Medizinrecht

Fahreignungsprüfung durch Fahrverhaltensbeobachtung anstatt ärztlicher Begutachtung

Aktenzeichen  M 26 S 17.1401

Datum:
28.9.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 80 Abs. 5
StVG StVG § 3 Abs. 1 Satz 1
FeV FeV § 46 Abs. 1
FeV FeV § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1
FeV FeV § 11 Abs. 8
Anlage 4 zur FeV Nr. 9.6.2

 

Leitsatz

1 Der Schluss auf die Nichteignung bei Nichtvorlage eines Gutachtens ist nur zulässig, wenn die Anordnung der ärztlichen bzw. medizinisch-psychologischen Untersuchung rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig ist (Anschluss BVerwG BeckRS 2005, 28693). (redaktioneller Leitsatz)
2 Hieran fehlt es, wenn nach dem Ergebnis eines bereits vorliegenden ärztlichen Gutachtens  lediglich die Frage zu klären ist, ob der Antragsteller festgestellte Leistungsmängel durch persönliche Dispositionen und praktische Erfahrung zu kompensieren vermag. Hierfür bietet sich als Mittel eine praktische Fahrverhaltensbeobachtung an. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom … August 2017 wird hinsichtlich der Nummern 1 und 2 des Bescheids des Landratsamts Fürstenfeldbruck vom 10. Januar 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. März 2017 wiederhergestellt. Der Antragsgegner wird verpflichtet, dem Antragsteller unverzüglich nach Zustellung dieses Beschlusses vorläufig einen Führerschein auszustellen und auszuhändigen, der die Fahrerlaubnis der Klassen A1, AM, B, BE und L dokumentiert.
II. Der Antragsgegner hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf Euro 3.750,- festgesetzt.

Gründe

I.
Der antragsteller wendet sich im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen A1 und BE.
Der 19… geborene Antragsteller war Inhaber einer Fahrerlaubnis der Klasse 3 (alt). Mit Schreiben vom 7. Juni 2016 ordnete das Landratsamt die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens an. Zur Begründung wurde angeführt, der Antragsteller habe sich unerlaubt vom Unfallort entfernt, nachdem er beim Ausparkvorgang mehrere Versuche benötigt und zwei geparkte Fahrzeuge beschädigt habe. Der Antragsteller habe gegenüber der Polizei angegeben, dass er beim Rückwärtsausparken weder ein Geräusch noch eine entsprechende Bewegung wahrgenommen habe, die auf einen Unfall hingedeutet hätte. Wegen seiner Schwerhörigkeit trage er ein Hörgerät, das zur Tatzeit wegen leerer Batterien jedoch nicht betriebsbereit gewesen sei. Aus einem in der Strafakte befindlichen Änderungsbescheid des Versorgungsamtes vom … Januar 2016 gehe unter anderem hervor, dass der Antragsteller neben einer Schwerhörigkeit beidseits auch an Herzrhythmusstörungen, einer Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Polyneuropathie und Zuckerkrankheit leide.
Nach einem vom Antragsteller vorgelegten Attest eines Facharztes für Allgemeinmedizin vom … Juni 2016 hatten sich bei drei Ruhe-EKG-Untersuchungen keine Hinweise auf Herzrhythmusstörungen ergeben.
Das ärztliche Gutachten vom … August 2016 kam hinsichtlich der Eignung des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 zu folgenden Ergebnissen:
– Es liege ein Diabetes mellitus vor, der mit Insulin und Metformin behandelt werde. Der Antragsteller bestimme seinen Blutzuckerspiegel mehrmals täglich. Er könne die Symptome der Hyper- und Hypoglykämie beherrschen und kenne die Vorsichtsmaßnahmen bezüglich der Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr. Entsprechend der Nr. 5.4 der Anlage 4 zur FeV sei er in der Lage, den Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 gerecht zu werden, da eine relativ gute Stoffwechselführung ohne Unterzuckerung über 3 Monate und eine ungestörte Hypoglykämiewahrnehmung vorlägen.
– Bezüglich der Polyneuropathie, die sich bei der Begutachtung in Problemen mit dem Einbeinstand und unsicherem Seiltänzergang geäußert habe, lägen fahreignungsrelevante Funktionseinschränkungen nicht vor. Der Antragsteller sei entsprechend der Nr. 6.2 der Anlage 4 in der Lage, den Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 gerecht zu werden, da die Symptome der Polyneuropathie mild ausgeprägt seien. Es sei eine Nachuntersuchung in einem Jahr erforderlich.
– Auch die Schwerhörigkeit betreffend sei der Antragsteller entsprechend der Nr. 2 der Anlage 4 zur FeV in der Lage, den Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 gerecht zu werden, da andere schwerwiegende Mängel (z. B. Sehstörungen, Gleichgewichtsstörungen) nicht vorlägen.
– Allerdings lägen fragestellungsrelevante psychophysische Leistungsbeeinträchtigungen sowohl für die Gruppe 1 als auch für die Gruppe 2 vor. Die Abklärung der psychophysischen Leistungsvoraussetzungen lasse hinsichtlich der verkehrsrelevanten Fähigkeitsbereiche Reaktionsfähigkeit, Konzentration und Aufmerksamkeit im Vergleich zur Norm kein normgerechtes Leistungsbild erkennen. Bezüglich der Gruppe 1 wäre der Antragsteller in der Lage, den Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen gerecht zu werden, sofern die festgestellten Leistungsdefizite kompensiert werden könnten.
In einer ergänzenden Stellungnahme führte die Begutachtungsstelle aus, dass bezüglich der Schwerhörigkeit das Tragen einer adäquaten Hörhilfe nach dem aktuellen Stand der medizinisch-technischen und audiologisch-technischen Kenntnisse als Auflage zur Fahrerlaubnis angeordnet werden sollte. Des Weiteren wurde klargestellt, dass aus medizinischer Sicht eine Kompensation der festgestellten Leistungsdefizite möglich sei.
Mit Schreiben vom 24. August 2016 ordnete das Landratsamt die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens bis spätestens zum 24. November 2016 an, das folgende Fragen klären sollte: „Kann der Antragsteller trotz des Vorliegens der aktenkundigen Erkrankungen (Diabetes mellitus, Polyneuropathie und Schwerhörigkeit), die nach Anlage 4 Nr. 5.4, Nr. 6.2 und Nr. 2 FeV die Fahreignung in Frage stellen und unter Berücksichtigung der in dem fachärztlichen Gutachten vom … August 2016 festgestellten Befunde ein Kraftfahrzeug der Gruppe 1 (A1, AM, B, BE und L) sicher führen? Insbesondere ist zu prüfen, ob das Leistungsvermögen zum sicheren Führen eines Kraftfahrzeugs der Gruppe 1 (A1, AM, B, BE und L) ausreicht. Des Weiteren ist zu prüfen, ob eine Kompensation der festgestellten Einschränkungen durch besondere persönliche Voraussetzungen möglich ist.“
Da der Antragsteller das geforderte Gutachten nicht vorlegte, entzog ihm das Landratsamt mit Bescheid vom 10. Januar 2017 unter Anordnung der sofortigen Vollziehung die Fahrerlaubnis aller Klassen und forderte ihn – ebenfalls sofort vollziehbar und unter Androhung eines Zwangsgeldes – auf, seinen Führerschein innerhalb einer Woche nach Zustellung des Bescheids abzugeben. Dem kam der Antragsteller nach. Den gegen den Bescheid eingelegten Widerspruch wies die Regierung von Oberbayern mit Widerspruchsbescheid vom 15. März 2017 als unbegründet zurück.
Am … April 2017 ließ der Antragsteller Schriftsatzentwürfe für eine Klage sowie einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO einreichen. Mit Beschluss vom 17. August 2017 bewilligte das Gericht ihm hierfür Prozesskostenhilfe gegen Ratenzahlung.
Am … August 2017 ließ der Kläger Klage erheben, mit der er beantragt, den Bescheid des Antragsgegners vom 10. Januar 2017 über die Entziehung der Fahrerlaubnis in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. März 2017 insoweit aufzuheben, als dem Antragsteller die Fahrerlaubnis der Gruppe 1 (A1, AM, B, BE und L) entzogen wird, sowie die Nr. 5 des Tenors des Bescheids vom 10. Januar 2017 und die Nr. 3 des Tenors des Widerspruchsbescheids aufzuheben. Darüber hinaus begehrt der Antragsteller die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes; im gegenständlichen Verfahren beantragt er,
1.die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 10. Januar 2017 insoweit wiederherzustellen, als sich die Verfügung auf die Fahrerlaubnis der Gruppe 1 (A1, AM, B, BE und L) bezieht (Nr. 1 und 4 des Bescheids),
2.die Aufhebung der Vollziehung insoweit anzuordnen.
Zur Begründung führt er aus, der Gutachtensanordnung vom 24. August 2016 sei nicht zu entnehmen, dass von ihm lediglich die Vorlage eines Gutachtens über Kompensationsmöglichkeiten hinsichtlich der festgestellten psychophysischen Leistungsbeeinträchtigungen verlangt werde. Aber nur hinsichtlich dieses Leistungsdefizits sei eine abschließende Klärung erforderlich gewesen. Somit fehle es an der Rechtmäßigkeit der Gutachtensanordnung vom 24. August 2016, weil die darin mitgeteilte Fragestellung teilweise den Gutachtenanlass verfehle bzw. über diesen hinausgehe und damit den diesbezüglich zu stellenden rechtlichen Anforderungen nicht gerecht werde (vgl. VGH Baden-Württemberg, B. v. 30.6.2011 -10 S 2785/10). Überdies sei das Gutachten vom … August 2016 nicht widerspruchsfrei und daher als Grundlage für einen Fahrerlaubnisentzug nicht geeignet.
Das Landratsamt beantragt unter Vorlage der Fahrerlaubnisakten, den Antrag abzulehnen.
Das Gutachten vom … August 2016 sei aufgrund der unzureichenden Testergebnisse bereits negativ gewesen, habe aber die Möglichkeit einer ggf. zusätzlichen Sachverhaltsaufklärung durch eine Fahrverhaltensprobe zugelassen. Diese sei am 24. August 2016 angeordnet worden und habe durchaus im Interesse des Antragstellers gelegen. Dass der Antragsteller das Gutachten nicht vorgelegt habe, bestätige das negative Ergebnis des Gutachtens vom … August 2016. Sowohl die Nichtvorlage als auch das damit endgültig negative Ergebnis des Vorgutachtens bestätigten seine fehlende Fahreignung.
Zudem sei eine Beschränkung einer medizinisch-psychologischen Untersuchung nach dem Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 19. November 2015 (Az.: M 6a S. 15.3321) nicht möglich. Für eine nur psychologische Fahreignungsbegutachtung sei der FeV keine Rechtsgrundlage zu entnehmen. Eine medizinisch-psychologische Untersuchung sei als Einheit anzusehen. Der medizinische und psychologische Teil müssten einer umfassenden Gesamtbewertung zugeführt werden, die schließlich im abschließenden Gutachten münde. Eine „doppelte“ medizinische Prüfung habe der Verordnungsgeber sogar hingenommen, da er nach dem Wortlaut des § 11 Abs. 3 Nr. 1 FeV nach einem Facharztgutachten nach § 11 Abs. 2 FeV noch die Möglichkeit der Anordnung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens zulasse. Aus der vorliegenden Gutachtensanordnung werde deutlich, dass die Kompensationsfähigkeit den Schwerpunkt der Prüfung bilde.
Mit Beschluss der Kammer vom 20. September 2017 wurde das Verfahren zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze samt Anlagen (auch im Verfahren M 26 K 17.1400) sowie die beigezogene Behördenakte des Landratsamts Bezug genommen.
II.
1. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig und begründet.
Nach sachgerechter Auslegung des gestellten Antrags beantragt der Antragsteller die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Nummern 1 und 2 des Bescheids vom 10. Januar 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. März 2017 (§ 122 Abs. 1, § 88 VwGO). Einem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die in Nummer 3 des angefochtenen Bescheids enthaltene Zwangsgeldandrohung würde entgegenstehen, dass der Führerschein bereits abgegeben wurde und für einen solchen Antrag daher das Rechtsschutzbedürfnis fehlt.
Gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung von Widerspruch oder Klage ganz oder teilweise wiederherstellen bzw. anordnen. Es trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung. Grundlage dieser Entscheidung ist eine Abwägung zwischen dem Aussetzungsinteresse des Antragstellers und dem Vollzugsinteresse des Antragsgegners, wobei insbesondere die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache zu berücksichtigen sind (vgl. Schmidt in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 80 Rn. 72 ff.).
Vorliegend überwiegt das Vollzugsinteresse des Antragsstellers, da seine Klage nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung auf der Grundlage der gegenwärtigen Sach- und Rechtslage voraussichtlich Erfolg haben wird. Die Klage ist zulässig, insbesondere aufgrund der antragsgemäß zu gewährenden Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht verfristet. Sie ist auch begründet, da sich der Bescheid vom 10. Januar 2017 als rechtswidrig erweist, soweit er die Fahrerlaubnisklassen der Gruppe 1 betrifft. Insoweit verletzt er daher den Antragsteller in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist insoweit der Zeitpunkt der Zustellung des Widerspruchsbescheids.
Die Anforderung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens nach § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FeV war mit der mitgeteilten Fragestellung nicht anlassbezogen und verhältnismäßig (a)). Die Nichteignung zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 steht auch nicht bereits aufgrund des ärztlichen Gutachtens vom … August 2016 gemäß § 11 Abs. 7 FeV fest (b)).
a) Das Landratsamt hat auf die Nichteignung des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen geschlossen, weil er das geforderte medizinisch-psychologische Gutachten nicht zum angeordneten Termin vorgelegt hat. Weigert sich der Betroffene, sich untersuchen zu lassen, oder bringt er der Fahrerlaubnisbehörde das von ihr geforderte Gutachten nicht fristgerecht bei, darf die Behörde bei ihrer Entscheidung auf die Nichteignung des Betroffenen schließen (§ 11 Abs. 8 FeV). Der Schluss auf die Nichteignung ist allerdings nur zulässig, wenn die Anordnung der ärztlichen bzw. medizinisch-psychologischen Untersuchung rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig ist (vgl. BVerwG vom 9.6.2005 NJW 2005, 3081 ff.). Diesen Anforderungen genügte die weitere Gutachtensaufforderung vom 24. August 2016 angesichts ihres umfassenden Gegenstands sowie der Fragestellung nicht.
Die medizinische Abklärung der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 wegen der Erkrankungen des Antragstellers war bereits Gegenstand des ärztlichen Gutachtens vom … August 2016. Das Landratsamt hat an der Nachvollziehbarkeit des diesbezüglichen Ergebnisses des ärztlichen Gutachtens in der zweiten Gutachtensanordnung keine Zweifel gehegt, und auch für das Gericht sind solche nicht ersichtlich. Über die medizinischen Abklärungen hinaus kam das Gutachten zu dem Ergebnis, dass beim Antragsteller psychophysische Leistungsbeeinträchtigungen vorlägen, die die Fahreignung ausschlössen, sofern sie nicht kompensiert werden könnten. Ob im vorliegenden Fall Anlass zur Abklärung der psychophysischen Leistungsfähigkeit bestand, braucht nicht weiter erörtert zu werden, da der Antragsteller das Gutachten vorgelegt hat und dessen Ergebnisse im sicherheitsrechtlichen Verfahren zur Entziehung der Fahrerlaubnis verwertet werden dürfen (st. Rspr. vgl. etwa BayVGH, B. v. 28.10.2013 – 11 CS 13.1746 – juris). Die Ergebnisse der Leistungsbeurteilung sind auch nachvollziehbar, da sie mit anerkannten Testverfahren, die ausweislich des Zusatzgutachtens überdies wiederholt durchgeführt wurden, gewonnen wurden. Dass bezüglich der psychophysischen Leistungsfähigkeit weitere Feststellungen erforderlich gewesen wären, hat auch das Landratsamt nicht dargelegt.
Da demnach sowohl die medizinischen Fragen als auch die psychophysische Leistungsfähigkeit durch das ärztliche Gutachten bereits hinreichend geklärt waren, blieb im Zeitpunkt der Anordnung des medizinisch-psychologischen Gutachtens vom 24. August 2016 nur noch die von der ärztlichen Gutachterin aufgeworfene Frage zu klären, ob der Antragsteller die festgestellten Leistungsmängel durch persönliche Dispositionen und praktische Erfahrung zu kompensieren vermag. Hierfür bietet sich als Mittel eine praktische Fahrverhaltensbeobachtung an. Praktische Fahrverhaltensbeobachtungen haben den Vorteil der augenscheinlichen Validität; sie beobachten das, worum es geht, nämlich das Führen eines Fahrzeugs im Straßenverkehr (vgl. Schubert/Schneider/Eisenmenger/Stephan, Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung, S.225). Sie dienen dazu, zu überprüfen, ob festgestellte Leistungsminderungen sich auf das gelernte Fahrverhalten tatsächlich entscheidend negativ auswirken. Eine solche Fahrverhaltensbeobachtung kann entweder durch einen amtlich anerkannten Sachverständigen oder Prüfer für den Kraftfahrzeugverkehr oder – was auch im vorliegenden Fall in Betracht kam – im Rahmen einer medizinisch-psychologischen Untersuchung abgenommen werden. Im Falle der zweiten Alternative wären vor dem Hintergrund des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit sowie dem Bestimmtheitsgrundsatz der Gegenstand und die Fragestellung der Begutachtung dann aber auf die Klärung der Frage der Kompensation der im Erstgutachten festgestellten Leistungsmängel zu beschränken gewesen (vgl. hierzu auch BayVGH, B.v. 3.4.2007 – 11 C 07.331 – juris). Die vom Landratsamt vorliegend gewählte Fragestellung ist vor diesem Hintergrund daher wohl zu umfassend, jedenfalls aber zu unbestimmt. Zwar benennt die Gutachtensanordnung als Zweck der Begutachtung durchaus die Klärung der Kompensationsfähigkeit der Leistungsmängel. Aus der für die Begutachtungsstelle maßgeblichen und verbindlichen Fragestellung (vgl. § 11 Abs. 6 Satz 1 FeV) wird eine Beschränkung hierauf jedoch nicht klar erkennbar; vielmehr ist die Fragestellung umfassend und bezieht sich ihrem Wortlaut nach erneut sowohl auf medizinische Feststellungen zu den aktenkundigen Erkrankungen (Diabetes mellitus, Polyneuropathie und Schwerhörigkeit) sowie auf die Feststellung der Leistungsfähigkeit, welche bereits Gegenstand des ärztlichen Gutachtens waren. Dass diesbezüglich erneute oder weitere Feststellungen im Zeitpunkt der Gutachtensanordnung erforderlich gewesen wären, wird aber nicht dargelegt und ist im Übrigen – wie bereits ausgeführt – auch nicht ersichtlich.
Hinsichtlich des Grades der Konkretisierung, den die von der Fahrerlaubnisbehörde festzulegende und mitzuteilende Fragestellung aufweisen muss, kommt es auf die besonderen Umstände jedes Einzelfalls an. Die Fahrerlaubnisbehörde hat die Festlegung der zu klärenden Fragen unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und der Besonderheiten des Einzelfalls vorzunehmen. Der Beibringungsanordnung muss sich – mit anderen Worten – zweifelsfrei entnehmen lassen, welche Problematik auf welche Weise geklärt werden soll (vgl. BVerwG, B.v. 5.2.2015 – 3 B 16/14 – juris). Da auch die Erhebung medizinischer Befunde nicht unerheblich in den Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Betroffenen eingreift und die Vorlage eines medizinisch-psychologischen Gutachtens vorliegend vom Gesetz nicht zwingend vorgesehen ist, sondern im Ermessen der Fahrerlaubnisbehörde steht (vgl. § 11 Abs. 3 Satz 1 FeV; wie oben ausgeführt kam grundsätzlich auch ein Gutachten eines amtlich anerkannten Sachverständigen oder Prüfers für den Kraftfahrzeugverkehr nach § 11 Abs. 4 FeV in Betracht), sind an den Umfang sowie die Bestimmtheit der Gutachtensanordnung vorliegend hohe Anforderungen zu stellen. Nicht zuletzt sind hierbei auch die kostenmäßigen Auswirkungen der Maßnahmen abzuwägen, wenn sich der Betroffene – wie hier – auf seine schwierigen finanziellen Verhältnisse beruft und diese auch belegt (BayVGH, B.v. 3.4.2007, a.a.O.).
Das Landratsamt konnte und durfte vorliegend auch nicht darauf vertrauen, der Antragsteller und/oder die von ihm zu wählende Begutachtungsstelle würden trotz der umfassend formulierten Fragestellung schon erkennen können, was noch klärungsbedürftig ist. Die scharfe Sanktion des § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV setzt grundsätzlich eine vollständig rechtmäßige Gutachtensanordnung voraus. Es kann dem Betroffenen im Falle einer Gutachtensanordnung mit mehreren Fragestellungen grundsätzlich nicht angesonnen werden, selbst entsprechende rechtliche Differenzierungen vorzunehmen und letztlich klüger und präziser sein zu müssen als die Fachbehörde. Ihm kann insbesondere auch nicht zugemutet werden, dem Gutachter etwa verständlich zu machen, dass entgegen dem behördlichen Gutachtensauftrag nur bestimmte Teile der Fragestellung zulässigerweise zum Gegenstand der Untersuchung gemacht werden dürften (VGH Baden-Württemberg, B.v. 30.6.2011 – 10 S 2785/10juris Rn. 12).
Der vom Landratsamt in der Antragserwiderung angeführte Umstand, dass der Verordnungsgeber „Teilgutachten“ im Rahmen des § 11 Abs. 3 Satz 1 FeV nicht vorgesehen habe, steht einer Beschränkung wegen der übergreifenden Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht entgegen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verbietet mit Blick auf die damit einhergehenden Eingriffe in die Rechte des Betroffenen überschießende, vom Untersuchungsanlass her gesehen nicht erforderliche Untersuchungsvorgaben bzw. -inhalte. Dies gilt namentlich (aber nicht nur) im Bereich von Befugnisnormen, die eine Gutachtensanordnung in das Ermessen der Fahrerlaubnisbehörde stellen (wie z.B. § 11 Abs. 3 Satz 1 FeV), und kann auch zur Folge haben, dass auch bei grundsätzlich gegebener Ermächtigung zur Anordnung einer medizinisch-psychologischen Untersuchung aus Gründen der Verhältnismäßigkeit die Beschränkung auf eine (medizinische oder psychologische) Teiluntersuchung geboten sein kann (vgl. dazu Geiger, Teilgutachten im Rahmen der Fahreignungsbegutachtung, DAR 2011, 244). Das Landratsamt führt diesbezüglich aus, dass für die Prüfung der Kompensationsfähigkeit der festgestellten psychophysischen Leistungsmängel vorliegend möglicherweise auch medizinischer Sachverstand über das Erstgutachten hinaus erforderlich sein könnte. Zwar ist dies für das Gericht nicht ersichtlich, da die Frage der grundsätzlichen Kompensationsfähigkeit der festgestellten Leistungsmängel aus medizinischer Sicht bereits beantwortet ist und daher nur noch die – aus psychologischer Sicht und unter Hinzuziehung eines Fahrlehrers oder Prüfers für den Kraftfahrzeugverkehr zu beantwortende – Frage zu klären war, ob der Antragsteller mit dem Führen von Kraftfahrzeugen hinreichend vertraut ist und über eine sicherheits- und verantwortungsbewusste Grundeinstellung verfügt, die erwarten lässt, dass die Unzulänglichkeiten der eigenen Leistungsausstattung selbstkritisch reflektiert wurden und diese beim Fahrverhalten berücksichtigt werden. Letztlich kann die Frage, ob vorliegend eine ausdrückliche Beschränkung auf eine psychologische Begutachtung im Wege der Fahrverhaltensbeobachtung geboten war, aber offen bleiben. Denn jedenfalls hätte die Fragestellung auf die Klärung der Kompensationsfähigkeit der festgestellten psychophysischen Leistungsmängel beschränkt werden müssen, weil die ersten beiden Fragen der Gutachtensanordnung bereits durch das Erstgutachten beantwortet und daher überschießend waren.
Eine Vergleichbarkeit des vorliegenden Falles mit der der vom Landratsamt angeführten Entscheidung (VG München vom 19.11.2015 – M 6a S. 15.3321) zugrundeliegenden Fallgestaltung besteht schließlich nicht. In dem letzterer Entscheidung zugrundeliegenden Fall gab es noch keine medizinischen Feststellungen, so dass eine erstmalige umfassende Begutachtung erforderlich und verhältnismäßig war.
b) Die Nichteignung des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 stand auch nicht bereits aufgrund des Gutachtens vom … August 2016 fest. Hiervon ist auch das Landratsamt zunächst nicht ausgegangen, sondern hielt ein weiteres Fahreignungsgutachten zur Klärung der Frage der Kompensation der zutage getretenen Leistungsmängel für erforderlich. Das ärztliche Gutachten vom … August 2016 geht in eindeutiger und nachvollziehbarer Weise davon aus, dass der Antragsteller den Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen trotz der festgestellten Leistungsmängel gerecht werden kann, wenn er diese zu kompensieren vermag. Hieraus folgt zugleich, dass die Nichteignung insoweit gerade nur unter der (negativen) Prämisse festgestellt wird, dass der Antragsteller die Leistungsdefizite nicht zu kompensieren vermag, d.h. die Gutachterin hielt eine diesbezügliche Abklärung für erforderlich. Dies ist auch nachvollziehbar, denn es ist anerkannt, dass eine praktische Fahrverhaltensbeobachtung ein geeignetes Mittel sein kann, um über einen wichtigen Teilbereich der Fahreignung, nämlich die praktischen Fahrfertigkeiten, Aufschluss zu geben. Eine derartige Maßnahme kann gerade bei Kraftfahrern, deren Eignung durch altersbedingte Entwicklungen zweifelhaft geworden ist und die mit der Bedienung von Computern nicht vertraut sind, zweckmäßig sein. Denn es ist allgemein anerkannt, dass ältere Fahrerlaubnisinhaber mit langer Fahrpraxis psychophysische Leistungsminderungen bis zu einem gewissen Grad durch Erfahrung und gewohnheitsmäßig geprägte Bedienungshandlungen ausgleichen können (vgl. BVerwG vom 17.9.1987 NJW 1988, 925/926; VGH Baden-Württemberg vom 27.7.1990 NJW 1991, 315/316; BayVGH vom 12.7.1982 BayVBl 1982, 694).
Schließlich kann auch allein aufgrund des Umstands, dass der Antragsteller offenbar eine Fahrverhaltensbeobachtung durchgeführt und diese nicht erfolgreich bestanden hat, nicht von seiner Fahrungeeignetheit ausgegangen werden. Denn da der Antragsteller das entsprechende Gutachten nicht vorgelegt hat, kann dessen Nachvollziehbarkeit nicht geprüft werden.
c) Auch wenn es hierauf für das Klageverfahren und das gegenständliche Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht ankommt, weist das Gericht bereits hier darauf hin, dass vom Antragsteller im Zeitpunkt der Gutachtensanordnung am 24. August 2016 eine auf die Klärung der Kompensationsfähigkeit der psychophysischen Leistungsmängel beschränkte Begutachtung gefordert werden durfte und musste, da die Feststellungen zu den psychophysischen Leistungsmängeln im ärztlichen Gutachten verwertbar und nachvollziehbar sind. Da zum jetzigen – für die vorliegende Entscheidung jedoch nicht maßgeblichen – Zeitpunkt seit der Erstellung des ärztlichen Gutachtens nunmehr bereits einige Zeit verstrichen ist, kommt im Wege der vom Landratsamt nach § 11 Abs. 3 Nr. 1 FeV zu treffenden Ermessensentscheidung nunmehr auch eine umfassendere Begutachtung in Betracht (vgl. auch die Feststellung im ärztlichen Gutachten, wonach eine Nachuntersuchung nach einem Jahr erforderlich ist).
2. Da die Entziehung der Fahrerlaubnis der summarischen gerichtlichen Überprüfung nicht standhält, kann es auch nicht beim Sofortvollzug der fristmäßig konkretisierten Verpflichtung, den Führerschein abzuliefern, verbleiben. Da die Klage allerdings auf die Entziehung der Fahrerlaubnis der Gruppe 1 beschränkt wurde und der Bescheid somit hinsichtlich der Entziehung der Fahrerlaubnis der übrigen Klassen bestandskräftig ist, ist dem Antragsteller ein neuer Führerschein auszustellen und auszuhändigen (§ 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz – GKG – i.V.m. Nr. 1.5, 46.2 und 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.


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