Medizinrecht

Formulierung der Fragestellungen für die Erstellung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens

Aktenzeichen  AN 10 S 20.01687

Datum:
15.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 41061
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FeV § 11 Abs. 8, § 13 S. 1 Nr. 2 lit. b, § 46 Abs. 1
StVG § 2 Abs. 8, § 3 Abs. 1 S. 1
FeV Anl. 4 Nr. 8.1

 

Leitsatz

§ 11 Abs. 6 Satz 1 FeV ist Ausfluss des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und verbietet es grundsätzlich, nicht anlassbezogene und somit zu weit gefasste Fragestellungen zum Gegenstand eines medizinisch-psychologischen Gutachtens zu machen. (Rn. 47) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Der Streitwert wird auf 6.250,00 € festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung seiner Fahrerlaubnis aller Klassen.
Am 26. Dezember 2017 führte der 28-jährige Antragsteller einen Lkw im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss. Die Blutalkoholkonzentration betrug 1,33 Promille. Die Tat wurde vom Amtsgericht … mit Strafbefehl vom 6. März 2018 (rechtskräftig seit 5.4.2018) als fahrlässige Trunkenheit im Verkehr mit einer Geldstrafe geahndet und die Fahrerlaubnis entzogen.
Die Neuerteilung der Fahrerlaubnis erfolgte am 6. August 2018.
Mit Bußgeldbescheid vom 10. Dezember 2019 (rechtskräftig seit 28.12.2019) wurde gegen den Antragsteller ein Bußgeld verhängt, weil er am 7. November 2019 ein Kraftfahrzeug mit einer Atemalkoholkonzentration von 0,34 mg/l geführt hatte. Unter Bezugnahme auf die vorgenannten Trunkenheitsfahrten forderte der Antragsgegner den Antragsteller mit Schreiben vom 21. Januar 2020 auf, bis 6. April 2020 ein medizinischpsychologisches Fahreignungsgutachten einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung beizubringen. Dabei seien folgende Fragen zu klären:
„Liegen körperliche und/oder geistige Beeinträchtigungen vor, die mit einem missbräuchlichen Konsum von Alkohol in Zusammenhang gebracht werden können? Ist insbesondere zu erwarten, dass das Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 und 2 und ein die Fahrsicherheit beeinträchtigender Alkoholkonsum nicht hinreichend sicher getrennt werden kann?“
Mit Schreiben vom 30. Januar 2020 beantragte der Bevollmächtigte des Antragstellers eine Fristverlängerung zur Vorlage des Gutachtens bis 1. September 2020, da sich der Antragsteller vertieft auf die Begutachtung vorbereiten wolle und die Beibringung von Abstinenznachweisen erforderlich sei, sodass alleine deshalb der Zeitraum von einem halben Jahr relevant sei. Der Antragsgegner erwiderte hierauf mit Schreiben vom 4. Februar 2020, dass eine Fristverlängerung aus den vorgetragenen Gründen nicht gewährt werden könne.
Mit Schreiben vom 11. Februar 2020 informierte der Antragsgegner den Antragsteller über die Einleitung des Verfahrens zur Entziehung der Fahrerlaubnis. Hierauf ließ der Antragsteller mit Telefax vom 20. Februar 2020 die Einverständniserklärung bezüglich der medizinischpsychologischen Untersuchung bei der … vom … 2020 vorlegen. Zum Zweck der Begutachtung wurde der erforderliche Führerscheinakt samt Untersuchungsauftrag mit Schreiben vom 21. Februar 2020 an die Begutachtungsstelle übermittelt. Die zur Verfügung gestellten Unterlagen wurden von der Begutachtungsstelle mit Schreiben vom 1. April 2020 zurückgesandt. Laut Telefonnotiz vom 6. April 2020 habe der Antragsteller mitgeteilt, dass er der Begutachtungsstelle auf Anraten seines Bevollmächtigten mitgeteilt habe, dass diese die Akte zurückschicken solle, da er aufgrund von Corona keinen Termin bekommen habe. Er habe einen Abstinenznachweis. Seitens des Antragsgegners wurde eine Bestätigung der Begutachtungsstelle erbeten, dass diese ihn noch nicht begutachtet habe. Anschließend könne gegebenenfalls über eine Fristverlängerung entschieden werden.
Da das angeforderte Gutachten nicht fristgerecht vorgelegt wurde, setzte der Antragsgegner den Antragsteller mit Schreiben vom 8. April 2020 über den beabsichtigten Entzug der Fahrerlaubnis in Kenntnis mit der Gelegenheit zur Äußerung bis 22. April 2020.
Mit Telefax vom 8. April 2020 ging beim Antragsgegner eine Bestätigung der Begutachtungsstelle ein, dass der Antragsteller dort noch keine medizinischpsychologische Untersuchung durchgeführt habe.
Der Antragsgegner teilte dem Bevollmächtigten mit Schreiben vom 27. April 2020 mit, dass auf das Schreiben vom 8. April 2020 bisher keine Reaktion erfolgt sei. Insbesondere sei weder mitgeteilt worden, bei welcher Begutachtungsstelle sich der Antragsteller nun untersuchen lassen wolle, noch sei um eine erneute Übersendung der Akten an die ausgewählte Begutachtungsstelle gebeten worden. Aufgrund der Ausnahmesituation könne dem Antragsteller eine Fristverlängerung in Aussicht gestellt werden. Voraussetzung sei allerdings, dass er umgehend mitteile, bei welcher Begutachtungsstelle er sich untersuchen lassen wolle. Als Frist zur Vorlage der Einverständniserklärung wurde der 7. Mai 2020 festgelegt und darauf hingewiesen, dass bei nicht fristgerechter Vorlage die Fahrerlaubnis entzogen werde. Der Bevollmächtigte erwiderte mit Schreiben vom 7. Mai 2020 und bezog sich im Wesentlichen auf die mit Telefax vom 20. Februar 2020 vorgelegte Einverständniserklärung.
Mit Schreiben vom 12. Mai 2020 informierte der Antragsgegner den Bevollmächtigten über die Verlängerung der Frist für die Beibringung des Gutachtens auf den 8. Juli 2020 und übersandte erneut die Fahrerlaubnisunterlagen an die Begutachtungsstelle. Die zur Verfügung gestellten Unterlagen wurden von der Begutachtungsstelle mit Schreiben vom 30. Juni 2020 zurückgesandt.
Der Bevollmächtigte teilte mit Schreiben vom 8. Juli 2020 mit, dass eine Begutachtung und eine diesbezügliche Terminierung aufgrund der Corona-Pandemie nicht möglich gewesen seien. Es werde nochmals um Fristverlängerung bis 1. September 2020 gebeten. Es würde gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens verstoßen, wenn die Verwaltung Probanden, die eine medizinischpsychologische Untersuchung ableisten wollen würden, dies wegen der Corona-Pandemie jedoch nicht könnten, keine ausreichende Frist einräume. Ansonsten werde um Übersendung eines rechtsmittelfähigen Bescheids gebeten, wobei dem Umstand Rechnung getragen werden solle, dass der Antragsteller auf den Traktorführerschein angewiesen sei und dieser eventuell von der Fahrerlaubnisentziehung ausgenommen werden müsse.
Der Antragsgegner räumte dem Antragsteller mit Schreiben vom 9. Juli 2020 nochmals die Gelegenheit zur Äußerung bis 23. Juli 2020 ein und wies u.a. darauf hin, dass im Falle der Entziehung der Fahrerlaubnis bzw. im Falle eines Verzichts eine Ausnahme für die Klassen L und T nicht in Betracht komme.
Mit Bescheid vom 24. Juli 2020 entzog der Antragsgegner dem Antragsteller die Fahrerlaubnis für Kraftfahrzeuge aller Klassen (Ziffer 1) und verpflichtete ihn, unter Androhung von Zwangsgeld (Ziffer 4), den Führerschein innerhalb von einer Woche nach Zustellung des Bescheids abzuliefern (Ziffer 2). Der Sofortvollzug der Ziffern 1 und 2 des Bescheids wurde angeordnet (Ziffer 3). Im Wesentlichen wurde der Bescheid damit begründet, dass der Antragsteller das zu Recht geforderte Gutachten nicht vorgelegt habe und deshalb auf die Nichteignung des Antragstellers gemäß § 46 Abs. 3 FeV i.V.m. § 11 Abs. 8 FeV geschlossen werden musste. Aufgrund der beiden Trunkenheitsfahrten sei zur Vorbereitung einer Entscheidung über die Entziehung der Fahrerlaubnis die Beibringung eines medizinischpsychologischen Gutachtens nach § 13 Nr. 2 Buchst. b FeV anzuordnen gewesen. Zur Begründung des Sofortvollzugs wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der dargelegte Sachverhalt den dringenden Verdacht begründe, dass der Antragsteller zumindest in der Vergangenheit Alkoholmissbrauch betrieben habe und deshalb nicht mehr den Anforderungen entspreche, die an die Eignung eines Kraftfahrzeugführers gestellt werden müssten. Dies mache es erforderlich, dass mit sofort wirksamen Maßnahmen vorgegangen werde, um die Allgemeinheit vor der drohenden und anderweitig nicht abwendbaren Gefahr zu schützen. Das öffentliche Interesse an der Sicherheit des Straßenverkehrs überwiege die Interessen des Antragstellers.
Der Antragsteller gab seinen Führerschein am 30. Juli 2020 beim Antragsgegner ab.
Mit Schriftsatz vom 27. August 2020 ließ der Antragsteller Klage erheben.
Zugleich ließ er beantragen,
Die aufschiebende Wirkung der gleichzeitig erhobenen Klage gegen den Entziehungsbescheid vom 24. Juli 2020 wird angeordnet.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass aufgrund der einmaligen, durch die Pandemie hervorgerufene Situation, der Antragsteller keinerlei Möglichkeit gehabt habe, innerhalb der gesetzten Frist ein medizinischpsychologisches Gutachten von einer anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung beizubringen. Der Antragsgegner habe dem Antragsteller mit Schreiben vom 21. Januar 2020 eine Frist bis 6. April 2020 zur Vorlage des Gutachtens gesetzt. Bekanntermaßen sei dieser Zeitraum in die Ausrufung des Katastrophenfalls wegen der Corona-Pandemie gefallen, sodass die Begutachtungsstellen für Fahreignung keinerlei Tätigkeit hätten entfalten können. Hinzu komme, dass der Antragsteller Abstinenznachweise erbringen müsse, die mindestens über ein halbes Jahr vorzulegen seien, sodass die Frist auch aus diesem Grunde nicht einzuhalten gewesen sei. Mit Schreiben vom 7. Mai 2020 sei der Antragsgegner durch den Bevollmächtigten darüber in Kenntnis gesetzt worden, dass aufgrund der Pandemiesituation eine Fristverlängerung bis mindestens 1. September 2020 zur Vorlage des Gutachtens erforderlich sei. Trotz dessen und trotz des Umstands, dass der Antragsgegner als Reaktion auf dieses Schreiben mit Schreiben vom 12. Mai 2020 bestätigt habe, dass die Begutachtungsstellen aufgrund der Corona-Krise bislang keine medizinischpsychologische Untersuchung durchgeführt hätten, habe er die Frist zur Vorlage lediglich bis 8. Juli 2020 verlängert.
Das Vorgehen des Antragsgegners verletze den Grundsatz des fairen Verfahrens, der auch im Verwaltungsverfahrensrecht gelte. Der Antragsgegner habe gegen § 24 Abs. 2 VwVfG verstoßen, wonach die Behörde alle für den Einzelfall bedeutsamen, auch für den Beteiligten günstigen Umstände zu berücksichtigen habe, wobei in diesem Zusammenhang der Untersuchungsgrundsatz gelte. Der angefochtene Bescheid sei bereits aus diesem Grund aufzuheben.
Der Antragsgegner beantragte mit Schriftsatz vom 8. September 2020
Antragsablehnung.
Zur Begründung bezog er sich auf den angefochtenen Bescheid und führte ergänzend aus, dass die Fristsetzung zur Beibringung des medizinischpsychologischen Gutachtens angemessen gewesen sei. Eine weitere Fristverlängerung sei nicht veranlasst gewesen. Die Begutachtungsstellen hätten nach Aussetzung der Begutachtungen aufgrund der Corona-Pandemie bereits zum 20. April 2020 ihre Tätigkeit wieder aufgenommen. Mit der Fristverlängerung im Schreiben vom 12. Mai 2020 bis zum 8. Juli 2020 sei der einmaligen Situation infolge der Corona-Pandemie Rechnung getragen und eine weitere ausreichende Frist von zwei Monaten zur Vorlage des Gutachtens gesetzt worden. Nach Nr. II 5.2 der Richtlinie über die Anforderungen an Träger von Begutachtungsstellen für Fahreignung (§ 66 FeV) und deren Begutachtung durch die Bundesanstalt für Straßenwesen dürften Begutachtungsaufträge von einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle nur angenommen werden, wenn die Auftragsbearbeitung innerhalb der behördlich gesetzten Frist erfolgen könne. Da keine sofortige Rücksendung der Unterlagen nach Eingang erfolgt sei, sei davon auszugehen, dass eine fristgerechte Begutachtung möglich gewesen sei. Weshalb diese beim Antragsteller nicht erfolgt sei, könne nicht nachvollzogen werden. In gleich gelagerten Fällen seien keine Probleme mit der Beibringung des Gutachtens innerhalb der gesetzten Frist aufgetreten. Eine schriftliche Stellungnahme der Begutachtungsstelle, dass bzw. weshalb bislang keine Begutachtung erfolgt sei, sei vom Antragsteller nicht vorgelegt worden. Hinsichtlich des Abstinenznachweises sei die Frist ebenfalls angemessen gewesen. Bei deren Festlegung sei ausschließlich auf den Zeitrahmen abzustellen, den eine Begutachtungsstelle zur Erstellung des medizinischpsychologischen Gutachtens benötige, da die bestehenden Eignungszweifel im Hinblick auf die Gefahren für den Straßenverkehr möglichst zeitnah aufzuklären seien. Bei der Fristsetzung sei nicht zu berücksichtigen, ob der Betroffene einen etwaig notwendigen Abstinenznachweis erbringen könne.
Mit Schriftsatz vom 22. September 2020 führte der Bevollmächtigte aus, dass bestritten werde, dass die amtlich anerkannten Begutachtungsstellen bereits am 20. April 2020 ihre Tätigkeit nach der Corona-Pandemie wieder aufgenommen hätten. Dies belege das Schreiben der Begutachtungsstelle vom 6. April 2020, in dem bestätigt worden sei, dass keine medizinischpsychologische Untersuchung durchgeführt worden sei. Auch der Hinweis des Antragsgegners sei aufschlussreich, wonach Begutachtungsaufträge von einer Begutachtungsstelle nur angenommen würden, wenn die Auftragsbearbeitung innerhalb der behördlich gesetzten Frist erfolgen könne und seitens der benannten Begutachtungsstelle eine Rücksendung der Unterlagen nicht erfolgt sei. Hieraus könne geschlossen werden, dass keine fristgerechte Begutachtung möglich gewesen sei, da zum fraglichen Zeitpunkt überhaupt keine Rücksendung möglich gewesen sei, da infolge der Corona-Pandemie das Büro der Begutachtungsstelle nicht besetzt gewesen sei.
Der Antragsgegner erwiderte hierauf mit Schriftsatz vom 25. September 2020 und legte eine E-Mail der benannten Begutachtungsstelle vom 20. März 2020 vor, wonach die Begutachtung pandemiebedingt ab dem 23. März 2020 ausgesetzt sowie ein Schreiben vom 20. April 2020, wonach der Untersuchungsbetrieb zum 20. April 2020 wieder aufgenommen worden sei. Das Büro der benannten Begutachtungsstelle sei seinerzeit durchgehend besetzt gewesen, wie sich bereits aus dem Schreiben vom 6. April 2020 an den Antragsteller ergebe. Mit diesem Schreiben werde ausschließlich bestätigt, dass bislang keine Begutachtung beim Antragsteller bis zum angegebenen Datum durchgeführt worden sei. Es werde keine Aussage bezüglich der allgemeinen Tätigkeit der Begutachtungsstelle getroffen und erst recht keine bezüglich einer zukünftigen Tätigkeit ab dem 20. April 2020.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- und Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der Eilantrag bleibt in der Sache ohne Erfolg.
1. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig.
Der nach sachgerechter Auslegung (§§ 122 Abs. 1, 88 VwGO) als Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis und die Ablieferungspflicht des Führerscheins verstandene Antrag gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 2 VwGO verbunden mit der Anordnung der Aufhebung der bereits erfolgten Vollziehung der Ablieferungspflicht gemäß § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO ist aufgrund des angeordneten Sofortvollzugs (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO) statthaft.
Der Antrag wird weiter dahingehend ausgelegt, dass er sich nicht auf die Zwangsmittelandrohung in Ziffer 4 des angefochtenen Bescheids bezieht. Der Antragsteller hat den Führerschein bei der Behörde bereits abgegeben. Die Verpflichtung aus Ziffer 2 hat sich damit erledigt, so dass insoweit auch das Rechtsschutzbedürfnis fehlt.
2. Der zulässige Antrag ist jedoch unbegründet.
Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage im Falle der Anordnung des Sofortvollzugs durch die Behörde (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO) ganz oder teilweise wiederherstellen.
Das Gericht überprüft dabei, ob die Anordnung des Sofortvollzugs durch die Behörde den formellen Anforderungen des § 80 Abs. 3 VwGO genügt und nimmt sodann eine Interessenabwägung zwischen dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs und dem öffentlichen Interesse am Sofortvollzug des Bescheids vor. Dabei sind die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache maßgeblich. Ergibt die summarische Prüfung, dass der zugrunde liegende Bescheid offensichtlich rechtmäßig ist, ein Hauptsacherechtsbehelf also voraussichtlich erfolglos wäre, so überwiegt das öffentliche Interesse am Sofortvollzug. Ergibt die Prüfung umgekehrt, dass der angefochtene Bescheid offensichtliche Rechtsmängel aufweist und der Hauptsacherechtsbehelf damit voraussichtlich Erfolgsaussichten hätte, so überwiegt regelmäßig das private Interesse des Betroffenen, von der sofortigen Vollstreckung bis zur Entscheidung in der Hauptsache verschont zu bleiben.
a) Die Begründung des Sofortvollzugs im streitgegenständlichen Bescheid vom 24. Juli 2020 gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO entspricht den formalen Erfordernissen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO, da das besondere öffentliche Interesse am Sofortvollzug ausreichend begründet wurde.
An den Inhalt der schriftlichen Begründung gemäß § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO sind keine zu hohen Anforderungen zu stellen (vgl. BayVGH, B.v. 7.9.2020 – 11 CS 20.1436 – juris Rn. 20). Nach ständiger obergerichtlicher Rechtsprechung ist bei Kraftfahrern, denen die erforderliche Eignung zum Führen eines Kraftfahrzeugs fehlt, das Erlassinteresse regelmäßig mit dem Vollzugsinteresse identisch ist (vgl. BayVGH, B.v. 4.7.2019 – 11 CS 19.1041 – juris Rn. 16; B.v. 14.9.2016 – 11 CS 16.1467 – juris Rn. 13). Bei dieser häufig wiederkehrenden Sachverhaltsgestaltung, der eine typische Interessenlage zugrunde liegt, reicht es aus, diese Interessenlage aufzuzeigen und deutlich zu machen, dass sie nach Auffassung der Fahrerlaubnisbehörde auch im konkreten Fall vorliegt (stRspr, vgl. BayVGH, B.v. 23.5.2013 – 11 CS 13.785 – juris Rn. 7; B.v. 5.9.2008 – 11 CS 08.1890 – juris Rn. 18). Dem hat der Antragsgegner genügt, indem er – ausgehend von einer nach § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV anzunehmenden fehlenden Fahreignung – den sofortigen Ausschluss des Antragstellers vom Straßenverkehr im Interesse der Verkehrssicherheit und des Schutzes anderer Verkehrsteilnehmer für erforderlich erklärt hat. Die behördliche Annahme, dass einem nicht fahrgeeigneten Kraftfahrer im Hinblick auf die damit für die Allgemeinheit verbundenen erheblichen Gefahren die Fahrerlaubnis ungeachtet des Gewichts seines persönlichen Interesses an der Teilnahme am individuellen Straßenverkehr (vgl. OVG NW, B.v. 22.1.2001 – 19 B 1757/00 u.a. – juris Rn. 17) nicht bis zum Eintritt der Bestandskraft des Entziehungsbescheids belassen werden kann, begegnet keinen Bedenken (vgl. BayVGH, B.v. 4.7.2019 a.a.O. m.w.N.). Auch bezüglich der Abgabe des Führerscheins wurde der Sofortvollzug ausreichend im Sinne des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO begründet, indem ausgeführt wird, dass bei Nichtabgabe des Führerscheins die nicht auszuschließende Gefahr des Missbrauchs durch das Vorzeigen bei möglichen Verkehrskontrollen bestehe.
b) Der angegriffene Bescheid vom 24. Juli 2020 ist nach summarischer Prüfung rechtmäßig und verletzt den Antragsteller nicht in seinen Rechten, sodass die erhobene Anfechtungsklage voraussichtlich erfolglos sein wird (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
aa) Die im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotene, aber auch ausreichende summarische Überprüfung ergibt, dass dem Antragsteller die Fahrerlaubnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Recht entzogen worden ist. Der Antragsgegner hat zu Recht ein medizinischpsychologisches Gutachten in dem vorgeschriebenen Umfang gefordert. Nachdem der Antragsteller das angeforderte Gutachten innerhalb der gesetzten Frist nicht vorgelegt hat, durfte der Antragsgegner gemäß § 46 Abs. 1 und 3 i.V.m. § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV auf die Nichteignung des Antragstellers schließen.
Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG, § 46 Abs. 1 FeV hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich deren Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Dies gilt insbesondere, wenn Erkrankungen oder Mängel nach der Anlage 4 zur FeV vorliegen (§ 46 Abs. 1 Satz 2 FeV). Nach Nr. 8.1 der Anlage 4 zur FeV ist ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, wer das Führen von Fahrzeugen und einen die Fahrsicherheit beeinträchtigenden Alkoholkonsum nicht hinreichend sicher trennen kann (Alkoholmissbrauch).
Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder nur bedingt geeignet ist, finden gemäß § 2 Abs. 8 StVG i.V.m. § 46 Abs. 3 FeV die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung. Nach § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b FeV ordnet die Fahrerlaubnisbehörde die Beibringung eines medizinischpsychologischen Gutachtens an, wenn der Betroffene wiederholt Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss begangen hat.
Weigert sich der Betroffene, sich untersuchen zu lassen, oder bringt er der Fahrerlaubnisbehörde das von ihr geforderte Gutachten nicht fristgerecht bei, darf sie bei ihrer Entscheidung gemäß § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV auf die Nichteignung des Betroffenen schließen. Der Schluss auf die Nichteignung des Betroffenen im Fall der Nichtbeibringung des Gutachtens ist nur zulässig, wenn die Anordnung zur Gutachtensbeibringung formell und materiell rechtmäßig erfolgte. Voraussetzung ist insbesondere, dass die Anordnung des Gutachtens anlassbezogen und verhältnismäßig war (vgl. BayVGH, B.v. 16.9.2020 – 11 CS 20.1061 – juris Rn. 16). Bei feststehender Ungeeignetheit ist die Entziehung der Fahrerlaubnis zwingend, ohne dass der Fahrerlaubnisbehörde ein Ermessensspielraum zukäme. Dies gilt auch bei der Nichtvorlage eines zu Recht geforderten Fahreignungsgutachtens (vgl. BayVGH, B.v. 16.9.2020 – 11 CS 20.1061 – juris Rn. 16). Billigkeitserwägungen wie das Angewiesensein auf den Führerschein – auch zur Berufsausübung – können nicht entgegen gebracht werden.
bb) Die Entziehung der Fahrerlaubnis begegnet unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe keinen rechtlichen Bedenken.
(1) Der Antragsgegner hat vorliegend zu Recht die Beibringung eines medizinischpsychologischen Gutachtens gemäß § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b FeV aufgrund der beiden Trunkenheitsfahrten des Antragstellers am 26. Dezember 2017 und am 7. November 2019 angeordnet. Die Anwendbarkeit von § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b FeV setzt – wie es vorliegend der Fall ist – mindestens zwei verwertbare Zuwiderhandlungen voraus (vgl. Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 44. Aufl. 2017, § 13 FeV Rn. 22). Ein Ermessensspielraum steht der Fahrerlaubnisbehörde dabei nicht zu.
(2) Die Gutachtensanforderung entspricht den formellen Anforderungen gemäß § 11 Abs. 6 FeV, insbesondere war die Frist zur Beibringung des Gutachtens – entgegen den Einwänden des Bevollmächtigten – ausreichend bemessen.
Eine feste Frist für die Gutachtensbeibringung gibt es nicht. Die Frist muss angemessen sein, d.h. sie muss so bemessen sein, dass dem Betroffenen unter Berücksichtigung der konkreten Umstände eine fristgerechte Vorlage des geforderten Gutachtens möglich und zumutbar ist. Die Frist muss lediglich so bemessen sein, dass eine Begutachtungsstelle zur Erstellung des Gutachtens über die aktuelle Fahreignung tatsächlich in der Lage ist. Sie ist nicht daran auszurichten, welche Zeit der Betroffene noch zur Wiederherstellung seiner Kraftfahreignung benötigt.
Die Frist muss daher nicht ermöglichen, zunächst noch erforderliche Abstinenznachweise zu erbringen (vgl. Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 44. Aufl. 2017, § 11 FeV Rn. 45).
Im vorliegenden Fall wurde die Frist zur Gutachtensvorlage mit Schreiben vom 21. Januar 2020, zugestellt am 22. Januar 2020, auf den 6. April 2020 festgelegt. Laut Mitteilungen der benannten Begutachtungsstelle vom 20. März 2020 und 20. April 2020 wurde der Untersuchungsbetrieb vom 23. März 2020 bis 20. April 2020 pandemiebedingt ausgesetzt. Dass der Unterbrechungszeitraum früher begonnen hatte bzw. länger andauerte, wurde vom Antragsteller nicht substantiiert dargelegt. Demzufolge hatte der Antragsteller vor der pandemiebedingten Unterbrechung gut acht Wochen Zeit, um die Begutachtung durchführen zu lassen. Von Antragstellerseite wurden keine Gründe dargelegt, weshalb in diesem Zeitraum eine Begutachtung nicht möglich gewesen sein soll bzw. dass ein Begutachtungstermin vereinbart worden sei, der etwa pandemiebedingt nicht habe durchgeführt werden können. Gleichwohl hat der Antragsgegner dem Antragsteller aufgrund der pandemiebedingten Ausnahmesituation mit Schreiben vom 12. Mai 2020 eine Fristverlängerung um weitere acht Wochen bis 8. Juli 2020 gewährt. Auch für diesen Zeitraum wurden von Seiten des Antragstellers keine stichhaltigen Gründe dargelegt, die einer fristgerechten Begutachtung entgegenstanden. Nach Auffassung der Kammer wäre es dem Antragsteller innerhalb der insgesamt gewährten Frist ohne Weiteres möglich und zumutbar gewesen, das angeforderte Gutachten vorzulegen.
Entgegen den Ausführungen des Bevollmächtigten ist die Frist zudem nicht danach zu bemessen, welche Zeit der Betroffene zur Wiederherstellung seiner Fahreignung, etwa durch Vorlage von Abstinenznachweisen, benötigt. Denn der Sinn der Gutachtensanordnung besteht in der Klärung, ob der Betroffene gegenwärtig geeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen ist (vgl. Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 44. Aufl. 2017, § 11 FeV Rn. 45).
Die weiteren formellen Anforderungen an die Gutachtensanordnung nach § 11 Abs. 6 FeV wurden eingehalten. Anderes wurde weder vorgetragen noch ist dies ersichtlich. Der Antragsteller wurde insbesondere auch über die Folgen der Nichtbeibringung des Gutachtens informiert (§ 11 Abs. 8 Satz 2 FeV).
(3) Die Gutachtensanforderung ist auch materiell rechtmäßig, insbesondere ist die Fragestellung anlassbezogen und verhältnismäßig.
Nach § 11 Abs. 6 Satz 1 FeV legt die Fahrerlaubnisbehörde unter Beachtung der Besonderheiten des Einzelfalls und unter Beachtung der Anlagen 4 und 5 zur FeV in der Anordnung zur Beibringung des Gutachtens fest, welche Fragen im Hinblick auf die Eignung des Betroffenen zum Führen von Kraftfahrzeugen zu klären sind. Diese gesetzliche Forderung ist Ausfluss des in Art. 20 Abs. 3 GG festgelegten Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und verbietet es grundsätzlich, nicht anlassbezogene und somit zu weit gefasste Fragestellungen zum Gegenstand der Untersuchung zu machen. Vorliegend wurde bei der Formulierung der Gutachtensfragestellung nicht gegen diesen Grundsatz verstoßen.
In der Gutachtensanordnung wird im ersten Teil der Fragestellung nach körperlichen und/oder geistigen Beeinträchtigungen des Antragstellers gefragt, die mit einem missbräuchlichen Konsum von Alkohol in zusammengebracht werden können. Diese Fragestellung ist dahingehend zu verstehen, dass sie nur der Abklärung des nach Anlage 4 Nrn. 8.1 und 8.2 zur FeV erforderlichen Vermögens des Antragstellers dient, das Führen von Fahrzeugen und einen die Fahrsicherheit beeinträchtigenden Alkoholkonsum sicher zu trennen. Für das Trennungsvermögen sind auch Befunde des medizinischen Teils der Untersuchung relevant und daher anlassbezogen zu erheben. So können beispielsweise erhöhte Leberlaborwerte oder sonstige alkoholbedingte Körperschäden für einen Alkoholmissbrauch über einen längeren Zeitraum sprechen. Die so zu verstehende Fragestellung ist daher im Rahmen der Abklärung des Trennungsvermögens ohnehin aufgeworfen und damit zwar möglicherweise verzichtbar, aber zur Klarstellung für den Antragsteller und den zu beauftragenden Gutachter hilfreich und damit unschädlich (vgl. BayVGH, B.v. 28.10.2014 – 11 CS 14.1713 – juris Rn. 12).
Auch der zweite Teil der Fragestellung ist nicht zu beanstanden, da er unmittelbar auf die Abklärung des Trennungsvermögens im Sinne des Nr. 8.1 der Anlage 4 zur FeV abzielt.
cc) Aufgrund der demnach mit dem streitgegenständlichen Bescheid rechtmäßig angeordneten Entziehung der Fahrerlaubnis ist auch die unter Ziffer 2 des Bescheids verfügte Abgabeverpflichtung bezüglich des Führerscheins gemäß § 3 Abs. 2 Satz 3 StVG i.V.m. § 47 Abs. 1 Satz 1 FeV rechtmäßig.
Da der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf demnach voraussichtlich keinen Erfolg haben wird, überwiegt bei der vorzunehmenden Interessenabwägung das öffentliche Interesse am Sofortvollzug das Aufschubinteresse des Antragstellers. Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage war daher abzulehnen.
3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG i.V.m. Ziffer 1.5, 46.1, 46.3 und 46.9 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.


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