Medizinrecht

Erteilung einer Ausnahmegenehmigung vom Versammlungsverbot in Bayern während der Covid-19 Pandemie

Aktenzeichen  RO 14 E 20.675

Datum:
24.4.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 7824
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Regensburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 67 Abs. 4 S. 4, § 113 Abs. 5 S. 2, § 123, § 154 Abs. 1
GG Art. 8, Art. 19 Abs. 4
BayIfSMV § 1 Abs. 1
GKG § 52 Abs. 1, 2, § 53 Abs. 2 Nr. 2
RDGEG § 3, § 5

 

Leitsatz

Die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung vom Versammlungsverbot nach der 2. BayIfSMV ist geboten, wenn die Abhaltung der konkret geplanten Versammlung aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vertretbar ist.

Tenor

I. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, der Antragstellerin eine Ausnahmegenehmigung vom Versammlungsverbot für die Demonstration unter dem Titel „WIR HALTEN ABSTAND“ am 25.04.2020 auf dem Marktplatz in 1…, unter den Auflagen, dass
1.die Versammlung zeitlich beschränkt ist auf den Zeitraum von 15:30 Uhr bis 16:30 Uhr,
2.die Versammlung örtlich beschränkt ist auf den Marktplatz in 1…,
3.die Versammlung nicht über Internetdienste, Radio und Megaphone beworben werden darf,
4.die Teilnehmer einen Abstand von 2 m untereinander einhalten,
5.ein Mindestabstand der Versammlungsteilnehmer zu Passanten von mindestens 1,5 m eingehalten wird und
6.bei der Auslage des Informationsmaterials sichergestellt wird, dass ein Mindestabstand zwischen 2 Personen von 1,5 m eingehalten wird, zu erteilen.
II.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III.
Der Streitwert wird auf 2.500 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragstellerin begehrt eine Ausnahmegenehmigung für die Durchführung einer Versammlung am 25.04.2020 in 1… und richtet sich gegen die Ablehnung der beantragten Ausnahmegenehmigung durch das Landratsamt 1… Die WHO hat am 11.03.2020 die weltweite Ausbreitung von Covid-19 zu einer Pandemie erklärt. Das Robert-Koch-Institut schätzt die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland derzeit als hoch ein, für Risikogruppen sogar als sehr hoch.
§ 32 Infektionsschutzgesetz ermächtigt die Landesregierungen durch Rechtsverordnungen entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen. Zu diesem Zweck können Grundrechte, insbesondere das Recht auf Versammlungsfreiheit gemäß Art. 8 GG eingeschränkt werden.
Mit Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege vom 16.04.2020 und 21.4. 2020 wurde die Zweite Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 16.04.2020, geändert durch die Verordnung zur Änderung der Zweiten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 20.04.2020 erlassen (2. BayIfSMV).
Die Zweite Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung sieht umfangreiche Maßnahmen vor, um die Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 einzudämmen.
Die Verordnung regelt in § 1 Abs. 1 Satz 1 2. BayIfSMV ein grundsätzliches Verbot von Veranstaltungen und Versammlungen. Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 3 2. BayIfSMV können von dem allgemeinen Versammlungsverbot Ausnahmegenehmigungen auf Antrag von der zuständigen Kreisverwaltungsbehörde erteilt werden, soweit dies im Einzelfall aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vertretbar ist.
Die Antragstellerin beantragte mit E-Mail vom 19.04.2020 bei der zuständigen Behörde, dem Landratsamt 1…, eine Ausnahmegenehmigung für die Durchführung einer Demonstration mit dem Titel „WIR HALTEN ABSTAND“. Die Demonstration soll am 25.04.2020 auf dem Marktplatz in 1… in der Zeit von 15:30 Uhr bis 16:30 Uhr stattfinden.
In ihrem Antrag führte die Antragstellerin aus, dass die Demonstration mit 20 Personen durchgeführt werden solle. Die Teilnehmer würden sich jeweils 2 rot-weiße Absperrbänder um die Hüften binden, um einen Abstand von 2 m zu gewährleisten. Sodann würden sich die Teilnehmer zu einem geschlossenen Kreis formieren. Es können nur so viele Teilnehmer an der Demonstration teilnehmen wie Absperrbänder zur Verfügung stehen.
Zudem würde die Antragstellerin auf einer Decke Informationsmaterial auslegen, welches sich Passanten bei Interesse selbst nehmen könnten.
Mit E-Mail vom 20.04.2020 teilte die Antragsgegnerin mit, dass gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 2. BayIfSMV bayernweit Veranstaltungen und Versammlungen untersagt seien. Zur Begründung, weshalb eine Ausnahmegenehmigung nicht erteilt werden könne, führte die Antragsgegnerin aus:
„Damit eine Ausbreitung des Corona Virus (Sars-CoV-2) wirksam entgegnet werden kann, sind Ausnahmen vom Verbot im Landkreis 1… aus infektionsschutzrechtlicher Sicht nicht vorgesehen. Auch bei Einhaltung von hygienischer Maßnahmen, wie Gesichtsschutz und eine Abstandsregelung sind Infektionen durch den Coronavirus nicht auszuschließen. Eine Genehmigung der Versammlung ist derzeit nicht möglich.“
Gegen den abgelehnten Antrag auf Ausnahmegenehmigung richtet sich die Antragstellerin im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes und führt zur Begründung aus, sie habe einen Anordnungsanspruch. Ziel der „WIR HALTEN ABSTAND“-Demonstration sei es, darauf hinzuweisen, dass es auch in Zeiten der Coronakrise unter Einhaltung der entsprechenden Abstandsregeln möglich ist, sich einerseits im öffentlichen Raum zu bewegen und andererseits das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit wahrnehmen zu können. Das ausgelegte Informationsmaterial solle interessierten Bürgern dienen, sich über die wesentlichen Aspekte der derzeitigen Situation informieren zu können.
Mit der Versagung der Genehmigung habe die Antragsgegnerin kein pflichtgemäßes Ermessen ausgeübt, welches ihr gem. § 1 Abs. 1 Satz 3 2. BayIfSMV eingeräumt worden sei. Die Antragsgegnerin habe eindeutig zu erkennen gegeben, dass es in ihrem Zuständigkeitsbereich keine Ausnahmen vom Versammlungsverbot geben werde.
Selbst wenn die Behörde ihr Ermessen pflichtgemäß ausgeübt hätte, hätte eine Ausnahmegenehmigung für die Versammlung erteilt werden müssen. Indem die Versammlungsteilnehmer mittels Absperrbänder einen Abstand von 2 m einhalten, werde kein anderes Verhalten vorgenommen, als auch sonst im öffentlichen Raum von der Bevölkerung, denn 2. BayIfSMV gestatte, dass sich eine Gruppe von Personen unter Einhaltung des Mindestabstands im öffentlichen Raum bewege.
In dem die Teilnehmerzahl auf 20 beschränkt werde, insbesondere in dem nur eine begrenzte Anzahl von Absperrbändern zur Verfügung stehe, sei auch nicht zu befürchten, dass sich die Teilnehmerzahl wesentlich erhöhen werde und schließlich sich eine unüberschaubare Anzahl von Personen auf engem Raume zusammenfinde.
Darüber hinaus stünde auch Art. 16 Abs. 2 Nummer 1 BayVersG nicht entgegen, da erst ab dem 27.04.2020 das Tragen eines Mund-Naseschutzes verpflichtend werde und die Tragepflicht darüber hinaus lediglich in Geschäften und dem ÖPNV gelte, nicht jedoch bei Aufenthalt außerhalb geschlossener Einrichtungen.
Im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes beantragt die Antragstellerin,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der Antragstellerin die Genehmigung zur Durchführung der „WIR HALTEN ABSTAND“-Demonstration am 25.04.2020 auf dem Marktplatz in 1… von 15:30 Uhr bis 16:30 Uhr zu erteilen,
hilfsweise die Antragsgegnerin zu verpflichten, der Antragstellerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts die Genehmigung zur Durchführung der „WIR HALTEN ABSTAND“-Demonstration am 25.04.2020 auf dem Marktplatz in 1… von 15:30 Uhr bis 16:30 Uhr zu erteilen,
hilfsweise über den Antrag der Antragstellerin zur Durchführung der „WIR HALTEN ABSTAND“-Demonstration am 25.04.2020 auf dem Marktplatz in 1… von 15:30 Uhr bis 16:30 Uhr unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Die Antragsgegnerin führt zur Begründung aus, dass der Antrag der Antragstellerin mangels Anordnungsanspruch unbegründet sei. Es bestünde kein Anspruch auf Erteilung einer Ausnahme. Die Antragstellerin habe lediglich einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung und dieser sei bereits erfüllt worden.
Es liege kein Ermessensausfall durch die Antragsgegnerin vor, da die Formulierung der E-Mail vom 20.04.2020 deutlich mache, dass sich die Antragsgegnerin ihrem Ermessensspielraum bei der Entscheidung bewusst gewesen sei. Es habe eine Abwägung zwischen dem Gesundheitsschutz einerseits und der Versammlungsfreiheit andererseits stattgefunden. Dies sei bereits dadurch deutlich, dass die Antragsgegnerin in ihrer ablehnenden Entscheidung die Formulierung „derzeit“ verwendete. Hierdurch habe eine Abwägung vor dem Hintergrund der aktuellen Situation stattgefunden.
Das Ergebnis der Ermessensentscheidung sei auch ermessensgerecht. Die Ausnahmegenehmigung gem. § 1 Abs. 1 Satz 3 2. BayIfSMV sei restriktiv zu handhaben. Dies ergebe sich bereits aus der Ausgestaltung als repressives Verbot mit Befreiungsvorbehalt. Dies werde zudem darin deutlich, dass die 2. BayIfSMV Änderungen in Form von Lockerungen enthalte. Lockerungen seien gerade nicht bei Veranstaltungen und Versammlungen vorgesehen, da sich ein verhältnismäßig höheres Infektionsrisiko ergeben. Entgegen dem Vorbringen der Antragsgegnerin sei das geplante Verhalten der Versammlungsteilnehmer auch nicht außerhalb einer Versammlung erlaubt bzw. sozial adäquat. § 5 Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 3 Nummer 7 2. BayIfSMV untersage ausdrücklich eine Gruppenbildung.
Aus diesen Gründen könne eine Ausnahmegenehmigung nicht erteilt werden. Darüber hinaus käme auch keine Ausnahmegenehmigung unter Auflagen in Betracht. Eine Umzäunung oder das Kenntlichmachen des Versammlungsgeländes sei nicht möglich, da schon der Gesundheitsschutz zwischen den Teilnehmern nicht gewährleistet werden könne. Dies gelte auch im Hinblick auf den Gesundheitsschutz der Passanten, da diese aufgrund der Veranstaltung animiert werden, sich zu mehren und durch das ausgelegte Informationsmaterial angelockt werden. Dieser Effekt werde durch die Wahl des Versammlungsortes verstärkt, da am Samstagnachmittag am zentral gelegenen Marktplatz viele Bürger unterwegs seien um sich an der frischen Luft zu bewegen oder Einkäufe zu erledigen.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts wird im Übrigen auf die jeweiligen Schriftsätze Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag ist begründet.
Der Antragsteller hat gemäß § 1 Absatz 1 Satz 3 der Zweiten Bayerischen Verordnung über Infektionsschutzmaßnahmen (2. BayIfSMV) vom 16. April 2020, geändert durch die Verordnung zur Änderung der Zweiten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 21.04.2020 einen Anspruch auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung unter Auflagen zur Durchführung der in diesem Antrag näher bezeichneten Versammlung.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Erforderlich ist, dass der Antragsteller einen materiellen Anspruch (Anordnungsanspruch) und die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung gerade im einstweiligen Rechtsschutzverfahren (Anordnungsgrund) glaubhaft macht.
Die Antragstellerin hat sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
a) Bei summarischer Prüfung ist § 1 Abs. 1 Satz 1 2. BayIfSMV mit der Rechtsgrundlage in § 32 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes vom 20.07.2000, geändert durch Art. 1, 2 und 3 des Gesetzes vom 27. März 2020 (BGBl. I S. 587), in Verbindung mit § 9 Nr. 5 der Delegationsverordnung (DelV) vom 28. Januar 2014 (GVBl. S. 22, BayRS 103-2-V), zuletzt geändert durch Verordnung vom 13. Januar 2020 (GVBl. S. 11) mit dem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG, Art. 113 BV) vereinbar.
Die vorübergehende Einschränkung der Versammlungsfreiheit und der Meinungsfreiheit, die § 1 Abs. 1 Satz 1 2. BayIfSMV beinhaltet, ist zum Zwecke des Schutzes von Leben und Gesundheit der Bevölkerung vor der raschen Ausbreitung des Corona-Virus und der Überlastung des Gesundheitssystems als eines überragend wichtigen Gemeinschaftsgutes derzeit wohl verfassungsrechtlich gerechtfertigt (vgl. für Betriebsuntersagungen VG München, Beschlüsse v. 20.03.2020 – M 26 E. 20.1209 und M 26 S 20.1222; B.v. 31.3.2020 – M 26 E 20.1343; BayVGH, B.v. 30.3.2020 – 20 CS 20.611).
Die dortigen Erwägungen zur Verhältnismäßigkeit greifen mutatis mutandis auch für die vorübergehende Einschränkung der Versammlungsfreiheit durch § 1 Abs. 1 BayIfSMV Platz. § 28 Abs. 1 Satz 2 und Satz 4 IfSG sehen ausdrücklich die Einschränkung der Versammlungsfreiheit vor. Auch das Veranstaltungs- und Versammlungsverbot hat, wie die übrigen Verbote der Verordnung, ausschließlich zum Ziel, die Verbreitung des Corona-Virus durch Unterbrechung der Infektionsketten zu verlangsamen.
Das Bundesverfassungsgericht hat es unter Verweis auf die staatliche Verpflichtung zum Schutz des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Art. 2 Abs. 2 GG im Eilverfahren abgelehnt, die bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung außer Vollzug zu setzen (BVerfG, B.v. 7.4.2020 – 1 BvR 755/20). Der Verordnungsgeber hat mit der zeitlichen Befristung der Verordnung dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hinreichend Rechnung getragen.
Darüber hinaus ist das Veranstaltungs- und Versammlungsverbot gem. § 1 2. BayIfSMV als repressives Verbot mit Befreiungsvorbehalt ausgestaltet. In dem vom grundsätzlichen Verbot Ausnahmegenehmigungen auf Antrag erteilt werden können, soweit dies im Einzelfall aus Gründen des Infektionsschutzes vertretbar erscheint, wird dem grundgesetzlich besonders geschützten Grundrecht der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG hinreichend Rechnung tragen.
b) Die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch hinreichend glaubhaft gemacht.
Die Antragsgegnerin hat bei der Prüfung, ob eine Ausnahmegenehmigung erteilt wird, das ihr zustehende Ermessen nicht fehlerfrei ausgeübt und somit dem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit nicht hinreichend Rechnung getragen.
Die Antragsgegnerin hat verkannt, dass ihr im Rahmen der Erteilung einer Ausnahmegenehmigung gemäß § 1 Abs. 1 Satz 3 2. BayIfSMV die Ausübung des Ermessens eingeräumt wird (BVerfG, B. v. 15.4.2020 1 BvR 828/20).
Eine Ausnahmegenehmigung kann nach § 1 Abs. 1 Satz 3 BayIfSMV unter strengen Auflagen erteilt werden können, die die Eindämmung der infektionsschutzrechtlichen Gefahren sicherstellen (BayVGH, B. v. 9. 4. 2020, Az. 20 CE 20.755).
Indem die Antragstellerin in der Ablehnung des Antrags auf Erteilung der Ausnahmegenehmigung ausführt, dass Ausnahmen vom Verbot im Landkreis 1… aus infektionsschutzrechtlicher Sicht nicht vorgesehen seien, ergibt sich, dass keine Entscheidung im Einzelfall getroffen wurde.
Soweit die Antragsgegnerin vorträgt, sie habe das ihr zustehende Ermessen fehlerfrei ausgeübt, was sich schon anhand der Formulierung „derzeit“ ergibt, überzeugt dies nicht.
Selbst unter der Annahme, die Antragsgegnerin habe eine Ermessensentscheidung getroffen, so ist diese fehlerhaft.
Die Antragsgegnerin hat sich weder mit den im Antrag der Antragstellerin vorgebrachten Umständen der Versammlung auseinandergesetzt, insbesondere nicht die örtlichen sowie zeitlichen Begebenheiten der Versammlung berücksichtigt. Darüber hinaus fehlt es an einer hinreichenden Bewertung der infektionsschutzrechtlichen Situation.
Nach Einschätzung des Robert-Koch-Instituts stellen feine Tröpfchen aus der Atemluft den Hauptübertragungsweg von SARS-CoV- 2 dar. Das Risiko einer Übertragung im öffentlichen Raum verringert sich erheblich, wenn ein physischer Abstand von mindestens 1,5 m eingehalten wird.
Die Antragstellerin beabsichtigt daher, zum Schutz vor Übertragungen einen Abstand von sogar 2 m bei den Versammlungsteilnehmern sicherzustellen. Darüber hinaus werde die Versammlung auf 20 Teilnehmern begrenzt, indem nur für diese beschränkte Anzahl an Teilnehmern Absperrband bereitgehalten werde. Die Antragsgegnerin hat in ihrer Entscheidung schon nicht hinreichend berücksichtigt, ob die genannten Maßnahmen (Abstand von 2 m und Begrenzung der Teilnehmerzahl) aus infektionsschutzrechtlicher Sicht geeignet sind.
Darüber hinaus überzeugt der pauschale Hinweis der Antragsgegnerin, Passanten werden animiert sich zu nähern, weil die Versammlung an einem Samstagnachmittag am zentralen Marktplatz stattfinden solle und zu dieser Uhrzeit viele Bürger unterwegs seien um Einkäufe zu erledigen und sich an der frischen Luft zu bewegen, nicht.
Die Antragstellerin hat sich nicht mit den konkreten Umständen des Einzelfalls auseinandergesetzt. Die geplante Versammlung soll am Samstag in der Zeit von 15:30 bis 16:30 Uhr stattfinden. Innerhalb dieses Zeitraums sind nahezu alle Einrichtungen, insbesondere Gastronomiebetriebe und Ladengeschäfte des Einzelhandels geschlossen. Dies ist nicht nur auf die grundsätzliche Betriebsuntersagung gemäß § 2 2. BayIfSMV zurückzuführen. Selbst Ladengeschäfte des Einzelhandels, wie zum Beispiel Apotheken, Drogerien oder der Lebensmittelhandel, für die gemäß § 2 Abs. 4 Satz 1 und 2 2. BayIfSMV eine Ausnahme nun vom der allgemeinen Betriebsuntersagung gilt, sind zu diesem Zeitpunkt geschlossen.
Beispielsweise konnte das Gericht in Erfahrung bringen, dass die sich am Marktplatz 1… befindliche Apotheke (2…- Apotheke) am Samstag lediglich in der Zeit von 8:00 Uhr bis 12:00 Uhr geöffnet ist, der Optiker (3…) nur in der Zeit vom 8:00 Uhr bis 14:00 Uhr geöffnet ist und die Bäckerei (Konditorei 4…) von 10:00 Uhr bis 15:00 Uhr geöffnet ist.
Darüber hinaus erstreckt sich der Marktplatz in 1… auf eine Fläche von ca. 1200 m² (Angaben beruhen auf Messung über BayernAtlas; www.geoportal.bayern.de/bayernatlas). Die Antragsgegnerin hätte berücksichtigen müssen, ob und inwieweit sich eine Versammlung von 20 Personen, die sich zu einem Kreis formiert, Auswirkungen auf Passanten hat.
Aus diesen Gründen ergibt sich, dass die Antragsgegnerin hätte prüfen müssen, ob aus infektionsschutzrechtlichen Gründen Erteilung des Genehmigungsbescheides unter Auflagen möglich ist. Dabei sind in Abwägung des Rechts auf Versammlungsfreiheit mit den infektionsschutzrechtlichen Gefahren, die sich insbesondere aus der Möglichkeit des Entstehens von Menschenansammlungen außerhalb der Versammlung ergeben, folgende Maßnahmen zu berücksichtigen:
– Keine Werbung der Versammlung, insbesondere nicht über Social-Media-Plattformen, um zu verhindern, dass vermehrt Teilnehmer zur Versammlung stoßen;
– Verbot von Werbung über Ansprechen von Passanten,
– Begrenzung der Teilnehmerzahl unter Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse
– Vermeidung des physischen Kontakts zwischen Teilnehmern und Passanten, insbesondere bei der Verteilung/Auslegung von Informationsmaterial,
– ergänzende Schutzmaßnahmen im Rahmen eines einzelfallbezogenen Hygienekonzepts (z.B. Tragen von Mund-Nase-Schutz, Desinfektionsmittel bereithalten etc.)
c) Wie bereits ausgeführt, steht der Antragsgegnerin ein Ermessensspielraum bei der Erteilung der Ausnahmegenehmigung zu. Aus diesem Grund kann das Gericht grundsätzlich die Antragsgegnerin nur zu einem Verhalten nach eigener sachgemäßer Beurteilung und Entscheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts analog § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO verpflichten. Darüber hinaus ist es grundsätzlich ausgeschlossen, im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes die Hauptsache vorwegzunehmen.
Das Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache besteht jedoch dann nicht, wenn die Entscheidung sowie deren Folgen aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht mehr rückgängig gemacht werden können und wenn eine bestimmte Regelung zur Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes schlicht notwendig ist. Darüber hinaus gebietet das Gebot effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 GG in begründeten Fällen, dass das Gericht die Antragsgegnerin zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet, auch wenn der Antragsgegnerin in der Sache ein Ermessensspielraum zusteht (Überschreitung der Hauptsache). Eine solche Überschreitung der Hauptsache kommt in Betracht, wenn dem Rechtsschutzauftrag des Art. 19 Abs. 4 GG anders nicht Rechnung getragen werden könnte (vgl. BeckOK VwGO/Kuhla VwGO § 123 Rn. 158, 158.1). Eine Entscheidung zugunsten der Antragstellerin darf aber nur dann ergehen, wenn eine irreversible Grundrechtsverletzung droht. Zudem muss davon auszugehen sein, die beantragte Neuerscheinung, werde mit hoher Wahrscheinlichkeit zugunsten des Rechtsschutzsuchenden ausgehen – hier die Erteilung der Ausnahmegenehmigung (vgl. BayVGH, B. v. 6.5.2013 – 22 CE 13.923 – juris Rn. 20; BayVGH, B. v. 18.8.2015 – 9 CE 15.934 -, juris Rn. 12).
Ein solcher Ausnahmefall liegt dann vor, wenn die zu erwartenden Nachteile für die Antragstellerin unzumutbar wären und im Verfahren der Hauptsache nicht mehr zu beseitigen wären sowie ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für den Erfolg in der Hauptsache spricht. Dies ist dann der Fall, wenn einerseits die Entscheidung in der Hauptsache zu spät kommen würde, die der Antragstellerin drohenden Nachteile irreparabel wären und keine gegenläufigen Interessen der Verwaltung überwiegen.
Diese Voraussetzungen liegen im konkreten Fall vor, sodass ausnahmsweise eine Vorwegnahme der Hauptsache zulässig ist und das Gericht trotz Ermessensspielraum der Antragstellerin nach eigener sachgemäßer Beurteilung die Antragsgegnerin zu einem bestimmten Verhalten verpflichten kann.
Die Entscheidung des Gerichts im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes konnte, da der Rechtsstreit erst am Nachmittag des 23.04.2020 rechtshängig gemacht wurde, erst am 24.04.2020 entscheiden.
Die geplante Versammlung soll bereits am kommenden Tag, am 25.04.2020 stattfinden.
Würde das Gericht die Antragsgegnerin verpflichten, erneut über den Antrag unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden, würde weitere Zeit verstreichen, sodass im Falle einer erneuten Ablehnung des Antrags nicht mehr sichergestellt werden kann, dass die Antragstellerin effektiven Rechtsschutz beanspruchen kann.
Darüber hinaus ergibt sich unter den oben genannten Gründen, dass die Antragsgegnerin unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls eine Ausnahmegenehmigung vom Versammlungsverbot erteilen müsste, da dies aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vertretbar ist.
Aus diesen Gründen durfte das Gericht unter Beachtung der Bedeutung und Tragweite von Art. 8 GG die Antragsgegnerin zu einem konkreten Verhalten trotz Ermessensspielraum verpflichten.
d) Aus den oben genannten Gründen ergibt sich auch der Anordnungsgrund.
e) Die Verpflichtung zur Erteilung einer Ausnahmegenehmigung unter Auflagen ist als wesensgleiches Minus des Hauptantrags zulässig.
f) Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 und 2 GKG i.V.m. Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.


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