Medizinrecht

Geltendmachung eines Ersatzanspruchs dem Grunde nach

Aktenzeichen  S 8 AS 1095/17

Datum:
20.11.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB II SGB II § 34
BSHG BSHG § 92a
SGG SGG § 183, § 193

 

Leitsatz

§ 34 Abs. 1 SGB II enthält keine Befugnis zur Geltendmachung eines Ersatzanspruchs dem Grunde nach durch Feststellungsbescheid. (Rn. 17 – 29)

Tenor

I. Der Bescheid des Beklagten vom 1. Juni 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. September 2017 wird aufgehoben.
II. Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.

Gründe

Die Klage ist zulässig. Insbesondere liegt eine Klagebefugnis vor, auch wenn noch kein der Höhe nach bestimmter oder bestimmbarer Betrag vom Kläger als Ersatz gefordert wird. Denn – zumindest wohl nach der Vorstellung des Beklagten – soll mit dem Bescheid vom 1. Juni 2017 gleichsam als Grundlagenbescheid das Bestehen eines Ersatzanspruchs mit Bindungswirkung für etwaige spätere Leistungsbescheide festgestellt werden. Dies stellt einen rechtserheblichen Eingriff in die Rechtsposition des Klägers dar.
Die Klage hat auch in der Sache Erfolg.
Der Bescheid des Beklagten vom 1. Juni 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. September 2017 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Denn der Beklagte ist nicht zur Geltendmachung eines Ersatzanspruchs im Wege eines Feststellungsbescheids berechtigt.
Als Grundlage für die Geltendmachung des Ersatzanspruchs kommt allein § 34 Abs. 1 Satz 1 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitssuchende – (SGB II) infrage, der eine Befugnis zur Geltendmachung eines Ersatzanspruchs durch Verwaltungsakt enthält (vgl. BSG, Urteil vom 16. April 2013, B 4 AS 55/12 R). Danach ist zum Ersatz der deswegen erbrachten Geld- und Sachleistungen verpflichtet, wer nach Vollendung des 18. Lebensjahres vorsätzlich oder grob fahrlässig die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II an sich oder an Personen, die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft leben, ohne wichtigen Grund herbeigeführt hat. Als Herbeiführung gilt nach der seit dem 1. August 2016 geltenden Fassung des § 34 Abs. 1 Satz 2
SGB II (zur abweichenden vorherigen Rechtslage vgl. BSG, Urteil vom 8. Februar 2017, B 14 AS 3/16 R) auch, wenn die Hilfebedürftigkeit erhöht, aufrechterhalten oder nicht verringert wurde. § 34 Abs. 1 Satz 6 und Abs. 3 SGB II bestimmen, dass von der Geltendmachung abzusehen ist, soweit sie eine Härte bedeuten würde, und dass der Ersatzanspruch drei Jahre nach Ablauf des Jahres, für das die Leistung erbracht wurde, erlischt.
Ob der Bescheid vom 1. Juni 2017, mit dem ein Ersatzanspruch bei sozialwidrigem Verhalten geltend gemacht wird, formell ordnungsgemäß zustande gekommen ist, insbesondere der Kläger angehört wurde bzw. eine fehlende Anhörung durch das Vorverfahren geheilt wurde, kann dahinstehen. Der Bescheid ist jedenfalls materiell rechtswidrig.
Bei dem Ersatzanspruch nach § 34 SGB II handelt es sich wie schon bei der früheren Regelung in § 92a des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) um einen quasi-deliktischen Anspruch, weil der Ersatzanspruch von einem schuldhaften Verhalten des Ersatzpflichtigen abhängt. Das den Kostenersatzanspruch auslösende Verhalten muss nicht notwendig ein „rechtswidriges“ im Sinne der unerlaubten Handlung oder des Strafrechts sein. Das Erfordernis des „vorsätzlichen oder grob fahrlässigen“ Verhaltens ist vielmehr mit der Maßgabe zu lesen, dass die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen objektiv „sozialwidrig“ herbeigeführt sein müssen. Diese ungeschriebene und eingrenzende Tatbestandsvoraussetzung der Sozialwidrigkeit ist deswegen zur Eingrenzung erforderlich. Denn es gilt der Grundsatz, dass existenzsichernde und bedarfsabhängige Leistungen, auf die ein Rechtsanspruch besteht, regelmäßig unabhängig von der Ursache der entstandenen Notlage und einem vorwerfbaren Verhalten in der Vergangenheit zu leisten sind. Dieser Grundsatz einer verschuldensunabhängigen Deckung des Existenzminimums darf nicht durch eine weitreichende und nicht nur auf begründete und eng zu fassende Ausnahmefälle begrenzte Ersatzpflicht konterkariert werden. Schuldhaft (vorsätzlich oder grob fahrlässig) verhält sich ferner nur, wer sich der Sozialwidrigkeit seines Verhaltens bewusst (oder grob fahrlässig nicht bewusst) ist. Es kommt auf die Umstände des Einzelfalles an, ob ein Verhalten sozialwidrig ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Heranziehung zum Kostenersatz als Mittel zur Durchsetzung des Nachranggrundsatzes die Ausnahme darstellt. Ein Tun (Unterlassen) begründet einen Anspruch auf Kostenersatz daher nur dann, wenn es aus der Sicht der Gemeinschaft, die – was die Sicherstellung von Mitteln für eine Hilfeleistung in Notlagen angeht – eine Solidargemeinschaft ist, zu missbilligen ist. (vgl. BSG, Urteil vom 16. April 2013, B 4 AS 55/12 R; BVerwG, Urteil vom 23. September 1999, 5 C 22/99).
Nach diesen Grundsätzen ist für das Gericht schon ein schuldhaftes sozialwidriges Verhalten des Klägers nicht nachgewiesen. So ist schon fraglich, ob der Beklagte dem Kläger überhaupt vorhalten kann, er verringere seine Hilfebedürftigkeit nicht dadurch, dass er von seiner Tante eine (ortsübliche) Miete verlange. Denn der Beklagte hat dem Kläger, obwohl dieser das auch verlangt hat, nicht weiter dahin beraten, was er sich unter ortsüblich vorstellt, wie dieser vorgehen soll und ob er angesichts dessen, dass er nur hälftiger Eigentümer des Hauses ist, überhaupt als Vermieter gegenüber seiner Tante auftreten kann. Der Verweis auf Recherchemöglichkeiten und Vordrucke greift dazu nach Meinung des Gerichts zu kurz. Insbesondere die Frage der Berechtigung zur Vermietung wird so gänzlich dem Kläger zur Beantwortung überlassen. Selbst wenn man diesen als „sozialhilferechtlich erfahrene Person“ ansehen wollte, wie es der Beklagte tut, kann daraus nicht auf mietrechtliche Kenntnisse geschlossen werden.
Hinzu kommt, dass sich das Verhalten des Klägers in den Augen des Gerichts sich nicht als aus Sicht der Solidargemeinschaft zu missbilligen darstellt. Nach den insoweit unbestrittenen Angaben des Klägers, die das Gericht zugrunde legt, erhält dieser von seiner Tante monatlich knapp 279 EUR als Beteiligung an den Nebenkosten des Hauses. Geht man weiter von den Angaben des Klägers aus, die in den Akten enthalten sind und die in der mündlichen Verhandlung gemacht wurden, ergeben sich an monatlichen Kosten für das von ihm und seiner Tante bewohnte Haus (einschließlich der Heizkosten) im streitigen Zeitraum etwa 495 EUR bzw. ohne den Stromabschlag 370 EUR (der Beklagte hat in seiner vorläufigen Bewilligung im April 2017 238,19 EUR und ab Mai 2017 387,72 EUR anerkannt). Die Tante des Klägers leistet damit einen im Verhältnis zu der von ihr bewohnte Fläche von rund 28 qm im Vergleich zur Wohnfläche des Klägers und seines Sohnes von über 130 qm einen derart hohen Beitrag, dass dies nicht allein als Beitrag zu den grundsicherungsrechtlich relevanten Nebenkosten der Unterkunft abgetan werden kann. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sich der von ihr gezahlte Monatsbetrag daraus ergibt, dass sie sich an den Tilgungsleistungen für die laufenden Kredite beteiligt. Dies muss bei der Beurteilung berücksichtigt werden. Nachdem in Bezug auf das Verhältnis der bewohnten Flächen auf die Tante des Klägers lediglich ein Anteil an den Nebenkosten von etwa 18% entfallen dürfte, dies wären hier um die 89 EUR (ohne Strom an die 67 EUR), trifft der Vorwurf fehlender Einnahmeerzielung durch Nichtvermietung so nicht zu. Der jenseits des relevanten Nebenkostenanteils verbleibende Betrag erscheint dem Gericht mit über 200 EUR nicht von vornherein erkennbar hinter dem zurückzubleiben, was bei einer angemessenen ortsüblichen Vermietung zu erlösen wäre. Unberücksichtigt bleibt unter diesem Aspekt sogar noch, dass sich die Tante des Klägers ferner immer wieder an Renovierungskosten für das Haus beteiligen soll.
Letztgenannter Umstand könnte zudem als wichtiger Grund für das Verhalten des Klägers gewertet werden, vor allem unter Einbeziehung der persönlichen Bindung des Klägers an seine Tante, deren Alter und des langen Zusammenwohnens in dem Haus.
Ein sozialwidriges, also im Hinblick auf die Gewährung existenzsichernder Mittel zu missbilligendes Verhalten kann das Gericht bei diesem Sachverhalt noch nicht bejahen.
Ungeachtet dessen, dass damit schon kein Ersatzanspruch vorliegt, ist dem Beklagten die Geltendmachung in der erfolgten Form, nämlich mittels Feststellungsbescheid verwehrt. Der Beklagte beruft sich hierbei auf die einschlägigen fachlichen Weisungen der Bundesagentur für Arbeit zu § 34 SGB II. Abgesehen davon, dass diese für die Beurteilung durch das Gericht nicht bindend sind, lässt sich daraus lediglich ersehen, dass der Erlass eines Feststellungsbescheids im Sinn eines Grundlagenbescheids für möglich gehalten wird und als einziger rechtlicher Vorteil abgeleitet wird, dadurch könne einer Verwirkung eines Ersatzanspruchs vorgebeugt werden. Nicht herauslesen kann das Gericht jedoch, dass ein Feststellungsbescheid zwingend erlassen werden müsste.
Anhand des Wortlauts der Norm lässt sich die Berechtigung zum Erlass eines Feststellungbescheids weder bejahen noch verneinen. Zwar enthält § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB II, wie bereits erwähnt, die Befugnis zur Geltendmachung eines Ersatzanspruchs durch Verwaltungsakt. Welcher Art dieser sein muss, kann unmittelbar aber nicht ersehen werden. Jedoch spricht etwa der Blick auf § 34 Abs. 1 Satz 6 SGB II dafür, nur die Befugnis zum Erlass eines Leistungsbescheids anzunehmen. Denn die Prüfung einer Härte stellt maßgeblich auch auf die Höhe des etwaigen Ersatzanspruchs ab (vgl. Hauck/Noftz, SGB II, § 34 Rz. 65). Damit ist eine (ausreichende) Prüfung nur schwer vorstellbar, wenn Umfang und Höhe des geltend zu machenden Ersatzanspruchs noch nicht konkretisiert bzw. absehbar sind. Ferner ist der Erlass eines reinen Feststellungsbescheids nicht geeignet, den Ablauf der Erlöschensfrist nach § 34 Abs. 3 SGB II zu hemmen. Das ergibt sich deutlich aus dem letzten Halbsatz von § 34 Abs. 3 SGB II, der (nur) von einem Leistungsbescheid spricht. Ein dementsprechender Leistungsbescheid muss, um als hinreichend bestimmt angesehen zu werden und um vollstreckbar zu sein, jedoch den geforderten Betrag konkret angeben (vgl. Hauck/Noftz, a.a.O., Rz. 95).
Schließlich ist gegen die Befugnis zum Erlass eines bloßen Feststellungsbescheids anzuführen, dass das Grundsicherungsrecht nicht ausdrücklich festlegt, dass ein Feststellungsbescheid die vom Beklagten angenommene Bindungswirkung für spätere Leistungsbescheide hätte. Im Bereich des Steuerrechts etwa, aus dem eine derartige Konstruktion bekannt ist, regeln die §§ 179 ff. der Abgabenordnung (AO), dass bestimmte Feststellungen für andere Steuerbescheide bindend sind, die wiederum als Folgebescheide bezeichnet werden (§ 182 Abs. 1 AO). Entscheidungen in solchen feststellenden Bescheiden, nach der Legaldefinition des § 171 Abs. 10 AO als Grundlagebescheide bezeichnet, können nach § 351 Abs. 2 AO auch nur durch Anfechtung dieses Bescheids angegriffen werden. Ein derartiges Regelungskonstrukt weist das Grundsicherungsrecht jedoch nicht ausdrücklich auf. Nachdem aber sowohl die steuerrechtlichen Regelungen als auch diejenigen über Ersatzansprüche seit Längerem bestehen (§ 34 SGB II ist der Vorgängervorschrift des § 92a BSHG nachgebildet), hätte es nahe gelegen, wenn der Gesetzgeber dies im Sinn gehabt hätte, ein der AO entsprechendes Vorgehen auch für das Grundsicherungsrecht vorzusehen. Dass dergleichen unterblieben ist, auch bei der letzten Änderung des § 34 SGB II zum 1. August 2016, deutet das Gericht so, dass gesetzgeberisch kein Feststellungsbescheid gewollt war.
Das lässt sich auch daraus erklären, dass ein solcher nicht erforderlich ist. Denn ebenso gut lässt sich mit einem Leistungsbescheid das Bestehen eines Ersatzanspruchs feststellen, nachdem ohnedies in einem weiteren Schritt die Prüfung der Kausalität des sozialwidrigen Verhaltens und deswegen erbrachter Leistungen beurteilt werden muss. Gerade auch im Hinblick auf die zeitliche Korrelation zwischen diesen beiden Voraussetzungen stellt sich eine einheitliche Prüfung unter Umständen sogar als der einfachere Weg dar.
Eine legislative Intention zur Ermöglichung eines Feststellungsbescheids lässt sich ebenso wenig mit Blick auf die Situation bei Änderungsbescheiden feststellen. Zwar wird für Änderungsbescheid eine eingeschränkte Regelungsreichweite angenommen (vgl. Hauck/Noftz, SGB X, § 48, Rz. 9), woraus eine nur teilweise Angreifbarkeit bzw. anders formuliert eine Bindungswirkung der abgeänderten, ursprünglichen Entscheidung abgeleitet werden kann. Jedoch ist dies vor dem Hintergrund des Instrumentariums zur Durchbrechung der Bestandskraft bindend gewordener Bescheide zu sehen, die für sich genommen einen Lebenssachverhalt bereits umfassend geregelt haben. So liegt die Situation bei der Geltendmachung eines Ersatzanspruchs aber nicht, weil die abschließende Regelung aus den oben dargelegten Gründen die Angabe einer konkreten Forderung beinhalten muss. Ein einem feststellenden Grundlagenbescheid nachfolgender Leistungsbescheid wäre daher nicht einem Änderungsbescheid vergleichbar.
Wegen der bereits erörterten gegenseitigen Beziehungen bei der Prüfung des Bestehens eines sozialwidrigen Verhaltens und der darauf kausal zurückzuführenden Leistungen, deren Ersatz gefordert werden soll, die nach Auffassung des Gerichts sinnvoll nur einheitlich erfolgen kann, ist eine Teilbarkeit der Entscheidung in Feststellungsbescheid und späteren Leistungsbescheid ebenfalls abzulehnen. Insbesondere würde die Prüfung einer Härte und auch der Sozialwidrigkeit des Verhaltens deutlich erschwert, ohne dass dem eine nennenswerte verwaltungspraktische Erleichterung gegenüberstünde.
Zudem würde die mit zunehmendem zeitlichen Abstand immer kritischer zu betrachtende Kausalitätsprüfung das einmal bindend festgestellten Vorliegen eines Ersatzanspruchs dem Grunde nach immer mehr in den Hintergrund treten lassen, so dass dies zunehmend an Bedeutung verlieren würde. Damit ließe sich ohne entsprechende normative Festschreibung eine Bindungswirkung immer weniger rechtfertigen und hätte immer geringeren Vorteil.
In der Gesamtschau geht das Gericht deshalb davon aus, dass § 34 Abs. 1 SGB II nicht zur Geltendmachung eines Ersatzanspruchs durch bloßen Feststellungsbescheid, wie ihn der Beklagte hier mit dem im Streit stehenden Bescheid erlassen hat, berechtigt.
Der Klage ist deshalb stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG.


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