Medizinrecht

Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Nichtvorlage eines Fahreignungsgutachtens – einstweiliger Rechtsschutz

Aktenzeichen  M 6 S 20.1382

Datum:
29.9.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 27795
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
StVG § 3 Abs. 1 S. 1
FeV § 11 Abs. 2 S. 3 Nr. 5, Abs. 8, § 46 Abs. 1, Abs. 3
FeV Anl. 4 Nr. 4.2, Nr. 4.5

 

Leitsatz

1. Bei der Prüfung der Frage, ob die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens hinsichtlich einer Erkrankung anzuordnen ist, die in einer Mehrzahl oder Vielzahl der Fälle eine Fahrungeeignetheit nicht begründet, gebietet der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass sich die Fahrerlaubnisbehörde vorher Kenntnisse über Tatsachen verschafft, die ausreichende Anhaltspunkte dafür begründen können, dass eine Ungeeignetheit vorliegen könnte. (Rn. 46) (redaktioneller Leitsatz)
2. Zwar kann der Fahrerlaubnisinhaber Eignungszweifel bei medizinischen Fragen unter Umständen durch andere geeignete Beweismittel ausräumen. Das setzt allerdings voraus, dass keinerlei Restzweifel hinsichtlich der Fahreignung mehr verbleiben, weil aus den hierzu vorgelegten Unterlagen eindeutig auch für den (medizinisch und psychologisch nicht geschulten) Laien nachvollziehbar hervorgeht, dass die ursprünglichen Bedenken unbegründet sind (vgl. BayVGH BeckRS 2020, 4487 Rn. 12 mwN). (Rn. 47) (redaktioneller Leitsatz)
3. Fehlende finanzielle Mittel stellen aus Gründen der Verkehrssicherheit keinen ausreichenden Grund für das Absehen von notwendigen Aufklärungsmaßnahmen dar. Das Gesetz mutet einem Kraftfahrer die Kosten für die Begutachtung ebenso zu wie es ihm die Kosten zumutet, die zum verkehrssicheren Führen des Fahrzeugs notwendig sind. (Rn. 58) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 7.500 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Der 1946 geborene Antragsteller wendet sich gegen die für sofort vollziehbar erklärte Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen A, A1, B, BE, C1, C1E, L, M und T.
Die Polizei in A. informierte die Fahrerlaubnisbehörde darüber, dass der Antragsteller am … November 2018 in die Fachklinik für Psychiatrie in B. eingewiesen wurde, nachdem er nach einem Streit mit seiner Exfrau von der Polizei der Wohnung verwiesen worden war und gegenüber einer dritten Person seinen Suizid angekündigt hatte. Zudem habe der Antragsteller geäußert, aufgrund einer Nierenerkrankung ohnehin nicht mehr lange zu leben.
Die Behörde forderte den Antragsteller daraufhin mit Schreiben vom 14. November 2018 auf, ein ärztliches Attest hinsichtlich einer möglichen psychischen Erkrankung und/oder Nierenerkrankung sowie einen Medikationsplan vorzulegen.
In der Folge reichte der Antragsteller bei der Fahrerlaubnisbehörde einen Medikationsplan ein und bestätigte, seit Jahren an einer Niereninsuffizienz der Stufe III zu leiden und auch eine neue Herzklappe zu benötigen; ein Suizid sei allerdings nicht geplant gewesen. Da kein Entlassungsbericht von der Klinik B. vorhanden sei, legte der Antragsteller ein Attest des Psychotherapeuten Dr. A. vom … März 2019 vor, in dem dieser im Ergebnis feststellte, dass der Antragsteller altersentsprechend psychisch gesund sei.
Mit Schreiben vom 29. März 2019 forderte der Antragsgegner den Antragsteller auf eine ärztliche Stellungnahme vorzulegen, bei der [u.a.] folgende Fragen zu beantworten seien:
1. Liegt eine Herzleistungsschwäche vor?
1.1 Nur wenn ja, dann auch 1.2-1.3.1:
1.2 Wie hoch ist die EF (Ejektionsfraktion) in %?
1.3.1 Nur bei NYHA III: Liegt ein stabiler Befund vor?
2. Liegt ein erhöhter Blutdruck mit zerebrale Symptomatik und/oder Sehstörungen vor?
3. Liegen Blutdruckwerte > 180 mmHg systolisch und/oder > 110 mmHg diastolisch vor?

Dies begründete der Antragsgegner damit, dass dem Medikationsplan vom … August 2018 u.a. zu entnehmen sei, dass beim Antragsteller eine Herzinsuffizienz, arterielle Hypertonie und eine Herzschwäche vorliege. Die Erkrankungen wären unter Umständen geeignet Zweifel an der Fahreignung zu begründen, weshalb gegebenenfalls ein ärztliches Gutachten zur Klärung dieser Zweifel anzuordnen sei.
Am … April 2019 legte der Antragsteller ein Attest des Facharztes für Innere Medizin Dr. B. vom … April 2019 samt kardiologischen Befund vom … April 2019 vor, aus welchem hervorgeht, dass beim Antragsteller eine Herzleistungsschwäche vorliegt. Die Ejektionsfraktion betrage 57%. Es liege ein NYHA-Stadium II vor. Der Befund sei diesbezüglich stabil. Es liege ein erhöhter Blutdruck ohne zerebrale Symptomatik vor. Sehstörungen werden verneint. Weiter lägen systolische Blutdruckwerte über 180 mmHg vor.
Auf weitere Anforderung legte der Antragsteller am … Juni 2019 den Arztbrief der Lungenpraxis A. vom … Mai 2019 vor, aus welchem hervorgeht, dass beim Antragsteller eine Linksherzinsuffizienz mit NYHA-Stadium III (I50 13 G) vorliege. Zudem war eine einen Zeitraum von 40 Tagen umfassende Übersicht von Blutdruckwerten beigefügt. Dieser ist zu entnehmen, dass an 18 Tagen der systolische Blutdruck am Morgen den Wert von 180 mmHg erreichte oder überschritt und dabei Spitzen von 213 mmHg gemessen wurden.
Mit Schreiben vom 21. Juni 2019 forderte die Fahrerlaubnisbehörde den Antragsteller zur Beibringung eines Gutachtens eines Arztes einer Begutachtungsstelle für Fahreignung bis zum 31. August 2019 mit folgender Fragestellung auf:
„1a. Liegen bei dem Untersuchten Erkrankungen vor, die nach Nr. 4.2 und Nr. 4.5 der Anlage 4 FeV die Fahreignung in Frage stellten?
b. Wenn ja: Ist der Untersuchte (wieder) in der Lage, den Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppen 1 und 2 vollständig gerecht zu werden?
2. Liegt eine ausreichende Adhärenz (Compliance; zum Beispiel Krankheitseinsicht, regelmäßige/überwachte Medikamenteneinnahme […] usw.) vor?
3. Sind Beschränkungen und/oder Auflagen erforderlich, um den Anforderungen an das Führen eines Kraftfahrzeuges (je Fahrerlaubnisklassengruppe) weiterhin gerecht zu werden? Ist bzw. sind insbesondere (eine) fachlich einzelfallbegründete Auflage(n) nach Anlage 4 (z. B. ärztliche Kontrollen, Nachuntersuchung) erforderlich? In welchem zeitlichen Abstand und wie lange? Was soll regelmäßig kontrolliert und attestiert werden? Sind die Ergebnisse der Fahrerlaubnisbehörde vorzulegen; wenn ja, warum?
4. Ist eine fachlich einzelfallbegründete Nachuntersuchung (je Fahrerlaubnisklassengruppe) i.S. einer (Nach-)Begutachtung erforderlich? Wenn ja, in welchem zeitlichen Abstand?
Zur Begründung führte die Fahrerlaubnisbehörde aus, die systolische Blutdruckwerte seien mehrmals überschritten worden. Zudem habe die Fahrerlaubnisbehörde aufgrund der widersprüchlichen Aussagen zu dem beim Antragssteller vorliegenden NYHA-Stadium Zweifel an der Fahreignung. Im aktuellsten Befund vom … Mai 2019 sei ein NYHA-Stadium III angegeben worden. Im Arztbrief vom … April 2019 und Attest vom … April 2019 sei hingegen ein NYHA-Stadium II genannt. Bei einem NYHA-Stadium III sei die Fahreignung für Fahrzeuge der Gruppe 1 nur gegeben, wenn der Befund stabil sei. Die Aussage von Herrn Dr. B. in seinem Attest vom … April 2019, dass der Befund stabil sei, könne die Zweifel nicht ausräumen, da Herr Dr. … von einem NYHA-Stadium II und nicht – wie im aktuellsten Befund diagnostizierten – NYHA-Stadium III ausgegangen sei. Für die Fahrerlaubnis für Fahrzeuge der Gruppe 2 sei die Fahreignung bei einem NYHA-Stadium III nicht gegeben. Zudem sprächen die Blutdruckspitzen von systolisch bis zu 213 mmHg für einen nicht ausreichend gut eingestellten Blutdruck im fahrerlaubnisrechtlichen Sinne. Bei Blutdruckwerten über 180 mmHG systolisch müsse im Einzelfall entschieden werden, ob die Fahreignung dennoch gegeben sei. Im Rahmen einer ärztlichen Begutachtung sei zu klären, welches NYHA-Stadium beim Antragsteller tatsächlich vorliege und ob dieses Auswirkungen auf dessen Fahreignung habe bzw. die Fahreignung für die Gruppe 2 ausschließe. Die vorgelegten Unterlagen könnten die Zweifel an der Fahreignung nicht ausräumen, sodass nach Abwägung der Gesamtumstände ein ärztliches Gutachten anzuordnen sei.
Gegen die Kostenentscheidung der Gutachtensaufforderung erhob der Antragsteller mit Schreiben vom 23. Juni 2019 Widerspruch, welcher mit Widerspruchsbescheid der Regierung von Oberbayern vom 14. August 2019 zurückgewiesen wurde.
Die Auswahl einer Begutachtungsstelle erfolgte nicht; ein Gutachten wurde nicht vorgelegt.
Nach vorheriger Anhörung wurde dem Antragsteller mit Bescheid vom 10. September 2019 die Fahrerlaubnis entzogen (Nr. 1 des Bescheids) und dieser verpflichtet, seinen Führerschein spätestens eine Woche nach Zustellung des Bescheids abzugeben (Nr. 2). Die sofortige Vollziehung von Nr. 1 und 2 des Bescheids wurde angeordnet (Nr. 3). Für den Fall der Nichtabgabe wurde ein Zwangsgeld in Höhe von 250 EUR angedroht (Nr. 4).
Gegen den Entziehungsbescheid erhob der Antragsteller mit Schreiben vom 24. September 2019 Widerspruch. Die Gutachtensaufforderung sei fehlerhaft. Außerdem sei der Antragsteller mit der Übersendung der angeforderten ärztlichen Unterlagen seinen Mitwirkungspflichten ausreichend nachgekommen. Über den Widerspruch wurde noch nicht entschieden. Der Führerschein wurde nicht abgegeben.
Nachdem die Behörde am 11. Dezember 2019 das in Nummer 4 des Bescheids angedrohte Zwangsgeld fällig gestellt hat und ein weiteres Zwangsgeld androhte – wogegen der Antragsteller am 10. Januar 2020 Klage erhob (M 6 K 20.132) – und dem Antragsteller am 2. Januar 2020 die Einziehung des Führerscheins durch Polizeibeamte mittels unmittelbaren Zwangs androhte – wogegen er am 30. Januar 2020 wiederum Klage erhob (M 6 K 20.438) – beantragte der Antragsteller mit bei Gericht am 31. März 2020 eingegangenen Schreiben,
die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 24. September 2019 gegen den Bescheid A. vom 10. September 2019 (Az.: … …*) wiederherzustellen (M 6 S 20.1382).
Gleichzeitig wurde Prozesskostenhilfe beantragt. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Anordnung der sofortigen Vollziehung fehlerhaft sei. Die Begründung sei formelhaft und genüge nicht den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Weiter sei die Begründung auch inhaltlich nicht stichhaltig; insbesondere fehle eine ordnungsgemäße Abwägung der Interessen. Der Antragsgegner habe verkannt, dass der Antragsteller Unterhaltssicherung in Höhe von monatlich ca. 380-400 EUR vom Landratsamt erhalte und somit erkennbar nicht in der Lage sei, eine Begutachtung mit geschätzten Kosten von 885 EUR finanzieren zu können. Weiter sei die Fragestellung fehlerhaft, da das Fehlen von psychischen Erkrankungen bereits nachgewiesen wurde. Eine Begutachtung sei nicht notwendig.
Am 11. Mai 2020 legte der Antragsgegner die Behördenakten vor und beantragte den Antrag abzulehnen. Die Begründung des Sofortvollzuges genüge den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO; das Erlassinteresse bedinge regelmäßig das Vollzugsinteresse. Zudem sei man auf den Einzelfall eingegangen. Die Anordnung des ärztlichen Gutachtens sei rechtmäßig, da die vorgelegten ärztlichen Atteste nicht geeignet gewesen seien, die Zweifel an der Fahreignung auszuräumen. Die Einholung von weiteren Attesten sei nicht angezeigt und ein weiteres Zuwarten aus sicherheitsrechtlichen Gründen nicht vertretbar gewesen.
Der Prozesskostenhilfeantrag wurde mit Beschluss vom 12. August 2020 mangels hinreichender Erfolgsaussichten der beabsichtigten Rechtsverfolgung abgelehnt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakten in diesem Verfahren sowie in den Verfahren M 6 K 20.132 und M 6 K 20.438 ergänzend Bezug genommen (§ 117 Abs. 3 VwGO).
II.
Der Antrag hat keinen Erfolg. Es zulässig, aber unbegründet.
Gemäß § 80 Abs. 1 VwGO haben Klage und Widerspruch grundsätzlich aufschiebende Wirkung, die aber entfällt, wenn die Behörde nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten angeordnet hat.
Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung im Fall des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO ganz oder teilweise wiederherstellen. Dabei trifft es eine originäre Ermessensentscheidung und hat abzuwägen zwischen dem von der Behörde geltend gemachten Interesse an der sofortigen Vollziehung ihres Bescheids und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Bei dieser Abwägung sind auch die Erfolgsaussichten des eingelegten Rechtsbehelfs – hier des Widerspruchs – zu berücksichtigen. Ergibt die im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO allein mögliche, aber auch ausreichende summarische Prüfung, dass der Rechtsbehelf offensichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid schon bei summarischer Prüfung als offensichtlich rechtswidrig, besteht kein öffentliches Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens dagegen nicht hinreichend absehbar, verbleibt es bei einer Interessensabwägung.
Die Entziehung der Fahrerlaubnis unter Anordnung der sofortigen Vollziehung ist bei summarischer Prüfung mit großer Wahrscheinlichkeit im Ergebnis rechtmäßig. Zur Begründung verweist das Gericht zur Vermeidung von Wiederholungen auf die rechtlichen und tatsächlichen Ausführungen in der angegriffenen Verfügung, denen es im Ergebnis folgt (vgl. § 117 Abs. 5 VwGO). Ergänzend ist Folgendes auszuführen:
1. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung in Nr. 3 des Entziehungsbescheides genügt den formellen Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO.
Nach dieser Vorschrift ist die Anordnung der sofortigen Vollziehung schriftlich zu begründen. Dabei hat die Behörde unter Würdigung des jeweiligen Einzelfalls darzulegen, warum sie abweichend vom Regelfall der aufschiebenden Wirkung, die Widerspruch und Klage grundsätzlich zukommt, die sofortige Vollziehbarkeit des Verwaltungsaktes angeordnet hat. An den Inhalt der Begründung sind dabei allerdings keine zu hohen Anforderungen zu stellen (Schmidt in: Eyermann, VwGO – Verwaltungsgerichtsordnung, 15. Aufl. 2019, § 80 Rn. 55). Im Übrigen ergibt sich das besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung im Bereich des Sicherheitsrechts regelmäßig – so auch hier – gerade aus den Gesichtspunkten, die für den Erlass des Verwaltungsakts selbst maßgebend waren (vgl. nur BayVGH, B.v. 9.2.2012 – 11 CS 11.2272 – juris).
Dem genügt die Begründung auf den Seiten 2 und 3 des Bescheids vom 10. September 2019. Die Fahrerlaubnisbehörde hat dort dargelegt, warum sie konkret im Fall des Antragstellers im Interesse der Sicherheit des öffentlichen Straßenverkehrs die sofortige Vollziehung anordnet. Sie hat auf den vorliegenden Einzelfall bezogen ausgeführt, der Antragsteller habe die Zweifel an seiner Fahreignung nicht ausräumen können und dabei auf die Herzerkrankung des Antragstellers Bezug genommen. Daher gehe das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung dem persönlichen Interesse des Antragstellers, bis zu einer gerichtlichen Entscheidung keine Vollzugsmaßnahmen durchzuführen, vor. Gerade dann, wenn immer wiederkehrende Sachverhaltsgestaltungen eine typische Interessenlage zugrunde liegt, kann sich die Behörde zur Rechtfertigung der Anordnung der sofortigen Vollziehung wie hier darauf beschränken, die für diese Fallgruppen typische Interessenlage aufzuzeigen und deutlich zu machen, dass diese Interessenlage nach ihrer Auffassung auch im konkreten Fall vorliegt (vgl. BayVGH, B.v. 27.10.2016 – 11 CS 16.1388 – juris).
2. Die Fahrerlaubnisbehörde durfte zurecht von der Nichteignung des Antragstellers ausgehen.
Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) und § 46 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV), hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich deren Inhaber als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist, finden die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung (§ 46 Abs. 3 FeV).
Nach § 11 Abs. 2 Satz 1 FeV kann die Fahrerlaubnisbehörde zur Vorbereitung von Entscheidungen über die Erteilung oder Verlängerung der Fahrerlaubnis oder über die Anordnung von Beschränkungen oder Auflagen die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens durch den Bewerber anordnen, wenn Tatsachen bekannt werden, die Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung des Fahrerlaubnisbewerbers begründen. Bedenken bestehen nach § 11 Abs. 2 Satz 2 FeV insbesondere, wenn Tatsachen bekannt werden, die auf eine Erkrankung oder einen Mangel nach Anlage 4 oder 5 hinweisen.
Weigert sich der Betroffene, sich untersuchen zu lassen, oder bringt er der Fahrerlaubnisbehörde das von ihr geforderte Gutachten nicht fristgerecht bei, darf diese bei ihrer Entscheidung auf die Nichteignung des Betroffenen schließen, wenn sie ihn hierauf bei der Anordnung zur Beibringung des Erachtens hingewiesen hat (§ 11 Abs. 8 FeV).
Die Entziehung einer Fahrerlaubnis in Anwendung des § 11 Abs. 8 FeV kann jedoch nur erfolgen, wenn die Gutachtensaufforderung rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig, war und der Betreffende nicht aus anderen Gründen berechtigt war, die Erstellung oder Vorlage des Gutachtens zu verweigern (BVerwG, U.v. 5.7.2001 -3 C 13.01 – NJW 2002, 78).
2.1. Unter Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall erweist sich die in Nr. 1 des Bescheids vom 10. September 2019 enthaltene Entziehung der Fahrerlaubnis als rechtmäßig, da insbesondere auch die Gutachtensaufforderung vom 21. Juni 2019 ihrerseits rechtmäßig war. Bei Erlass der Gutachtensaufforderung lagen ausreichend Tatsachen vor, die geeignet waren, Bedenken gegen die Fahreignung des Antragstellers zu begründen. Weiter genügt die Gutachtensanforderung auch den an sie zu stellenden Anforderungen hinsichtlich der Anlassbezogenheit der Fragestellung nach § 11 Abs. 6 Sätze 1 und 2 FeV.
Zu den Erkrankungen und Mängeln, die die Fahreignung beeinträchtigen können, zählen unter anderem Herz und Gefäßkrankheiten (Ziffer 4 der Anlage 4 zur FeV).
Dabei kann die sofortige Anordnung der Beibringung eines ärztlichen Gutachtens ohne vorherige Abklärung hinsichtlich Art und Schwere der Erkrankung unverhältnismäßig sein. Bei der Prüfung der Frage, ob die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens hinsichtlich einer Erkrankung anzuordnen ist, die in einer Mehrzahl oder Vielzahl der Fälle eine Fahrungeeignetheit nicht begründet, gebietet der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass sich die Fahrerlaubnisbehörde vorher Kenntnisse über Tatsachen verschafft, die ausreichende Anhaltspunkte dafür begründen können, dass eine Ungeeignetheit vorliegen könnte. Solche Tatsachen können vom Betroffenen erfragt werden, zumal eine Anhörung vor Erlass der Gutachtensbeibringungsanordnung entsprechend Art. 28 Abs. 1 BayVwVfG ohnehin geboten sein dürfte. Dabei kann auch Gelegenheit gegeben werden, Bescheinigungen oder Atteste der behandelnden Ärzte vorzulegen. Eine solche Vorabklärung hat nichts damit zu tun, dass nach § 11 Abs. 2 Satz 5 FeV der das Gutachten erstellende Arzt nicht zugleich der den Betroffenen behandelnde Arzt sein soll. Denn diese Auskünfte des Betroffenen und der behandelnden Ärzte stellen keine gutachterliche Beurteilung dar, sondern sind nur Grundlage für die Entscheidung, ob die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens einer in § 11 Abs. 2 Satz 3 FeV genannten Stelle notwendig ist (vgl. BayVGH, B.v. 3.5.2017 – 11 CS 17.312 – juris Rn. 16 ff.).
Zwar kann der Fahrerlaubnisinhaber Eignungszweifel bei medizinischen Fragen unter Umständen durch andere geeignete Beweismittel ausräumen (BayVGH, B.v. 4.9.2019 – 11 ZB 19.1178 – juris Rn. 18; B.v. 18.3.2019 – 11 CS 19.387 – juris Rn. 13; B.v. 24.3.2016 – 11 CS 16.260 – ZfSch 2016, 295 Rn. 13). Das setzt allerdings voraus, dass keinerlei Restzweifel hinsichtlich der Fahreignung mehr verbleiben, weil aus den hierzu vorgelegten Unterlagen eindeutig auch für den (medizinisch und psychologisch nicht geschulten) Laien nachvollziehbar hervorgeht, dass die ursprünglichen Bedenken unbegründet sind (BayVGH, B.v. 20.3.2020 – 11 ZB 20.145 – juris Rn. 12).
So hat der Antragsgegner etwa von der ursprünglich geforderten weiteren Abklärung hinsichtlich psychischer Störungen sowie Nierenerkrankungen beim Antragsteller Abstand genommen, nachdem dieser durch Vorlage entsprechender Atteste belegen konnte, dass insoweit keine hinreichenden Belege für fahreignungsrelevante Beeinträchtigungen vorliegen.
Nach alledem ist die Beibringungsanordnung vorliegend verhältnismäßig. Der Antragsgegner hat im Vorfeld der Gutachtensanordnung die ihm möglichen Aufklärungsmaßnahmen ergriffen und dem Antragsteller vor allem die Gelegenheit gegeben, Bescheinigungen oder Atteste der behandelnden Ärzte vorzulegen.
Die vom Antragsteller vorgelegten Unterlagen konnten die Bedenken hinsichtlich der Hypertonie und der Herzleistungsschwäche nicht ausräumen.
Nach Nr. 4.2.2 der Anlage 4 zur FeV ist die Fahreignung in Fällen von Hypertonie (zu hoher Blutdruck) bei Blutdruckwerten von ≥ 180 mmHg systolisch nach fachärztlicher Untersuchung für die Fahrzeuggruppe 1 regelmäßig gegeben, für die Fahrzeuggruppe 2 nur im Einzelfall. Nach Nr. 3.4.2 der Begutachtungsleitlinien für Kraftfahreignung vom 27. Januar 2014 (VkBl. S. 110) in der Fassung vom 31. Dezember 2019, die nach Anlage 4a zur FeV Grundlage für die Beurteilung der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen sind, besteht in Fällen von Hypertonie nur dann keine Fahreignung für Fahrzeuge der Gruppe 1 und 2, wenn zerebrale Symptome oder Sehstörungen vorliegen, was beim Antragsteller nicht der Fall ist. Für Fahrzeuge der Gruppe 2 können Blutdruckwerte von ≥ 180 mmHg systolisch und/oder 110 mmHg diastolisch (Grad 3 Hypertension) die Fahreignung in Frage stellen. Für beide Fahrzeuggruppen gilt, dass fachärztliche Untersuchungen und regelmäßige Kontrollen notwendig sind.
Nach Nr. 4.5.2 der Anlage 4 zur FeV ist die Fahreignung in Fällen von Herzleistungsschwächen des Stadiums NYHA II nach fachärztlicher Untersuchung für die Fahrzeuggruppe 1 gegeben, für die Fahrzeuggruppe 2 nur wenn die Ejektionsfraktion mehr als 35% beträgt. Nach Nr. 4.5.3 der Anlage 4 zur FeV ist die Fahreignung in Fällen von Herzleistungsschwächen des Stadiums NYHA III nach fachärztlicher Untersuchung für die Fahrzeuggruppe 1 gegeben, wenn dieser stabil ist, für die Fahrzeuggruppe 2 ist keine Fahreignung gegeben.
Hinsichtlich der Hypertonie des Antragstellers liegt ein ärztlicher Befundbericht über eine kardiologische Untersuchung vom … April 2019 sowie das ärztliche Attest von Herrn Dr. B. vom … April 2019 vor, dem sich jedoch nicht entnehmen lässt, in welchen Zeitabständen der Antragsteller seinen Blutdruck ärztlich kontrollieren lässt. Bezüglich der Auswirkungen der Medikation auf die Fahreignung wird lediglich an einen Verkehrsmediziner verwiesen. Weiter geht der Befund vom … April 2019 von morgendlichen Blutdruckwerten bis 180 mmHg systolisch aus und regt einen Ausbau der Medikation bei morgendlich erhöhten Blutdruckwerten an. Dies steht im Widerspruch zum ärztlichen Attest von Herrn Dr. B. und der am … Juni 2019 übersandten Übersicht von Blutdruckwerten.
Während sowohl der Befundbericht und das ärztliche Attest von Herrn Dr. B. von einem NYHA-Stadium II ausgehen – obgleich Herr Dr. B. die Frage 1.3.1 [nur bei NYHA III] mit stabil beantwortet – weist der Arztbrief der Lungenarztpraxis A. vom … Mai 2019 unter ausdrücklicher Nennung des ICD-10 Schlüssels als Diagnose eine Linksherzinsuffizienz mit NYHA-Stadium III aus und widerspricht damit den vorangegangenen Befunden. Bei Vorliegen eines NYHA-Stadium III wäre der Antragsteller nach Nr. 4.5.3 der Anlage 4 zur FeV grundsätzlich nicht geeignet Fahrzeuge der Gruppe 2 (Fahrerlaubnisklassen C1 und C1E) zu führen.
Angesichts dieser Widersprüche und unklaren Befundlage waren die vorgelegten ärztlichen Unterlagen nicht geeignet, die diesbezüglichen Zweifel an der Fahreignung des Antragstellers (restlos) auszuräumen und die ursprünglichen Bedenken zu widerlegen.
Der Antragsgegner konnte berechtigt und ohne Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz die Begutachtung des Antragstellers durch ein ärztliches Gutachten eines Arztes einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung verlangen (§ 11 Abs. 2 Satz 3 Nummer 5 FeV), ohne zu weiteren Aufklärungsmaßnahmen – auch angesichts der grundsätzlich gebotenen Verfahrensbeschleunigung im Interesse der zu schützenden Rechtsgüter anderer Verkehrsteilnehmer – verpflichtet gewesen zu sein.
2.2. Die Gutachtensanordnung genügt ferner den Anforderungen nach § 11 Abs. 6 Sätze 1 und 2 FeV. Danach soll der Betroffene durch die Darlegung der Gründe, die Zweifel an der Fahreignung begründen, ebenso wie durch die Mitteilung der Fragestellung bereits in der an ihn gerichteten Beibringungsanordnung in die Lage versetzt werden, sich ein Urteil darüber zu bilden, ob die Aufforderung zu dessen Beibringung rechtmäßig insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig ist. Sowohl durch die Gutachtensanordnung als auch durch den vorangegangenen regen Austausch mit der Behörde hatte der Antragsteller die Möglichkeit, sich ein Urteil über die Gründe für die Zweifel an seiner Fahreignung und der Rechtmäßigkeit der Beibringungsanordnung zu bilden. Dem Antragsteller wurde zudem der Hinweis erteilt, dass er die Unterlagen vorher bei der Fahrerlaubnisbehörde einsehen könne.
2.3. Auch dem Einwand des Antragstellers der fehlenden finanziellen Mittel kann nicht gefolgt werden. Fehlende finanzielle Mittel stellen aus Gründen der Verkehrssicherheit keinen ausreichenden Grund für das Absehen von notwendigen Aufklärungsmaßnahmen dar. Nach der Rechtsprechung (vgl. nur BVerwG, U.v. 13.11.1997 – 3 C 1/97 – BayVBl 1998, 634) mutet das Gesetz einem Kraftfahrer die Kosten für die Begutachtung ebenso zu wie es ihm die Kosten zumutet, die zum verkehrssicheren Führen des Fahrzeugs notwendig sind. Sollte ein Betroffener zwingend auf eine Fahrerlaubnis angewiesen sein und die Kosten für das Fahreignungsgutachten nicht aufbringen können, so kann er ggf. unter strengen Voraussetzungen eine darlehensweise Vorfinanzierung durch die zuständige Behörde beantragen, ohne allerdings darauf einen Anspruch zu haben (vgl. zum Angebot der Vorfinanzierung durch eine Behörde BayVGH, B.v. 8.4.2016 – 11 C 16.319/11 C 16.320 – juris Rn. 14). Das erkennende Gericht sieht keine Veranlassung, von dieser Rechtsprechung abzuweichen. Ein Angewiesensein auf die Fahrerlaubnis sowie eine Vorfinanzierung wurde weder erörtert noch beantragt. Zudem geht die Annahme, dass Sozialdaten eines Fahrerlaubnisinhabers sämtlichen Stellen innerhalb einer Behörde bekannt sind, schon aus datenschutzrechtlichen Gründen fehl (vgl. § 35 Abs. 1 S. 2 SGB I, §§ 67c ff. SGB X).
2.4. Da der Antragsteller damit nicht berechtigt war, die Erstellung oder Vorlage des Gutachtens zu verweigern und auch kein Gutachten vorlegte, hält die vom Antragsgegner verfügte Entziehung der Fahrerlaubnis der gerichtlichen Überprüfung im Ergebnis stand.
3. Somit ist auch die – auf die Entziehung gestützte – Anordnung zur Ablieferung des Führerscheins in Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheids nach § 3 Abs. 2 Satz 3 StVG in Verbindung mit § 47 Abs. 1 Satz 1 und 2 FeV rechtmäßig und verletzt den Antragsteller nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
4. Die Androhung des Zwangsgeldes in Nummer 4 des Bescheids ist nicht zu beanstanden.
4.1. Die allgemeinen Vollstreckungsvoraussetzungen liegen in Form einer sofort vollziehbaren Grundverfügung vor (s.o.).
4.2. Das Zwangsgeld wurde im zulässigen Betragsrahmen (Art. 31 Abs. 2 Satz 1 VwZVG) und unter Berücksichtigung des nach pflichtgemäßem Ermessen vom Antragsgegner geschätzten wirtschaftlichen Interesses des Antragstellers (Art. 31 Abs. 2 Satz 2 und 4 VwZVG) angedroht. Das Zwangsgeld in Nr. 4 des Entziehungsbescheides wurde am untersten Rahmen und mit 250 EUR vergleichsweise sehr niedrig angesetzt. Selbst unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Situation des Antragstellers war die Androhung eines Zwangsgeldes nicht von vorneherein aussichtslos, um den Antragsteller zur Vornahme der begehrten Handlung anzuhalten. Auch war der Antragsteller selbst in der Lage, die Verpflichtung zu erfüllen.
4.3. Schließlich ist die für die Erfüllung der auferlegten Verpflichtung gesetzte Frist nicht zu beanstanden. Die Frist von einer Woche nach Zustellung des Bescheids ist angemessen und zumutbar, zumal die Abgabe des Führerscheins ohne erheblichen Aufwand bei der Behörde oder jeder Polizeidienststelle umgesetzt werden kann.
Zudem hat der Antragsgegner berechtigterweise ein hohes öffentliches Interesse (Verkehrssicherheit) an der Durchsetzung der Anordnung geltend gemacht, womit sich die Zwangsgeldandrohung insgesamt als angemessen und rechtmäßig erweist.
Der Antrag war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen.
Die Festsetzung des Streitwertes ergibt sich aus §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz – GKG – i.V.m. den Empfehlungen des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (abgedruckt in Kopp/Schenke, VwGO, 25. Aufl 2019, Anhang § 164 Rn. 14).


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