzung internen Schutzes zu verweisen. Die Verfolgung durch die Familie des Getöteten erfülle auch nicht die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes. Auch Abschiebungsverbote seien nicht ersichtlich.
Mit Schreiben vom … November 2021 machte der Antragstellerbevollmächtigte inlandsbezogene Reisehindernisse geltend und legte hierzu in der Folge drei Stellungnahmen eines Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie (Herr Dr. D. …) vor. In der letzten ärztlichen Bescheinigung von Herrn Dr. D. … vom 25. November 2021 wurden die Diagnosen Anpassungsstörung mit depressiver ängstlicher Reaktion (ICD 10:F43.22), mittelgradige Depression (ICD 10:F33.11), Panikstörung (ICD 10: F41.0) und Merkmale von posttraumatischer Belastungsstörung (ICD 10: F43.1) gestellt. Es sei bei der Durchführung der Abschiebung konkret und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Realisierung einer krankheitsbedingten Suizidgefahr zu besorgen. Diese Gefahr bestünde bei der Ankündigung der Abschiebung, in der Phase des Verbringens des Antragstellers in einen Gewahrsam, während des Fluges selbst und bei der Ankunft in Pakistan, wenn dort keine unmittelbare Übernahme des Antragstellers durch einen Facharzt am Flughafen erfolge.
Mit Bescheid vom 15 Dezember 2021 wurde die Begutachtung und Feststellung der Reise- und Transportfähigkeit des Antragstellers durch Herrn R. … angeordnet. Herr R. … stellte in seinem medizinischen Sachverständigengutachten vom 11. Januar 2022 aufgrund der Untersuchung des Antragstellers am 21. Dezember 2021 die Reisefähigkeit desselben fest. Es bestünde insbesondere keine Eigen- oder Fremdgefährdung als Folge einer psychischen Erkrankung. Auch sei durch die Rückführung des Antragstellers nach Pakistan keine schwerwiegende Verschlechterung seines Gesundheitszustandes zu befürchten. Die unmittelbare Übernahme des Antragstellers durch einen Facharzt am Zielflughafen sei aufgrund des derzeit festgestellten Gesundheitszustandes und des Verhaltens des Antragstellers bei der Untersuchung nervenärztlicherseits nicht notwendig. Diagnostisch bestünde beim Antragstellereine depressive Störung, die derzeit gut kompensiert sei. Hinweise für eine tiefgreifende Depression seien nicht erkennbar.
Der Antragsteller war bis zum 3. Februar 2022 im Besitz einer Duldung.
Mit Schriftsatz vom … Februar 2022, bei Gericht eingegangen am selben Tag, ließ der Antragsteller durch seinen Prozessbevollmächtigten beantragen,
Dem Antragsgegner wird im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO vorläufig untersagt, den Antragsteller abzuschieben.
Der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers legte ein psychiatrisches Gutachten von Frau E. … vom 3. Februar 2022 vor. Dieses beruht auf der Untersuchung des Antragstellers durch Frau E. … am 5. Januar 2022. Zur Begründung bezog sich der Prozessbevollmächtigte auf dieses Gutachten und führte im Wesentlichen aus, der Antragsteller sei sowohl im engeren, wie auch im weiteren Sinne reiseunfähig. Ausweislich des Gutachtens von Frau E. … könne der Antragsteller seine Suizidgedanken immer schlechter kontrollieren und infolgedessen bei zusätzlicher Belastung jederzeit eine unkontrollierbare Suizidhandlung erfolgen. Er habe zur Durchführung des Suizids bereits Ideen entwickelt, was den Ernst der Suizidalität zusätzlich betone. Bei der Abschiebung würde ein wichtiger stabilisierender Faktor in Form der therapeutischen Beziehung zu Herrn Dr. D. … wegfallen. Es sei im Falle einer Rückführung mit hoher Wahrscheinlichkeit auch eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Antragstellers aufgrund der Teil-PTBS Symptomatik auszugehen. Die Reisefähigkeit sei sowohl direkt, als auch indirekt nicht gegeben. Das Gutachten von Frau E. … weiche maßgeblich von dem von Herrn R. … ab. Insbesondere sei laut Frau E. … in der Anamneseerhebung durch Herrn R. … der frühe Verlust der zwei Kinder des Probanden nicht angeführt worden. Auch die schwierige soziale Lage der Familie des Antragstellers, seine Probleme, die Familie ausreichend zu ernähren und ausreichende medizinische Hilfe für seine kranken Kinder zu erlangen, seien nicht eruiert worden. Es gehe aus dem Gutachten von Herrn R. … auch nicht hervor, inwieweit der Gutachter nach möglichen Beschwerden im Zusammenhang mit der Verfolgung in Pakistan gefragt, die Ängste genauer erfragt habe und das Bestehen weiterer Symptome erfragt oder ausgeschlossen habe. Es sei im Gutachten von Herrn R. … nicht dargelegt, wieso der Gutachter völlig von den Befunden und Darstellungen des Behandlers abweicht, der den Antragsteller doch über einen längeren Zeitraum kenne und behandelt habe. Die jetzige Begutachtung des Antragstellers würde auch durch die Fremdanamnese der ehrenamtlichen Helferin Frau S. … deutlich, die den Antragsteller ja in Alltagssituationen erlebe. Es sei auch nicht nachvollziehbar, dass der Proband nach Meinung des Gutachters R. … zwar eine fachärztliche Reisebegleitung benötige, aber keine sofortige Behandlung bei Ankunft im Heimatland. Überdies wurde darauf hingewiesen, dass Herr R. … ausweislich seines Gutachtens weder das Testverfahren nach CAPS-5 hinsichtlich der 20 DSM-5 PTBS-Symptome, noch das Testverfahren der Hamilton-Skala zur Ermittlung der Schwere der depressiven Störung durchgeführt habe. Das Gutachten von Herr R. … sei mithin nicht hinreichend fundiert und im Übrigen durch das jüngere Gutachten von Frau E. … überholt.
Mit E-Mail vom 7. Februar 2022 legte der Antragsgegner Teile der Ausländerakte vor.
Mit Schriftsatz vom 7. Februar 2022, bei Gericht per Fax eingegangen am selben Tag beantragte der Antragsgegner,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung trug der Antragsgegner im Wesentlichen vor, der Antragsteller sei reisefähig und nahm diesbezüglich Bezug auf das Gutachten von Herrn R. … Außerdem teilte der Antragsgegner mit, dass der Antragsteller sich derzeit im Bezirkskrankenhaus in … befinde, da er am 6. Februar 2022 in der Abschiebehaft den Versuch unternommen habe, sich mit einem Schnürsenkel selbst zu verletzen. Eine Rückführung in die JVA … sollte nach Aussage des Bezirkskrankenhauses … noch am 7. Februar stattfinden. Die Rückführung nach Pakistan werde mit Sicherheitsbegleitung durch Kräfte der Bundespolizei, sowie unter ärztlicher Begleitung durchgeführt werden. Außerdem wies der Antragsgegner darauf hin, dass der Antragsteller psychische Erkrankungen vor seiner ersten gescheiterten Abschiebung im Juni 2021 nicht geltend gemacht habe.
Wegen der weiteren Einzelheiten nimmt das Gericht Bezug auf die Gerichtsakte sowie die vorgelegte Behördenakte.
II.
Der Antrag hat keinen Erfolg, weil er unbegründet ist.
I. Der Antragsteller hat keinen Anspruch auf Erteilung einer Duldung im Wege der einstweiligen Anordnung.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden, drohende Gewalt zu verhindern oder wenn andere Gründe vorliegen. Voraussetzung ist, dass der Antragsteller das von ihm behauptete Recht (den Anordnungsanspruch) und die drohende Gefahr seiner Beeinträchtigung (den Anordnungsgrund) glaubhaft gemacht hat, § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO. Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt.
Der Antragsteller hat keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Wegen der Vorwegnahme der Hauptsache im Falle einer stattgebenden Entscheidung (1.) ist für eine einstweilige Anordnung zu fordern, dass das weitere Abwarten für den Antragsteller mit unzumutbaren Nachteilen verbunden ist und dass ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg in der Hauptsache besteht (2.) (vgl. BVerwG, B.v. 13.8.1999 – 2 VR 1.99 – BVerwGE 109, 258/262; U.v. 18.4.2013 – 10 C 9.12 – BVerwGE 146, 189/197; B.v. 26.11.2013 – 6 VR 3.13 – NVwZ-RR 2014, 558 Rn. 5 u. 7).
1. Das Begehren des Antragstellers, ihm eine Duldung zu erteilen, stellt eine Vorwegnahme der Hauptsache dar.
Eine Vorwegnahme der Hauptsache liegt vor, wenn dem Antragsteller bereits im Verfahren nach § 123 VwGO zur begehrten Rechtsposition verholfen wird, er also so gestellt wird, als ob er in der Hauptsache obsiegt hätte (NK-VwGO Puttler, VwGO § 123 Rn. 102). Vorliegend würde der Antragsteller durch Erteilung der Duldung im Wege des Antrags nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sein im – noch nicht erhobenen – Hauptsacheverfahren begehrtes Rechtschutzziel erreichen. Er würde so gestellt werden, als ob er in der Hauptsache hinsichtlich einer Duldungserteilung bereits obsiegt hätte.
2. Der erforderliche hohe Grad an Wahrscheinlichkeit für das Obsiegen in der Hauptsache besteht vorliegend nicht. Der Antragsteller hat keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Er ist vollziehbar zur Ausreise verpflichtet (2.1.) und es liegen keine Abschiebungshindernisse (2.2.) vor.
2.1. Der Antragsteller besitzt keinen Aufenthaltstitel und ist nach rechtskräftigem, negativem Abschluss seines Asylverfahrens zur Ausreise verpflichtet, § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG.
2.2. Es liegt kein Abschiebungshindernis vor, das den Vollzug einer Abschiebung hindert. Insbesondere ist die gesetzliche Vermutung der Reisefähigkeit (§ 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG) des Antragstellers durch die vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen nicht widerlegt.
Nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers so lange auszusetzen, wie sie aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist. Ein rechtliches Abschiebungshindernis liegt vor, wenn durch die Beendigung des Aufenthalts eine konkrete Leibes- oder Lebensgefahr zu befürchten ist, so dass die Abschiebungsmaßnahme wegen des nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgten grundrechtlichen Schutzes auszusetzen ist. Erforderlich ist dabei, dass infolge der Abschiebung als solcher (unabhängig vom konkreten Zielstaat) eine wesentliche Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes für den betroffenen Ausländer konkret droht (BayVGH, B.v. 11.4.2017 – 10 CE 17.349 – juris Rn. 17, m.w.N.). In Betracht kommen damit nur inlandsbezogene Abschiebungsverbote.
Eine bestehende psychische Erkrankung eines ausreisepflichtigen Ausländers kann ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG in zwei Fällen begründen: Zum einen scheidet eine Abschiebung aus, wenn und solange der Ausländer wegen der Erkrankung transportunfähig ist, d.h. sich sein Gesundheitszustand durch und während des eigentlichen Vorgangs des „Reisens“ wesentlich verschlechtert oder eine Lebens- oder Gesundheitsgefahr transportbedingt erstmals entsteht (Reiseunfähigkeit im engeren Sinn). Zum anderen muss eine Abschiebung auch dann unterbleiben, wenn sie – außerhalb des eigentlichen Transportvorgangs – eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr für den Ausländer bedeutet; dies ist der Fall, wenn das ernsthafte Risiko besteht, dass unmittelbar durch die Abschiebung als solche (unabhängig vom Zielstaat) sich der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne; vgl. BayVGH, B.v. 11.4.2017 – 10 CE 17.349 – juris Rn. 17, m.w.N.).
Nach dem durch das Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren (Gesetz vom 11.3.2016‚ BGBl. I, S. 390) zum 17. März 2016 eingeführten § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG wird vermutet‚ dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen. In Konkretisierung seiner ausländerrechtlichen Mitwirkungspflichten (§ 82 AufenthG) muss der Ausländer eine Erkrankung‚ die die Abschiebung beeinträchtigen kann‚ durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen (§ 60a Abs. 2c Satz 2 AufenthG). Der Ausländer ist verpflichtet‚ der zuständigen Behörde die ärztliche Bescheinigung nach § 60a Abs. 2c AufenthG unverzüglich vorzulegen, § 60a Abs. 2d Satz 1 AufenthG (BayVGH, B.v. 11.4.2017 – 10 CE 17.349 – juris Rn. 18).
Die vom Antragsteller vorgelegten Atteste vermögen die gesetzliche Vermutung sowohl in Bezug auf die Reisefähigkeit des Antragstellers im engeren, als auch im weiteren Sinne insbesondere mit Blick auf die in dem Gutachten von Herrn R. … getroffenen Feststellungen nicht zu widerlegen. Maßgeblich sind in diesem Zusammenhang die Gutachten von Frau E. … und von Herrn R. …, da diese in engem zeitlichen Zusammenhang stehen und die jüngsten Begutachtungen des Antragstellers darstellen.
2.2.1. Das Gutachten von Frau E. … genügt bereits nicht den Anforderungen des § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG.
Nach § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG soll eine qualifizierte, ärztliche Bescheinigung insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung, den lateinischen Namen oder die Klassifizierung der Erkrankung nach ICD 10 sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten.
2.2.1.1. Zwar enthält das Gutachten von Frau E. … eine Diagnose und stellt auch die Tatsachen dar, die sie zur Grundlage derselben gemacht hat. Allerdings fehlt der Begutachtung insoweit eine tragfähige Basis, als die Gutachterin ersichtlich davon ausgegangen ist, dass die Schilderungen des Antragstellers glaubhaft sind. Dies kann jedoch nicht zweifelsfrei angenommen werden. So war insbesondere von den beiden verstorbenen Kindern des Antragstellers im gesamten bisherigen Verfahren nie die Rede. Auch bei seiner Anhörung im Asylverfahren hat der Antragsteller hierzu nichts vorgetragen.
Ein Gutachten, dass ohne zu hinterfragen, von der Glaubhaftigkeit der Angaben des Ausländers ausgeht, beruht jedoch nicht auf einer überzeugenden Grundlage. Dies wirkt sich auch auf die Schlussfolgerungen des Gutachtens aus. Diese überzeugen das Gericht vorliegend nicht.
2.2.1.2. Die Darstellungen des Gutachtens von Frau E. … vermögen daher nicht die Vermutung der Reisefähigkeit zu widerlegen.
Die Gutachterin stellt, ohne die Glaubhaftigkeit des Vortrags zu hinterfragen, auf das vom Antragsteller geschilderte Verfolgungsgeschehen ab.
Auch führt die Gutachterin u.a. aus, dass beispielsweise anhand der Tatsache, dass der Antragsteller seinen Termin zur mündlichen Verhandlung im Klageverfahren gegen den ablehnenden Asylbescheid versäumt hat „deutlich (werde), dass der Antragsteller nicht in der Lage (sei), sich aufgrund seiner psychischen Erkrankung ausreichend um seine Alltagsbelange, Termine, Hilfen zu kümmern“ (s. 11 des Gutachtens). Diese Annahme betrifft aber gerade nicht die Frage der Reisefähigkeit, weder im engeren, noch im weiteren Sinne. Wird wie hier unter anderem im Falle einer psychischen Erkrankung eine Gesundheitsgefahr in Folge des Abbruchs einer im Bundesgebiet stattfindenden Behandlung geltend gemacht, ist von einem inlandsbezogenen Abschiebungshindernis wegen Reiseunfähigkeit nur dann auszugehen, wenn die Gefahr einer wesentlichen Gesundheitsverschlechterung schon während der Abschiebung und der sich unmittelbar daran anschließenden Zeitspanne der Ankunft im Heimatland droht und dieser Gefahr nicht durch mögliche Vorkehrungen wie der Ausstattung mit einem Medikamentenvorrat, einer medizinischen Begleitung im Abschiebevorgang oder der Übergabe an medizinisches Personal im Heimatland begegnet werden kann. (BayVGH B.v.20.01.2022 – 19 CE 21.2437 Rn. 20 – Beckonline). Die Ausführungen der Gutachterin zum allgemein schlechten psychischen Zustand des Antragstellers lassen nicht den Schluss zu, dass die Reise selbst bzw. die Rückführung nach Pakistan konkret eine erhebliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Antragstellers zur Folge haben wird. Die Gutachterin verliert sich vielmehr in der Schilderung der Schwierigkeiten, die der Antragsteller bei der Bewältigung seines täglichen Lebens durch Antriebsschwäche und Resignation hat, sowie in der Bewertung, dass gerade die fehlende Sicherheit (hinsichtlich einer Bleibeperspektive) zu keiner Besserung seines Zustandes geführt habe (S.12).
Entgegen den Angaben von Frau E. … (S. 9 des Gutachtens), dass der Antragsteller sich bereits konkrete Vorstellungen über die Durchführung eines Suizids gemacht habe, kann das Gericht diese den Schilderungen des Antragstellers gegenüber Frau E. … nicht entnehmen.
2.2.2. Überzeugender stellen sich die Feststellungen des Gutachtens von Herrn R. … dar. Die diesbezüglich im Gutachten von Frau E. … enthaltenen Vorhaltungen überzeugen nicht.
Herr R. … hat sich mit der Geschichte und dem bisherigen Verfahren in Bezug auf den Antragsteller auseinandergesetzt. Ausweislich des Gutachtens hat eine eingehende, auch körperliche Untersuchung stattgefunden. Herr R. … diagnostiziert – wie auch die beiden anderen Begutachtenden – eine depressive Störung, kommt aber zum Ergebnis, dass diese derzeit gut kompensiert sei (S. 34 des Gutachtens) und die Reisefähigkeit des Antragstellers nicht entfallen lasse (S. 35). Die insofern von Herrn R. … dargestellten Ausführungen überzeugen insbesondere insofern, als für das Gericht nachvollziehbar dargestellt ist, wie der Gutachter zu der Einschätzung gelangt, dass der Antragsteller trotz seiner bestehenden psychischen Erkrankungen reisefähig ist. So wird geschildert, dass der Antragsteller zwar seine Beschwerden sehr ausführlich schildert, die Annahme, er sei schwer depressiv aber nicht habe untermauern können. Die Darstellungen des Gutachtens von Frau E. … vermögen die von Herrn R. … getroffenen Feststellungen nicht zur Überzeugung des Gerichts zu entkräften.
2.2.2.1. Soweit Frau E. … ausführt, der Verlust der beiden Kinder sei in dem Gutachten von Herrn R. … nicht angeführt (S. 13), ist zu beachten, dass dies der Antragsteller offenbar erstmalig im Rahmen der Begutachtung durch Frau E. … vorgetragen hat (s.o.).
2.2.2.2. Die schwierige soziale Lage des Antragstellers, seine Probleme, die Familie zu versorgen, sowie die Umstände der Verfolgung, die laut Frau E. … durch Herrn R. … nicht ausreichend eruiert worden seien, wurden im Rahmen der Darstellung der Vorgeschichte durch Herrn R. … berücksichtigt.
2.2.2.3. Frau E. … führt (unter anderem auf S. 13) an, dass auch das Gutachten des den Antragsteller über einen längeren Zeitraum behandelnden Kollegen die fehlende Reisefähigkeit des Antragstellers bescheinige. Dr. D. … hat den Antragsteller ausweislich der vorgelegten Atteste weniger als ein halbes Jahr behandelt. Der Antragsteller hat fünf Termine wahrgenommen. Die letzte Stellungnahme von Dr. D. … stammt vom November 2021; es liegen jüngere Untersuchungsergebnisse vor.
2.2.2.4. Der auf Seite 14 des Gutachtens von Frau E. … aufgeworfene vermeintliche Widerspruch im Gutachten von Herrn R. …, dass zwar keine Anzeichen einer auch nur latenten Suizidalität ersichtlich wären, aber gleichwohl eine unangekündigte Abschiebung empfohlen werde, um eine suizidale Handlung zu verhindern, stellt sich bei genauer Betrachtung des Gutachtens nicht als solcher dar. Vielmehr ist die Annahme, dass es zu suizidalen Handlungen im Zusammenhang mit der (Verhinderung der) Abschiebung kommen könne, nur konsequent, wenn man wie Herr R. … davon ausgeht, dass derartige Handlungen als Zweckreaktion gegen die Abschiebung einzuschätzen sind (S. 36 des Gutachtens von Herrn R. ….).
2.2.2.5. Der Vorwurf, Herr R. … habe die Vorgeschichte des Antragstellers nicht berücksichtigt (S. 15 u.a.), dringt nicht durch. Im Gegenteil hat Herr R. … die bisherigen Geschehnisse im Leben des Antragstellers, insbesondere den Therapieverlauf und den bisherigen Verfahrensgang auch mit Blick auf das Asylverfahren ausführlich dargestellt.
2.2.2.6. Soweit Frau E. … auf das Fehlen einer Fremdanamnese im Gutachten von Herrn R. … abstellt und insoweit auf die Darstellungen einer ehrenamtlichen Helferin verweist, vermag dies nicht zu überzeugen. § 60a Abs. 2c Satz 2 AufenthG stellt auf eine explizit ärztliche Bescheinigung ab und stellt in Abweichung von der gemäß § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG geltenden Vermutung eine Ausnahme dar. Die insoweit hohen Anforderungen können mithin nicht auch nur teilweise durch die Einschätzung eines Laien erfüllt werden. Die Sichtweise der betreffenden Helferin ist somit nicht entscheidend und kann allenfalls im Rahmen der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden.
2.2.2.7. Der Vorwurf, Herr R. … habe nicht explizit genug nachgefragt und sei somit nicht hinreichend zum Antragsteller und dessen Problemen vorgedrungen (S. 15 u.a.), überzeugt ebenfalls nicht. Herr R. … hat sich ersichtlich intensiv mit der Person des Antragstellers auseinandergesetzt.
2.2.2.8. Auf Seite 12 des Gutachtens von Frau E. … führt diese aus, dass der Antragsteller bei der Schilderung seiner Suizidgedanken gegenüber Herrn R. … gelacht habe, unterstreiche als in dieser Situation inadäquater Affekt nur die Unsicherheit des Antragstellers. Dieser Einschätzung vermag das Gericht nicht zu folgen. Vielmehr überzeugt insofern die Darstellung von Herrn R. …, dass das Vorbringen der Suizidgedanken eher demonstrativ wirke (S. 34) und die daraus resultierende Schlussfolgerung, dass eventuelle Suizidandrohungen oder Suizidhandlungen eher als Zweckreaktion gegen die Rückführung einzuschätzen wären. Dass der Antragsteller in der JVA … am 6. Februar 2022 einen Versuch unternommen hat, sich selbst mit einem Schnürsenkel zu verletzen, stützt die These des Erstgutachters.
2.2.2.9.Dass das Gutachten von Frau E. … das aktuellere sei, wie der Antragstellerbevollmächtigte vorträgt, überzeugt insoweit nicht, als zwischen den beiden Begutachtungen nur wenige Wochen liegen.
Mithin ist entsprechend dem Gutachten von Herrn R. … von der bestehenden Reisefähigkeit des Antragstellers auszugehen.
Darüber hinaus liegt selbst bei Annahme einer nicht völlig auszuschließenden Suizidgefahr nicht zwangsläufig ein krankheitsbedingtes Abschiebungshindernis vor; bei einer möglicherweise aus den besonderen Belastungen einer Abschiebung resultierenden Suizidgefahr handelt es sich um eine Abschiebung regelmäßig nur vorübergehend hindernde Umstände (vgl. BVerfG, B.v. 26.2.1998 – 2 BvR 185/98 – juris Rn. 3). Die Abschiebung ist von der Ausländerbehörde dann so zu gestalten, dass einer Suizidgefahr wirksam begegnet werden kann (vgl. BVerfG, B.v. 16.4.2002 – 2 BvR 553/02 – juris; BayVGH, B.v. 23.8.2016 – 10 CE 15.2784 – juris Rn. 16). Wenn gleich kaum jemals mit absoluter Sicherheit eine Suizidgefahr ausgeschlossen werden kann (vgl. Heilbronner, AuslR, Stand: 2/2020, § 60a AufenthG Rn. 93), ist es Aufgabe des Antragsgegners, seiner Schutzpflicht zu genügen, um möglichen suizidalen Handlungen vorzubeugen. Davon ausgehend ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass der Antragsgegner seiner Schutzpflicht nicht nachkäme und insbesondere bislang nicht mitgeteilte besondere Bedingungen nicht zum Anlass nähme, im Rahmen der Schutzpflicht die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen und die Abschiebung so zu gestalten, dass einer Suizidgefahr wirksam begegnet werden kann. Dass am Ort der Abschiebung ebenfalls weitere Schutzmaßnahmen zu ergreifen seien, hat Herr R. … nicht für erforderlich gehalten. Die abweichende Einschätzung von Frau E. … überzeugt das Gericht aus den bereits genannten Gründen nicht.
II. Die Kosten des Verfahrens hat der Antragsteller zu tragen, § 154 Abs. 1 VwGO.
III. Der Streitwert wird nach § 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG, § 52 Abs. 2 GKG i.V.m. Nr. 8.3 des Streitwertkatalogs der Verwaltungsgerichtsbarkeit auf 1.250 Euro festgesetzt.


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