Medizinrecht

Gehörsverletzung durch Verhandlung und Entscheidung über eine Klage in Abwesenheit des erkrankten Prozessbevollmächtigten

Aktenzeichen  11 ZB 19.32471

Datum:
5.7.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 15183
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
GG Art. 103 Abs. 1
AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 3, Abs. 4 S. 4
VwGO § 138 Nr. 3, § 173
ZPO § 227 Abs. 1, Abs. 2

 

Leitsatz

1. Das Fehlen einer ordnungsgemäßen Vertretung eines Beteiligten in der mündlichen Verhandlung infolge einer kurzfristigen, überraschenden Erkrankung eines als Einzelanwalt tätigen Prozessbevollmächtigten mit daraus folgender Unzumutbarkeit des Erscheinens oder des Verhandelns ist in der Regel ein erheblicher Grund für eine Terminsänderung. Liegt ein solcher Grund vor, verdichtet sich angesichts des hohen Ranges des Anspruchs auf rechtliches Gehör das durch § 173 VwGO iVm § 227 Abs. 1 S. 1 ZPO eingeräumte Ermessen des Gerichts regelmäßig zu einer entsprechenden Verpflichtung (Anschluss an BVerwG BeckRS 2010, 45899 Rn. 3 mwN). (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

B 9 K 17.32494 2019-04-18 Urt VGBAYREUTH VG Bayreuth

Tenor

I. Die Berufung wird zugelassen.
II. Die Entscheidung über die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens bleibt der Entscheidung im Berufungsverfahren vorbehalten.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat Erfolg.
Die Berufung ist zuzulassen, weil die Verhandlung und Entscheidung über die Klage in Abwesenheit der durch eine Erkrankung verhinderten Prozessbevollmächtigten den Anspruch der Kläger auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt hat (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO).
Die Kläger tragen vor, ihre Prozessbevollmächtigte habe sich am Vortag der mündlichen Verhandlung den linken Fuß verletzt. Im Laufe des Tages hätten sich sehr starke Schmerzen eingestellt, so dass sie sich am Abend in eine Notfallambulanz begeben habe. Trotz ärztlicher Behandlung habe sie nicht auftreten können. Auf ihre Frage nach Krücken sei ihr erklärt worden, diese würden bei ihrer Diagnose nicht zur Verfügung gestellt. Ein Freund habe sie zuhause die Treppe hinaufgetragen. Auch am nächsten Tag sei keine Besserung eingetreten. Die Prozessbevollmächtigte habe ihre Wohnung nicht verlassen können und deshalb beim Verwaltungsgericht einen Verlegungsantrag gestellt. Dabei habe sie auch telefonisch erklärt, dass sie in ihrem aktuellen Zustand die Wohnung nicht verlassen könne bzw. die Stufen der Treppe sitzend herunterrutschen müsste. Trotz bestehender Arbeitsunfähigkeit und des zur Glaubhaftmachung vorgelegten Behandlungsbericht sei die mündliche Verhandlung nicht verlegt worden. Der Behandlungsbericht vom 17. April 2019 enthält die Diagnose „Distorsion des oberen Sprunggelenks S 93.40 links“ und den körperlichen Befund „Pat. links hinkendes Gangbild, Fußabrollen und Belastung schmerzbedingt eingeschränkt. Schwellung über dem Außenknöchel, keine Rötung, Hämatomverfärbung, keine offene Wunde erkennbar, druckempfindlich. Supination und Pronation schmerzhaft, geringer DS über der Syndesmose anterior. Kein DS über Mittelfuß oder prox. US. Keine Talusschublade erkennbar. Distale pDMS intakt.“ In dem am 17. April 2019 bei Gericht gestellten Terminverlegungsantrag gab die Prozessbevollmächtigte an, dass sie immer noch nicht auf ihrem linken Fuß auftreten könne und starke Schmerzen habe.
Nach § 173 VwGO i.V.m. § 227 Abs. 1 Satz 1 ZPO kann ein Termin aus erheblichen Gründen aufgehoben oder verlegt werden. Bei der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der „erheblichen Gründe“ ist einerseits dem im Verwaltungsprozess geltenden Gebot der Beschleunigung des Verfahrens und der Intention des Gesetzes, die gerichtliche Entscheidung möglichst aufgrund einer einzigen mündlichen Verhandlung herbeizuführen, andererseits dem verfassungsrechtlichen Erfordernis des rechtlichen Gehörs Rechnung zu tragen (BVerwG, B.v. 25.9.2013 – 1 B 8.13 – juris Rn. 13; B.v. 28.4.2008 – 4 B 47.07 – juris Rn. 22 jeweils m.w.N.). Der Anspruch auf rechtliches Gehör schließt das Recht eines Beteiligten ein, sich durch einen rechtskundigen Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung vertreten zu lassen (BVerwG, B.v. 21.12.2009 – 6 B 32.09 – juris Rn. 3; Jaspersen in BeckOK ZPO, Vorwerk/Wolf, Stand 1.3.2019, § 227 Rn. 7). Das Fehlen einer ordnungsgemäßen Vertretung in der mündlichen Verhandlung infolge einer kurzfristigen, überraschenden Erkrankung eines als Einzelanwalt tätigen Prozessbevollmächtigten mit daraus folgender Unzumutbarkeit des Erscheinens oder des Verhandelns ist daher in der Regel ein erheblicher Grund für eine Terminsänderung (BVerwG, B.v. 20.4.2017 – 2 B 69.16 – juris Rn. 9; B.v. 21.12.2009 a.a.O. Rn. 3; BVerfG, B.v. 8.2.2001 – 2 BvR 266/99 – juris Rn. 2), wenn die Erkrankung so schwer ist, dass ein Erscheinen zum Termin nicht erwartet werden kann (vgl. BFH, B.v. 1.4.2009 – X B 78/08 – juris Rn. 5). Liegt ein solcher Grund vor, verdichtet sich angesichts des hohen Ranges des Anspruchs auf rechtliches Gehör das durch § 227 Abs. 1 Satz 1 ZPO eingeräumte Ermessen regelmäßig zu einer entsprechenden Verpflichtung des Gerichts (BVerwG, B.v. 21.12.2009 a.a.O. Rn. 3; B.v. 22.5.2001 – 8 B 69.01 – Buchholz 303 § 227 ZPO Nr. 30 S. 6 = juris Rn. 5).
Dem verhinderten Beteiligten obliegt es, die Hinderungsgründe, auf die er sich berufen will, möglichst noch vor dem Termin schlüssig und substantiiert darzulegen, so dass das Gericht in die Lage versetzt wird, das Vorliegen eines erheblichen Grundes zu beurteilen und ggf. eine Ergänzung des Vortrags und (weitere) Glaubhaftmachung gemäß § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 227 Abs. 2 ZPO zu verlangen (BVerwG, B.v. 26.4.1999 – 5 B 49.99 – juris Rn. 3, 6; B.v. 20.6.2000 – 5 B 27.00 – juris Rn. 10; B.v. 22.5.2001 a.a.O. Rn. 5; B.v. 29.4.2004 – 1 B 203.03 – juris Rn. 4; BFH, B.v. 27.1.2010 – VIII B 221/09 – juris Rn. 6). Letztere sieht das Gesetz vor, wenn dem Gericht zweifelhaft erscheint, ob der von dem Beteiligten schlüssig behauptete Sachverhalt zutrifft (BVerwG, B.v. 20.6.2000 a.a.O.). Dabei dürfen vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Ranges der prozessualen Gewährleistung des rechtlichen Gehörs keine überzogenen Anforderungen gestellt werden (BVerwG, B.v. 20.6.2000 a.a.O.; B.v. 21.12.2009 a.a.O. Rn. 4). Im Einzelfall kann der bloße Vortrag genügen (Wendl in Beermann/Gosch, AO/FGO, Stand April 2019, § 91 FGO Rn. 86; BFH, U.v. 26.5.1992 – VII R 26/91 – BFH/NV 1993, 177 = juris Rn. 17 f.). Die Glaubhaftmachung muss zeitlich möglich und zumutbar sein (BFH, B.v. 27.1.2010 a.a.O. Rn. 8 f. m.w.N.).
Die Prozessbevollmächtigte der Kläger hat mit ihrem Verlegungsantrag vom 17. April 2019 vorgetragen, sie könne nicht mit ihrem linken Fuß auftreten und habe starke Schmerzen. Zur Untermauerung dieses Vortrags hat sie den Behandlungsbericht der Unfallambulanz vorgelegt, aus dem sich neben der Diagnose Sprunggelenksdistorsion ergibt, dass eine medikamentöse Schmerzbehandlung erfolgt und ihr empfohlen worden ist, den Fuß hochzulagern und zu kühlen. Ferner hat sie in einem Telefonat mit dem Gericht, über das kein Aktenvermerk gefertigt worden ist, mitgeteilt, sie könne ihre Wohnung nicht verlassen. Auch wenn die Diagnose keine Aussage zum Schweregrad der Distorsion enthält, ergibt sich hieraus und dem Vortrag der Bevollmächtigten schlüssig und hinreichend substantiiert, dass sie schmerzbedingt nicht laufen konnte und ihr damit eine Anreise von Nürnberg zum Gerichtssitz nach Bayreuth und eine längere Asylverhandlung nicht zumutbar waren (vgl. BVerwG, B.v. 21.12.2009 – 6 B 32.09 – juris Rn. 5 zu einem akuten Arthritisanfall in den Händen).
Die Prozessbevollmächtigte war nicht verpflichtet, bereits mit ihrem Terminänderungsantrag ein ärztliches Attest oder eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorzulegen. Denn nach § 227 Abs. 2 ZPO sind die erheblichen Gründe erst auf Verlangen des Vorsitzenden bzw. des Gerichts glaubhaft zu machen. Eine entsprechende richterliche Aufforderung lässt sich den Akten jedoch ebenso wenig entnehmen wie die Aufforderung, den Vortrag zur Reise- und Verhandlungsunfähigkeit zu ergänzen. Auch aus der Ladung zur mündlichen Verhandlung ging nicht hervor, dass ein eventueller Hinderungsgrund sofort glaubhaft zu machen sei.
Von Gesetzes wegen ist zunächst ein schlüssiger Vortrag gefordert (BVerwG, B.v. 20.6.2000 a.a.O. Rn 10; vgl. auch BFH, B.v. 27.1.2010 a.a.O. juris Rn. 4; OVG LSA, B.v. 31.1.2017 – 2 L 34/16 – juris Rn. 6 ff.), wobei bei kurzfristigen Erkrankungen ggf. strenge(re) Anforderungen an den Vortrag gestellt werden können (vgl. BFH, B.v. 10.3.2005 – IX B 171/03 – juris Rn. 4; BSG, B.v. 13.8.2015 – B 9 V 13/15 B – juris Rn. 15; LSG Nds.-Bremen, U.v. 15.6.2016 – L 2 R 287/14 – juris Rn. 23). Da es keine Anzeichen dafür gab, dass der Gerichtstermin hinausgezögert werden sollte oder dass eine Erkrankung in Wahrheit nicht vorlag (vgl. BVerwG, B.v. 26.1.2016 – 2 B 34.14 u.a. – juris Rn. 21), hätte jedenfalls ein hinreichender tatsächlicher Anlass bestanden, ggf. durch einen Rückruf bei der Prozessbevollmächtigten von Amts wegen weitere für erforderlich gehaltene Ermittlungen zur Schwere der Krankheitssymptome anzustellen bzw. sie zur Ergänzung ihres Vortrags aufzufordern (vgl. BVerwG, B.v. 21.12.2009 a.a.O. Rn. 6; BFH, B.v. 27.1.2010 a.a.O. Rn. 5 m.w.N. und B.v. 1.4.2009 – X B 78/08 – juris Rn. 5).
Der Gehörsverstoß ist auch ohne Darlegung dessen, was die Kläger bei ausreichender Gewährung rechtlichen Gehörs noch vorgetragen hätten, hinreichend dargelegt (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG), da sie sich in der mündlichen Verhandlung zu dem gesamten Verfahrensstoff nicht äußern konnten, so dass sich nachträglich nicht feststellen lässt, wie die mündliche Verhandlung im Fall der Anwesenheit der Prozessbevollmächtigten verlaufen wäre (vgl. Seibert in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124 Rn. 223; BVerwG, B.v. 21.12.2009 a.a.O. Rn. 2; OVG NW, B.v. 13.7.2018 – 9 A 1980/17.A – juris Rn. 2 jeweils m.w.N.). Damit sind sie objektiv nicht in der Lage, Ausführungen darüber zu machen, was sie noch vorgetragen hätten (BVerwG, a.a.O.).


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