Medizinrecht

Gewöhnung an die Beatmung als Voraussetzung einer Entwöhnung im Zusammenhang mit der Berücksichtigung von Phasen der Spontanatmung bei Beatmung (DKR 1001l Version 2015)

Aktenzeichen  S 59 KR 1471/19

Datum:
17.2.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 6305
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
Prüfverfahrensvereinbarung (PrüfvV) § 8 Satz 3
DKR 1001l
DRG F43B

 

Leitsatz

1. Mit der neuen Rechtsprechung des BSG zur Gewöhnung an die maschinelle Beatmung als Voraussetzung für eine Entwöhnung vom Beatmungsgerät im Sinne der DKR 1001l (BSG, Urteil vom 17.12.2020 Az. B 1 KR 13/20 R) ist insbesondere klargestellt, dass keine wie auch immer zu definierende Mindestdauer einer vorherigen Beatmung, insbesondere über Tracheostoma, zu fordern ist, bis eine Entwöhnung beginnen kann. Vielmehr ist es möglich, dass eine maschinelle Beatmung, die bei intensivmedizinisch versorgten Patienten über Maskensysteme erfolgt, von Anfang an in Form einer Entwöhnung erbracht wird.
2. Es kann dahinstehen, ob ein Einwand, den die beklagte Krankenkasse erstmals in der mündlichen Verhandlung gegen die Abrechnung vorgebracht hat, schon deshalb präkludiert war, weil er nicht mit den wesentlichen Gründen innerhalb der Ausschlussfrist von 9 Monaten nach Übermittlung der Prüfanzeige mitgeteilt worden war (§ 8 Sätze 2, 3 und 4 Prüfverfahrensvereinbarung 2014).

Tenor

I. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin einen Betrag in Höhe von 5.297,71 € nebst Zinsen in Höhe von 4 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 03.08.2016 zu zahlen.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Gründe

Für die Entscheidung war das Sozialgericht München örtlich (§ 57 Sozialgerichtsgesetz – SGG) und sachlich (§ 8 SGG) zuständig.
Die Klage ist zulässig. Sie ist als echte Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 5 SGG statthaft.
Die Klage ist auch begründet. Die Klägerin hat den begehrten Anspruch aus einem hier nicht bekannten Grund, über den sich die Beteiligten einig sind. Die Rechtsprechung des BSG hat die Verurteilung wegen einer dem Grunde nach nicht näher bezeichneten Forderung in Krankenhausstreitigkeiten akzeptiert, wenn streitig allein die aufgerechnete Gegenforderung ist (BSG, Urteil vom 25.10.2016 Az. B 1 KR 7/16 R, Rdnr. 9 bei juris).
Die dagegen seitens der Beklagten erklärte Aufrechnung mit dem Anspruch auf Rückforderung der für die stationäre Krankenhausbehandlung der Versicherten R. vom 29.12.2015 bis zum 12.01.2016 geleisteten Vergütung in Höhe von 5.297,71 € war unwirksam, weil ein solcher Rückforderungsanspruch nicht besteht. Vielmehr hatte die Beklagte die Vergütung zu Recht bezahlt.
Rechtsgrundlage des von der Klägerin geltend gemachten Vergütungsanspruchs ist § 109 Abs. 4 Satz 3 SGB V i.V.m. § 7 Krankenhausentgeltgesetz (KHEntgG) und § 17b Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG). Das Gesetz regelt in diesen Vorschriften die Höhe der Vergütung der zugelassenen Krankenhäuser bei stationärer Behandlung gesetzlich Krankenversicherter und setzt das Bestehen des Vergütungsanspruchs als Gegenleistung für die Erfüllung der Pflicht, erforderliche Krankenhausbehandlung nach § 39 SGB V zu gewähren (§ 109 Abs. 4 Satz 2 SGB V), dem Grunde nach als Selbstverständlichkeit voraus. Der Anspruch wird durch Vereinbarungen auf Bundes- und Landesebene konkretisiert. Die Zahlungsverpflichtung der Krankenkasse entsteht – unabhängig von einer Kostenzusage – unmittelbar mit Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten kraft Gesetzes, wenn die Versorgung – wie hier – in einem zugelassenen Krankenhaus durchgeführt wird und im Sinne von § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB V erforderlich und wirtschaftlich ist (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 8.11.2011 Az. B 1 KR 8/11 R – BSGE 109, 236 = SozR 4-​5560 § 17b Nr. 2, Rdnr. 13, 15 f; BSG, Urteil vom 19.11.2019 Az. B 1 KR 33/18 R, Rdnr. 10, 12 f. m. w. Nachw.).
Zu Recht hat das Krankenhaus der Klägerin die DRG F43B angesetzt und somit die Krankenhausleistung korrekt mit einem Betrag von insgesamt 14.649,74 € abgerechnet. Die DRG F43B setzt eine Dauer von mindestens 24h maschineller Beatmung voraus. Zu Recht hat die Klägerin 41 Beatmungsstunden angesetzt. Zwar wurde die Patientin im Zeitraum vom 31.12.2015 um 0:45 Uhr bis zur endgültigen Beendigung der maschinellen Beatmung am 01.01.2016 um 17:30 Uhr insgesamt 40 h 45 min insgesamt nur 19 h maschinell beatmet, weil zwischen den Phasen maschineller Beatmung immer wieder Phasen der Spontanatmung lagen, jedoch waren die Phasen der Spontanatmung mitzuberücksichtigen, so dass der gesamte Zeitraum vom 31.12.2015 um 0:45 Uhr bis zum 01.01.2016 um 17:30 Uhr mit einer Dauer von 40 h 45 min, aufgerundet zu 41, als Dauer der maschinellen Beatmung zu werten war.
Nr. 1001l der Deutschen Kodierrichtlinien (DKR) in der maßgeblichen Version 2015 sehen unter der Definition der maschinellen Beatmung vor, dass bei der künstlichen Beatmung der Patient in der Regel intubiert oder tracheotomiert und fortlaufend beatmet wird; bei intensivmedizinisch versorgten Patienten kann jedoch eine maschinelle Beatmung auch über Massensysteme erfolgen, wenn diese anstelle der bisher üblichen Intubation oder Tracheotomie eingesetzt werden kann. Dass die Beatmung der Patientin sowohl am 31.12.2015 als auch am 01.01.2016 auf der Intensivstation mittels des Maskensystems BIPAP als maschinelle Beatmung in diesem Sinne zu werten ist, haben sowohl der MDK Bayern in seinem Gutachten vom 22.07.2016 als auch der Sachverständige Dr. E. festgestellt.
Soweit die Beklagte das Vorliegen einer maschinellen Beatmung als solches mit der Begründung infrage gestellt hat, dass bestimmte Parameter der Beatmung in den Patientenunterlagen nicht dokumentiert waren, nimmt sie damit nur eine Formulierung im Gutachten des Sachverständigen R1. in seinem Gutachten vom 14.05.2021 auf, der dieses Argument jedoch gleichzeitig selbst widerlegt hatte, indem er darauf hinwies, dass selbst dann wenn die Maskenbeatmung nur in Form einer „CPAP“ vorgelegen hätte, diese jedoch kalendertäglich mindestens 6 Stunden lang stattgefunden hätte, sodass nach der ausdrücklichen Regelung in der DKR 1001l (S. 103 unten/ 104 oben) auch diese Form der Beatmung als maschinelle Beatmung zu werten wäre. Auch entsprach es der ausdrücklichen Regelung in der DKR 1001l, Version 2015 (S. 103 Absatz 2), dass die Methode der Entwöhnung (z. B. CPAP, SIMV, PSV) bei der maschinellen Beatmung nicht kodiert wird. Es kann dahinstehen, ob dieser Einwand, den die Beklagte erstmals in der mündlichen Verhandlung vom 17.02.2022 vorgebracht hat, schon deshalb präkludiert war, weil er nicht mit den wesentlichen Gründen innerhalb der Ausschlussfrist von 9 Monaten nach Übermittlung der Prüfanzeige mitgeteilt worden war (§ 8 Sätze 2, 3 und 4 Prüfverfahrensvereinbarung 2014).
Die beatmungsfreien Intervalle der Spontanatmung sind nach der DKR 1001l so lange mitzuzählen, bis die Entwöhnung beendet ist. Das Ende der Entwöhnung kann retrospektiv nach Eintreten einer stabilen respiratorischen Situation festgestellt werden. Eine stabile respiratorische Situation liegt vor, wenn ein Patient über einen längeren Zeitraum vollständig und ohne maschinelle Unterstützung spontan atmet. Dieser Zeitraum wird für Patienten, die bis zu sieben Tage beatmet worden sind, als 24 Stunden definiert. Für die Berechnung der Beatmungsdauer gilt als Ende der Entwöhnung dann das Ende der letzten maschinellen Unterstützung der Atmung.
Soweit die Rechtsprechung des BSG für den Beginn einer „Entwöhnung“ im Sinne der DKR 1001l das Vorliegen einer „Gewöhnung“ gefordert hat, hat das BSG im Hinblick auf die dazu geäußerte massive fachliche Kritik in seinem Urteil vom 17.12.2020 (Az. B 1 KR 13/20 R) klargestellt, dass eine „Gewöhnung an die maschinelle Beatmung“ als Voraussetzung für eine Entwöhnung vom Beatmungsgerät im Sinne der DKR 1001l lediglich „die erhebliche Einschränkung oder den Verlust der Fähigkeit, über einen längeren Zeitraum vollständig und ohne maschinelle Unterstützung spontan atmen zu können“ erfordert und nicht an weitere, darüber hinausgehende Voraussetzungen geknüpft ist (aaO. Rdnr. 19). Unerheblich ist daher, ob die Fähigkeit zur Spontanatmung „nur“ aufgrund der behandelten Erkrankung beeinträchtigt ist oder auch durch eine Schwächung der Atemmuskulatur infolge der Beatmung oder durch ein Zusammenwirken dieser Faktoren. Eine „Gewöhnung“ an den Respirator ist danach nicht im Sinne einer pathophysiologischen Abhängigkeit zu verstehen, etwa wie bei Suchtkranken. Mit dieser neuen Rechtsprechung ist insbesondere klargestellt, dass keine wie auch immer zu definierende Mindestdauer einer vorherigen Beatmung, insbesondere über Tracheostoma, zu fordern ist, bis eine „Entwöhnung“ beginnen kann. Vielmehr ist es möglich, dass eine maschinelle Beatmung, die bei intensivmedizinisch versorgten Patienten über Maskensysteme erfolgt, von Anfang an in Form einer „Entwöhnung“ erbracht wird. Dies ist vom Ergebnis her auch sowohl medizinisch als auch ökonomisch sinnvoll, da es sowohl für die Gesundheit der Patienten als auch für die Ausgaben der Krankenkassen verheerend wäre, wenn ein abrechnungstechnischer Anreiz gesetzt würde, eine maschinelle Beatmung für eine Mindestdauer ohne Unterbrechung durchzuführen, bevor mit der Entwöhnung begonnen würde.
Für die vom MDK Bayern in seinem Gutachten vom 22.07.2016 als Voraussetzung einer „Entwöhnung“ geforderte Voraussetzung einer vorausgegangenen ununterbrochenen maschinellen Beatmung über eine Dauer von mindestens 24 Stunden gibt es weder in der DKR 1001l noch in den aktuellen wissenschaftlichen Beatmungsleitlinien irgendeine Grundlage, wie der Sachverständige R1. in seinem Gutachten vom 14.05.2021 festgestellt hat.
Schließlich vermag auch der Vorwurf der Beklagten, bei der durchgeführten Entwöhnung sei kein methodisches Vorgehen erkennbar, in keiner Weise zu überzeugen. Auf die Ausführungen des Sachverständigen R1. in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 05.10.2021, denen sich das Gericht in vollem Umfang anschließt, wird hierzu verwiesen. Darin wird klar ausgeführt, welche Parameter im Laufe der Entwöhnung systematisch verändert wurden, wobei immer wieder versucht wurde, Phasen der Spontanatmung so lange wie möglich einzuleiten und durchzuhalten, bis eine endgültige Beendigung der maschinellen Beatmung am 01.01.2016 um 17:30 Uhr gelang.
Der Anspruch auf Verzinsung ergibt sich aus der Pflegesatzvereinbarung.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 154 Abs. 1 VwGO.


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