Medizinrecht

Erfolglose Klage auf Abschiebungsschutz nach Sierra Leone

Aktenzeichen  M 30 K 17.49733

Datum:
13.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 40222
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 34, 38 Abs. 1
AufenthG § 59, § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1, § 60a Abs. 1, Abs. 2c S. 3

 

Leitsatz

1. Eine staatliche Verfolgung ehemaliger Kindersoldaten ist in Sierra Leone nicht ersichtlich, insbesondere nicht im Wege der Strafverfolgung. Es liegen auch keinerlei Erkenntnisse darüber vor, dass ehemalige Kindersoldaten bzw. Personen, die als ehemalige Kindersoldaten angesehen werden, allgemein Übergriffen durch die Bevölkerung ausgesetzt sind.(Rn. 22) (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei einer chronischen Hepatitis B-Infektion in Sierra Leone handelt es sich aufgrund der großen Verbreitung dieser Erkrankung um eine allgemeine Gefahr iSv § 60 Abs. 7 S. 5 AufenthG, die eine ausländerpolitische Entscheidung nach § 60a Abs. 1 AufenthG erfordern würde. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)

Gründe

I.
Soweit die Klage zurückgenommen wurde (Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus), ist das Verfahren einzustellen (§ 92 Abs. 3 VwGO).
II.
Die im Übrigen aufrechterhaltene, zulässige Klage ist unbegründet. Die ablehnende Entscheidung des Bundesamts vom 21. November 2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, da dieser zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich einer Abschiebung nach Sierra Leone hat. Die auf der Ablehnung des Asylantrags als unbegründet beruhende Ausreiseaufforderung mit 30tägiger Ausreisefrist und die Abschiebungsandrohung gemäß §§ 34, 38 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 AufenthG und dessen Befristung sind ebenfalls nicht zu beanstanden.
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten.
1.1 Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen nicht vor.
1.1.1 Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Erfasst sind davon nur solche Gefahren‚ die in den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat begründet sind‚ während Gefahren‚ die sich aus der Abschiebung als solcher ergeben‚ nur von der Ausländerbehörde als inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis berücksichtigt werden können. Nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG liegt eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis kann sich auch aus der Krankheit eines Ausländers ergeben‚ wenn diese sich im Heimatstaat wegen unzureichender Behandlungsmöglichkeiten verschlimmert. Es ist aber nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist (§ 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG). Es kann sich darüber hinaus trotz an sich verfügbarer medikamentöser und ärztlicher Behandlung aber auch aus sonstigen Umständen im Zielstaat ergeben‚ dass der betroffene Ausländer diese medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen kann. Denn eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist. In die Beurteilung miteinzubeziehen und bei der Gefahrenprognose zu berücksichtigen sind sämtliche zielstaatsbezogenen Umstände‚ die zu einer Verschlimmerung der Erkrankung führen können. Von einer konkreten Gefahr ist in Krankheitsfällen dann auszugehen, wenn die erhebliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes alsbald nach der Abschiebung in den Zielstaat eintreten würde, weil eine adäquate Behandlung dort nicht möglich ist (vgl. zum Ganzen: BayVGH, U.v. 17.3.2016 – 13a B 16.30007 – juris; BVerwG‚ U.v. 17.10.2006 – 1 C 18.05 – NVwZ 2007, 712).
Allerdings hat der Ausländer eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung nach § 60a Abs. 2c Satz 3
AufenthG glaubhaft zu machen. Diese soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlichmedizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten. Diese Anforderungen des § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG an ein ärztliches Attest sind dabei auf die Substantiierung der Voraussetzungen an ein krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu übertragen (vgl. u.a. BayVGH, B.v. 24.1.2018 – 10 ZB 18.30105 – juris Rn 7 m.w.N.; B.v. 4.10.2018 – 15 ZB 18.32354 – beckonline; B.v. 26.4.2018 – 9 ZB 18.30178 – juris). Dies ergibt sich seit der Gesetzesänderung mit Wirkung vom 21. August 2019 auch ausdrücklich aus § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG.
Die Überprüfung, ob die vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen diesen Anforderungen entsprechen, ist dabei Aufgabe des erkennenden Gerichts. Die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens ist insoweit nicht erforderlich (BayVGH, B.v. 24.1.2018 – 10 ZB 18.30105 – beckonline).
Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, wie etwa eine unzureichende Versorgungslage, sind hingegen bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist jedoch im Einzelfall Ausländern, die einer gefährdeten Gruppe im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG angehören, für welche aber ein Abschiebestopp nach § 60a Abs. 1 AufenthG oder eine andere Regelung, die vergleichbaren Schutz gewährleistet, nicht besteht, ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Handhabung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zuzusprechen, wenn die Abschiebung wegen einer extremen Gefahrenlage im Zielstaat Verfassungsrecht verletzen würde. Das ist der Fall, wenn der Ausländer gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (st. Rspr. des BVerwG, U.v. 17.10.1995 – 9 C 9/95 – BVerwGE 99, 324/328; U.v. 19.11.1996 – 1 C 6/95 – BVerwGE 102, 249/258 f.; U.v. 8.12.1998 – 9 C 4/98 – BVerwGE 108, 77/80 f.; U.v. 12.7.2001 – 1 C 2/01 – BVerwGE 114, 379/382; U.v. 29.6.2010 – 10 C 10/09 – BVerwGE 137, 226/232 f.). Diese Grundsätze über die Sperrwirkung bei allgemeinen Gefahren und die Voraussetzungen für eine ausnahmsweise verfassungskonforme Anwendung in den Fällen, in denen dem Betroffenen im Abschiebezielstaat eine extreme zugespitzte Gefahr droht, sind auch für die neue Rechtslage nach dem Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes maßgeblich (vgl. BVerwG, B.v. 23.8.2006 – 1 B 60/06 (1 C 21/06) – juris).
1.1.2 Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe droht dem Kläger keine erheblich konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit.
1.1.2.1 Soweit der Kläger Schutz aufgrund einer Vergangenheit als Kindersoldat begehrt, droht ihm deshalb in Sierra Leone jedenfalls keine Verfolgung bzw. ernsthafter Schaden.
Eine staatliche Verfolgung ehemaliger Kindersoldaten ist in Sierra Leone nicht ersichtlich, insbesondere nicht im Wege der Strafverfolgung. Es liegen keine Erkenntnisse darüber vor, dass zwangsrekrutierte Kindersoldaten, insbesondere wenn sie keine herausgehobene Stellung hatten, nach dem Bürgerkrieg zur Rechenschaft gezogen wurden bzw. nunmehr – bezüglich des Klägers – fast 20 Jahre später noch würden.
Vielmehr ist auf die Generalamnestie aus dem Friedensabkommen von Lomé im Jahre 1999 hinzuweisen. Wenn mit Ausnahme der Hauptverantwortlichen eine Amnestie für die Rebellen gilt, umfasst dies jedenfalls auch die Kindersoldaten. Dabei geht das Gericht davon aus, dass die Amnestie – mangels entgegenstehender Erkenntnisse – auch diejenigen erfasst, die nach dem Abkommen bis zum endgültigen Ende des Bürgerkriegs weitergekämpft haben.
Zudem ist auf die abgeschlossene Tätigkeit des Sondergerichtshofs hinzuweisen. Bei der Einrichtung des Sondergerichts für Sierra Leone wurde das Mindestalter bei Tatbegehung für eine weitere Strafverfolgung auf fünfzehn Jahre festgesetzt und festgelegt, dass jugendliche Straftäter zwischen fünfzehn und achtzehn Jahren nicht mit Gefängnis bestraft, sondern mit dem Ziel der Resozialisierung und Wiedereingliederung an die Kommission für Wahrheit und Versöhnung verwiesen würden (BAMFLänderinformation Sierra Leone, Mai 2010). Wie sich allgemein zugänglichen Quellen im Internet entnehmen lässt, hat die damalige Präsidentin des Sondergerichtshofs für Sierra Leone in einem Interview ausdrücklich Strafverfahren gegen Kindersoldaten ausgeschlossen (www.agfriedensforschung.de/themen/kindersoldaten/sierraleone.html). Vielmehr gab es ein Rehabilitierungsprogramm in Sierra Leone für die Kindersoldaten (BAMF-Länderinformation Sierra Leone, Mai 2010). Nur in einigen Fällen seien Kinder von den Familien oder Dorfgemeinschaften nicht wieder aufgenommen worden, ansonsten sei die Reintegration der Kinder überwiegend erfolgreich verlaufen.
Auch durch die Bevölkerung ist der Kläger als ehemaliger Kindersoldat keiner erheblichen Bedrohung bei einer Rückkehr nach Sierra Leone ausgesetzt.
Es ist zum einen bereits nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Sierra Leone fast zwanzig Jahre nach dem Bürgerkrieg und sechs Jahre nach seiner zwischenzeitlichen Rückkehr und erneuten Ausreise überhaupt noch wiedererkannt würde. Schließlich ist der Kläger auch fast zwanzig Jahre gealtert. Schon dass noch gezielt nach dem Kläger gesucht würde, ist weder von ihm vorgetragen noch wahrscheinlich. Schließlich ist bereits nicht bekannt, ob oder wann der Kläger wieder nach Sierra Leone zurückkehrt bzw. ob er überhaupt noch lebt. Vielmehr äußerte der Kläger bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt sowie in der mündlichen Verhandlung lediglich eine Befürchtung vor allgemeinen Racheakten. Zum anderen existiert kein Melderegister in Sierra Leone (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 17.10.2017). Zudem ist es trotz der geringen Landesgröße Sierra Leones ebenso unwahrscheinlich, dass der Kläger zufällig Opfern oder Angehörigen etwaiger Opfer seiner früheren Taten begegnet, die sich noch an ihm rächen wollen würden.
Ebenso ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger bei einer Rückkehr auch ohne konkretindividuellen Bezug auf frühere Taten als ehemaliger Kindersoldat einer Bedrohung durch die Bevölkerung ausgesetzt wäre. Dem Gericht liegen keinerlei Erkenntnisse darüber vor, dass ehemalige Kindersoldaten bzw. Personen, die als ehemalige Kindersoldaten angesehen werden, allgemein Übergriffen durch die Bevölkerung ausgesetzt sind.
Im Übrigen ist für das Gericht nicht erkennbar, warum bei einer Rückkehr des Klägers nach Sierra Leone überhaupt ohne weiteres herauskommen sollte, dass der Kläger Kindersoldat gewesen ist.
1.1.2.2 Soweit der Kläger auf einen positiven Hepatitis B – Befund durch das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit im Auftrag des Referats für Gesundheit und Umwelt der Landeshauptstadt München verwiesen hat, genügt dies den dargelegten Anforderungen an § 60 Abs. 7 AufenthG offensichtlich nicht. Der Befundbericht von Frau Dr. E … vom 8. Mai 2018 stellte fest, dass die chronische Hepatitis B Erkrankung zu dem damaligen Zeitpunkt keiner – auch keiner medikamentösen – Therapie bedurfte, sondern lediglich Laborkontrollen im Abstand von drei bis sechs Monaten. Der zweite Befundbericht von Frau Dr. E … vom 9. November 2018 stellte ebenfalls den Mangel der Therapiebedürftigkeit fest und hielt nunmehr lediglich nur noch eine Notwendigkeit für Laborkontrollen im Zeitraum von sechs bis zwölf Monaten für erforderlich. Schon angesichts nicht bestehender derzeitiger Behandlungsbedürftigkeit ist nicht zu erkennen, dass eine Rückkehr des Klägers eine derart schwerwiegende oder gar lebensbedrohliche Situation für die klägerische Gesundheit bedeuten würde, dass bei verfassungskonformer Auslegung und Anwendung trotz Fehlen einer ausländerpolitischen Entscheidung ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu bejahen wäre. Soweit regelmäßige Kontrollen der Leberwerte und Viruslast veranlasst sind, ergäbe sich aus einem Ausbleiben solcher Kontrollen für sich genommen noch keine zielstaatsbezogene wesentliche Verschlechterung im zuvor dargestellten Sinne. Nach einer Auskunft der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Accra vom 23. Februar 2015 an das Bundesamt können bei einer Hepatitis B Erkrankung Leberwerte in Sierra Leone kontrolliert werden, wobei die Kosten wahrscheinlich nicht sehr hoch seien. Auch nach einer weiteren Auskunft der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Accra vom 26. September 2017 an das Bundesamt wäre sogar die Behandlung von Hepatitis B in Sierra Leone möglich. Die Medikamente müssten teilweise importiert werden. Medikamente zur Behandlung von Hepatitis seien in Sierra Leone vorhanden und nach dortigen Maßstäben eher preisgünstig. Der Erwerb solcher Medikamente stelle insofern keine außergewöhnliche Belastung dar. Darüber hinaus entsprechen die vorgelegten Befunde auch offensichtlich nicht den Anforderungen an § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG.
Im Übrigen handelt es sich bei einer chronischen Hepatitis B-Infektion in Sierra Leone aufgrund der großen Verbreitung dieser Erkrankung um eine allgemeine Gefahr i.S.v. § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG, die eine – allerdings nicht existierende – ausländerpolitische Entscheidung nach § 60a Abs. 1 AufenthG erfordern würde (vgl. VG München, U.v. 13.3.2017 – M 21 K 16.34574 -; U.v. 18.12.2017 – M 21 K 17.47357, beide nicht veröffentlicht).
1.1.2.3 Auch die vom Kläger geltend gemachten Schlafstörungen und depressiven Verstimmungen sowie die schwere depressive Episode begründen kein Abschiebeverbot.
Die vorgelegte gutachterliche Stellungnahme vom 30. Juli 2020 erfüllt nicht die Anforderungen an § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG. Die Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist sowie die Methode der Tatsachenerhebung, sind nicht ersichtlich. Die Stellungnahme geht von der Annahme aus, dass der Kläger ein Jahr zuvor stationär im …-Klinikum … aufgrund von einer schweren depressiven Episode (ICD 10 – F 32.2) bei schädlichem Substanzgebrauch (ICD 10 – F 12.1 + F 11.1) vom 13. Juli 2017 bis 3. August 2017 behandelt worden war. Die genauen Umstände dieser stationären Behandlung sind aber weder der gutachterlichen Stellungnahme beigefügt, noch liegen sie dem Gericht in einer anderen Form vor, weshalb eine nachvollziehbare Überprüfung der stationären Behandlung – insbesondere hinsichtlich der Tatsachengrundlagen – nicht möglich ist. Auch hinsichtlich der nunmehr bestehenden Schlafstörungen und depressiven Verstimmungen (ICD 10 – F 51.9 + F 32.1) ergibt sich aus der gutachterlichen Stellungnahme nicht, auf welcher Tatsachengrundlage die Diagnose erfolgt. Im zweiten Absatz wird lediglich festgestellt, dass der Kläger von der behandelnden Ärztin und Gutachterin auf Suizidalität und psychotische Symptome untersucht worden sei. Sodann wird auf die stabilisierende Therapiemaßnahme bei Herrn Dipl. Psych. W … eingegangen und von der vertieften Anamnese-Erhebung berichtet. Ob letztere Grundlage der gestellten Diagnose, auf Grund welcher die stabilisierende Therapiemaßnahme durch Herrn W … angeboten worden ist oder erst im Rahmen der Therapiemaßnahme erfolgte, bleibt ungewiss; zumal ein in die Wege eingeleiteter ambulanter Therapieversuch wegen Sprachproblemen fruchtlos verlief (vgl. Absatz 1 letzter Satz der gutachterlichen Stellungnahme) und das Gutachten aufgrund seiner Formulierung den Schluss nahe legt, dass die stabilisierende Therapiemaßnahme wohl nur bzw. insbesondere nur auf Grund der guten Compliance des Klägers angeboten worden ist. Auch die in Absatz 3 beschriebenen Folgen der in der Heimat erlebten Ereignisse und die Folgen einer möglichen Abschiebung werden nicht hinreichend begründet. Es bleibt bei bloßen Feststellungen bzw. Vermutungen. Insgesamt drängt sich dem Gericht der Eindruck auf, dass die Diagnose lediglich auf Grundlage der stationären Behandlung im …-Klinikum und der Untersuchung durch Frau U … erfolgt ist. Die Umstände und Ergebnisse dieser stationären Behandlung und der Untersuchung sind für das Gericht jedoch nicht hinreichend nachvollziehbar dargelegt. Vielmehr kann sich die gutachterliche Stellungnahme nicht dem Eindruck erwehren, dass die vom Kläger geschilderten traumatisierenden Ereignisse erst nach ursprünglicher Diagnoseerstellung der Gutachterin dieser mitgeteilt worden sind. Dann aber fehlt es – zumindest an für das Gericht nachvollziehbar dargelegten, da nicht vorliegenden – Umständen für die ursprüngliche Diagnose. Unklar bleibt damit, wie und auf Grund welcher genauen Umstände die Diagnose begründet wird.
Auch das nervenärztliche Attest vom 9. November 2020 erfüllt – schon offensichtlich – nicht die Anforderungen an § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG. Es fehlt bereits an einer Diagnose nach ICD-10 Kriterien bzw. dem lateinischen Namen der Erkrankung. Darüber hinaus fehlt es an der Darlegung der Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist sowie die Methode der Tatsachenerhebung und eine Auseinandersetzung mit den Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingen Situation voraussichtlich ergeben.
Auch in der Gesamtschau aller Atteste ist für das Gericht nicht ausreichend erkennbar, dass der Kläger an einer derart schweren Erkrankung leidet, die sich bei Rückkehr nach Sierra Leone alsbald wesentlich bis gar lebensbedrohlich verschlechtern wird.
1.1.2.4 Anhaltspunkte für eine extreme Gefahrenlage für den Kläger sind nach den nachfolgenden Ausführungen zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht ersichtlich. Damit liegt die für eine verfassungskonforme Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderliche hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger alsbald existenzbedrohenden Mangellagen ausgesetzt wäre, nicht vor.
1.1.2.5 Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ergibt sich ebenfalls nicht aufgrund der Covid-19-Pandemie. Unabhängig von der Regelung in § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG, wonach es bei allgemeinen Gefahren einer – vorliegend nicht bestehenden – Anordnung nach § 60a Abs. 1 AufenthG bedürfte, wäre der Kläger nicht über das allgemeine Risiko hinaus in besonderer Weise gefährdet, insbesondere nicht derart, dass er „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder Verletzungen ausgeliefert würde“ (vgl. BayVGH, B.v. 24.7.2015 – 9 ZB 14.30457 – juris Rn. 11; OVG NRW, B.v. 17.12.2014 – 11 A 2468/14.A – juris Rn. 14). Bei dem Großteil der Bevölkerung verläuft eine vom Coronavirus verursachte Erkrankung in der Regel eher mild. Ein erhöhtes Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf haben ältere Personen und Personen mit Vorerkrankungen, auch wenn schwere Verläufe auch bei Personen ohne bekannte Vorerkrankung auftreten können und auch bei jüngeren Patienten beobachtet wurden (vgl. Steckbrief des RKI, Stand 30.10.2020, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html). Der Kläger gehört zu keiner Risikogruppe. Eine solche Eigenschaft ist auch weder klägerseits vorgetragen noch aus den Umständen ersichtlich. Der von der Klagepartei im Schriftsatz vom *. August 2020 angesprochene Bericht von Ocha vom 2. Juli 2020 ist dem Gericht nicht zugegangen. Hierauf hat das Gericht auch in der mündlichen Verhandlung hingewiesen. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Bericht ist daher nicht möglich. Der Kläger wäre bei einer Rückkehr aus den genannten Gründen nicht über das allgemeine Risiko hinaus in besonderer Weise gefährdet.
Darüber hinaus wird die Ausländerbehörde etwaige Veränderungen in den humanitären Verhältnissen Sierra Leones vor einer Abschiebung prüfen und ggf. berücksichtigen müssen
1.2 Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK liegen ebenfalls nicht vor. Es ist nicht erkennbar, dass der Antragsteller bei einer Rückkehr nach Sierra Leone unmenschlichen Verhältnissen i.S.v. Art. 3 EMRK ausgesetzt würde. Es wird dem Kläger trotz der schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Sierra Leone möglich sein, sein Existenzminimum zu sichern. Ein außergewöhnlicher Fall, wonach unter dem allgemeinen Gesichtspunkt schwieriger humanitärer Bedingungen im Herkunftsland von einer Abschiebung entsprechend den Anforderungen des Art. 3 EMRK „zwingend“ abzusehen wäre, liegt nicht vor. Dabei ist § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG auch im Rahmen der Prüfung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG anzuwenden, wenn sich der Ausländer auf eine Erkrankung beruft, aufgrund derer er im Zielstaat seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern könne (OVG Lüneburg, B.v. 13.3.2020 – 9 LA 46/20 BeckRS 2020, 4520 Rn. 13 ff; Zimmerer in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, 5. Edition Stand: 1.7.2020, § 60 AufenthG Rn. 23; vgl. ferner BVerwG, B.v. 22.1.2020 – 1 B 3.20 – juris Rn. 4 unter Hinweis auf OVG SH, B.v. 1.11.2019 – 4 LB 18/17 – n.v. wohl zu § 60 Abs. 5 AufenthG).
Sierra Leone gehört trotz seines Rohstoffreichtums zu den ärmsten Ländern der Erde. Nach den Jahren des Bürgerkriegs erholt sich das Land wirtschaftlich nur langsam. Sierra Leone ist eines der am wenigsten entwickelten Länder der Welt. Die Wirtschaft Sierra Leones ist geprägt von der Landwirtschaft (überwiegend kleinbäuerliche Subsistenzwirtschaft) und der Rohstoffgewinnung. Das Land ist mit einem Bruttoinlandsprodukt von ca. 4,1 Milliarden US-Dollar und einem Pro-Kopf-Einkommen von ca. 539,2 US-Dollar (Stand Oktober 2019) eines der ärmsten Länder der Welt und belegt nach dem Human Development Index von 2019 Rang 181 der 189 untersuchten Länder. Ein Großteil der Bevölkerung (ca. 77%) lebt in absoluter Armut und hat weniger als 2 US-Dollar pro Tag zur Verfügung. Die Arbeitslosenrate im Land ist sehr hoch. Die Jungendarbeitslosigkeit ist ein besonderes Problem (Bertelsmann Stiftung, Bertelsmann Stiftung’s Transformation Index (BTI) 2016 – Sierra Leone Country Report, Gütersloh, Bertelsmann Stiftung, 2016). Staatliche oder nichtstaatliche finanzielle Fördermöglichkeiten wie Sozial- oder Arbeitslosenhilfe existieren nicht. Erwerbslose, Kranke, Behinderte und ältere Menschen sind ganz besonders auf die Unterstützung der traditionellen Großfamilie angewiesen. Auch nichtstaatliche oder internationale Hilfsorganisationen bieten in der Regel keine konkreten Hilfen zum Lebensunterhalt. Die Wirtschaft wird mit etwa 60,3% am Bruttoinlandsprodukt vom landwirtschaftlichen Sektor dominiert. Der Dienstleistungssektor trägt mit 32,4% und der Industriesektor mit 5,2% zum Bruttoinlandsprodukt bei. Die Mehrheit versucht mit Gelegenheitsjobs oder als Händler/in ein Auskommen zu erwirtschaften. Die Subsistenzwirtschaft wird in Familien oft parallel oder alternativ genutzt, um den Lebensunterhalt zu sichern (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Sierra Leone, Wien am 4.7.2018). Ungelernten Arbeitslosen gelingt es nur durch Hilfstätigkeiten, Gelegenheitsarbeiten (z.B. im Transportwesen), Kleinhandel (z.B. Verkauf von Obst, Süßigkeiten, Zigaretten) und ähnlichen Tätigkeiten etwas Geld zu verdienen und in bescheidenem Umfang ihren Lebensunterhalt sicher zu stellen (vgl. zu damals noch prekäreren Verhältnissen: OVG NRW, B.v. 6.9.2007 – 11 A 633/05.A – juris Rn 28). Die Lebensumstände in Sierra Leone sind also als äußerst schwierig zu bezeichnen. Man geht aber davon aus, dass sich ein junger, gesunder und arbeitsfähiger Mann in Sierra Leone ein Existenzminimum – wenn auch nur durch Gelegenheitsjobs – erwirtschaften kann. (vgl. VG Regensburg, U.v. 11.02.2019 – RN 14 K 17.3514 – juris).
Die medizinische Versorgung ist in Sierra Leone nach wie vor schwierig und es herrscht ein ausgeprägter Mangel an Fachärzten (vgl. BFA Republik Österreich a.a.O.; Bundesamt für …: Informationszentrum Asyl und Migration, Glossar Islamische Länder – Band 17 Sierra Leone, Mai 2010).
Auch angesichts der aktuellen Covid-19-Pandemie liegen keine Erkenntnisse vor, dass sich die Verhältnisse in Sierra Leone derart verschlechtert haben, dass es dem Kläger unzumutbar wäre, sein Existenzminimum zu sichern. Der von der Klagepartei in Bezug genommene Bericht von Ocha vom 2. Juli 2020 ist dem Gericht nicht zugegangen. Die klägerischen Ausführungen im Schriftsatz vom … August 2020 hinsichtlich der Covid-19 Pandemie sind damit nicht hinreichend glaubhaft gemacht und stellen somit bloße Behauptungen dar.
Die tatsächlichen individuellen Umstände des Klägers werden es ihm daher ermöglichen, trotz dieser humanitären Verhältnisse in Sierra Leone seinen Lebensunterhalt zu sichern. Der Kläger ist mittleren Alters und spricht eine der Landessprachen. Er hat acht Jahre lang die Schule besucht und Berufserfahrung als Maler, Designer von Textilien und Aushilfe im Versandhandel gesammelt. Darüber hinaus hat er sich durch Gelegenheitsarbeiten nicht nur seinen Unterhalt auf der Flucht gesichert, sondern auch die „Fluchtreise“ selbst finanziert. Dadurch hat er eine besondere Flexibilität und Eigeninitiative bei der Existenzsicherung bewiesen. Er ist darüber hinaus mit den Gepflogenheiten des Landes vertraut und unterliegt keinen Unterhaltsverpflichtungen. Soweit der Kläger gesundheitliche Gründe für ein Abschiebungsverbot anführt, wird auf obige Ausführungen zu §§ 60 Abs. 7 und 60a Abs. 2c AufenthG Bezug genommen. Darüber hinaus gehen die vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen auch nicht auf die Arbeitsfähigkeit des Klägers ein. Der Kläger selbst äußerte in der mündlichen Verhandlung lediglich die Vermutung, dass er ohne Medikamente nicht arbeitsfähig sei und begründete dies mit Schlafproblemen. Solche bestehen laut Vortrag der Klagepartei jedoch auch trotz derzeitiger Einnahme von Medikamenten. Zugleich äußerte der Kläger, dass er nicht genau sagen könne, was passieren würde, wenn er keine Medikamente mehr erhalten würde. Trotz dieser Umstände fühlt sich der Kläger nach eigener Aussage derzeit jedoch in der Lage, auch schweren körperlichen Tätigkeiten nachzukommen. Insgesamt erscheint es zwar möglich, dass der Kläger ohne Fortführung der medikamentösen Behandlung (weiterhin) an (möglicherweise auch verstärkten) Schlafproblemen leiden könnte. Diese Beeinträchtigung erscheint aber nicht derart gravierend, dass sie die Erwerbsfähigkeit des Klägers soweit einschränken würde, dass diesem eine Existenzsicherung unmöglich wäre. Es ist daher zu erwarten, dass der Kläger bei einer Rückkehr in der Lage sein wird, sich eine Existenz – wenngleich nur durch die Aufnahme von Gelegenheitsarbeiten – aufbauen und sichern kann.
2. Im Übrigen wird auf die Bescheidsbegründung nach § 77 Abs. 2 AsylG, insbesondere hinsichtlich der Ausreisefrist von 30 Tagen und der Abschiebungsandrohung nach §§ 34, 38 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG sowie dem gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG, Bezug genommen.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO bzw. – soweit die Klage zurückgenommen wurde – auf § 155 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
IV.
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. der Zivilprozessordnung.


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