Medizinrecht

Herzinsuffizienz, Niereninsuffizienz, Entziehung der Fahrerlaubnis wegen nicht vorgelegten Gutachtens, Eilantrag

Aktenzeichen  M 6 S 21.2649

Datum:
30.8.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 45957
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5 S. 1
StVG § 3 Abs. 1
FeV § 46 Abs. 1
FeV § 46 Abs. 3
FeV § 11 Abs. 2 S. 1 Nrn. 5
FeV § 11 Abs. 8

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 5.000 € festgesetzt.

Gründe

I.
Der 1940 geborene Antragsteller wendet sich im Wege des Eilrechtsschutzes gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Ziffern 1 und 2 des Bescheids des Antragsgegners vom 28. April 2021, mit dem ihm die Fahrerlaubnis der Klassen A1, B, BE, C1, BE, C1E, M, L und T/S entzogen wurde.
Dem liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
Am 14. Juli 2020 erhielt der Antragsgegner die Mitteilung der Polizeiinspektion S., dass der Antragsteller am 13. Juni 2020 zwei Verkehrsunfälle in einem Zeitraum von 2 Stunden verursacht habe. Im ersten Fall sei er aus ungeklärter Ursache nach rechts von der Fahrbahn abgekommen und gegen eine Straßenlaterne geprallt. Im zweiten Fall sei er aus ebenfalls ungeklärter Ursache bei einer Einfahrt in ein Grundstück mit der rechten Fahrzeugseite mit einem Hoftor kollidiert. Insbesondere im Rahmen der Unfallaufnahme des zweiten Unfalls habe der Antragsteller altersbedingte geistige und körperliche Ausfallserscheinungen gezeigt. Auf Befragung nach dem Grund des Unfalls habe er verschiedene und unschlüssige Ursachen genannt. Die Freundin des Antragstellers habe angegeben, dieser habe sich in einem geistigen Ausnahmezustand befunden. Von der Polizei habe vor Ort nicht ausgeschlossen werden können, dass der Antragsteller unter dem Einfluss von Medikamenten stand, die die Fahruntauglichkeit zur Folge gehabt haben könnten. Der herbeigerufene Notarzt sei von unklarem Gesundheitszustand ausgegangen, weshalb der Antragsteller mit dem Rettungsdienst zur Untersuchung ins Krankenhaus gebracht worden sei. Er sei dort stationär zur Untersuchung aufgenommen worden.
Die Fahrerlaubnisbehörde forderte den Antragsteller daraufhin mit Schreiben vom 14. August 2020 zur Vorlage einer hausärztlichen Stellungnahme auf, ob und wenn ja, welche Erkrankungen und Einschränkungen beim Antragsteller vorliegen und welche Medikamente er gegebenenfalls einnimmt.
Am 15. September 2020 wurde dem Antragsgegner das ärztliche Attest des Hausarztes des Antragstellers vom 22. August 2020 übermittelt.
Folgende Diagnosen sind hierin gestellt:
– Herzinsuffizienz bei KHK, Vorhofflimmern
Z.n. Mitralklappensersatz nach Endokarditis
aktuell kardial kompensiert
– chronische Niereninsuffizienz
Elektrolytentgleisung/Exsikkose 06/2020 (KH …)
aktuell kompensiert
– Z.n. eitriger Spondylodiscitis 2018 –
Spinalkanalstenose
Hinsichtlich des für den Antragsteller von seinem Hausarzt erstellten Medikationsplans wird auf Blatt 20 der Behördenakte verwiesen.
In der Behördenakte befinden sich zwei Schreiben der Frau, die nach der von der Polizei angenommenen Kollision des Antragstellers mit dem Hoftor den Rettungsdienst verständigt hatte (Blatt 18, Blatt 39 der Behördenakte). In den Schreiben legt sie dar, dass am Hoftor kein Sachschaden entstanden sei.
Mit Schreiben vom 12. Oktober 2020 forderte die Fahrerlaubnisbehörde den Antragsteller zur Beibringung eines Gutachtens einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung bis spätestens 31. Dezember 2020 auf. Dies begründete der Antragsgegner damit, dass bei dem Antragsteller aus dem ärztlichen Attest des Hausarztes und dem Medikationsplan Herz- und Nierenerkrankungen zu entnehmen seien.
Mit den Fragestellungen sollte geklärt werden, ob bei dem Antragsteller eine Erkrankung vorliege, die dessen Fahreignung in Frage stelle. Bezüglich der Fragestellung im Einzelnen wird auf Blatt 23 der Behördenakte verwiesen.
Am 19. Oktober 2020 erteilte der Antragsteller die Einverständniserklärung zu einer Begutachtung durch den TÜV … … Mit Schreiben vom 21. Oktober 2020 wurde dem TÜV … die Behördenakte zur gutachterlichen Beantwortung der behördlichen Fragestellungen übersandt.
Der bevollmächtigte Rechtsanwalt beantragte für den Antragsteller mit Schreiben vom 30. Dezember 2020 eine Fristverlängerung für das geforderte ärztliche Gutachten bis 30. Januar 2021. Fristverlängerung wurde bis 27. Januar 2021 gewährt.
Vom TÜV … wurden die zur Verfügung gestellten Fahrerlaubnisunterlagen mit Schreiben vom 13. Januar 2021 zurück an die Fahrerlaubnisbehörde gesandt. Das Gutachten wurde nicht vorgelegt.
Der Antragsgegner wurde am 12. Februar 2021 zur geplanten Entziehung der Fahrerlaubnis mit einer Äußerungsfrist bis 25. Februar 2021 angehört. Der bevollmächtigte Rechtsanwalt trug am 1. März 2021 vor, es habe keinen Anlass zur Überprüfung der Fahreignung des Antragstellers gegeben, weshalb diese rechtswidrig sei. Konkrete Zweifel an der Fahreignung hätten nicht bestanden. Es habe auch nicht eine Beteiligung seines Mandanten an 2 Verkehrsunfällen, sondern lediglich an einem Verkehrsunfall vorgelegen. Die Fahrerlaubnisbehörde hätte die Mitteilung der Polizei hinterfragen und eigene Ermittlungen anstellen müssen. Das Attest des Hausarztes vom 22. August 2020 dürfe nicht zulasten des Antragstellers verwendet werden. Nach dem Unfallgeschehen sei der Antragsteller auch nicht in einem geistigen Ausnahmezustand, sondern lediglich „etwas neben der Spur“ gewesen. Die Anordnung der Beibringung eines ärztlichen Gutachtens einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung sei rechtswidrig gewesen.
Mit Bescheid vom 28. April 2021, dem Bevollmächtigten des Antragstellers gegen Empfangsbekenntnis zugestellt am 3. Mai 2021, entzog die Fahrerlaubnisbehörde dem Antragsteller die Fahrerlaubnis der Klassen A1, B, C1, BE, C1E, M, L, S/T (Ziffer 1 des Bescheids) und forderte ihn auf, seinen Führerschein innerhalb einer Woche nach Zustellung des Bescheids bei der Fahrerlaubnisbehörde abzuliefern (Ziffer 2). Des Weiteren ordnete sie die sofortige Vollziehung der Ziffern 1 und 2 des Bescheides an (Ziffer 3) und drohte für den Fall der nicht fristgerechten Abgabe des Führerscheins ein Zwangsgeld in Höhe von 500 EUR an (Ziffer 4).
Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
Am 6. Mai 2021 ging bei der Fahrerlaubnisbehörde der Führerschein des Antragstellers ein (Blatt 64 der Behördenakte).
Mit Schriftsatz vom 17. Mai 2021, beim Bayerischen Verwaltungsgericht München eingegangen am 19. Mai 2021, erhob der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers für diesen Klage (M 6 K 21.2647) und beantragte mit Schriftsatz vom gleichen Tage wörtlich,
„die sofortige Vollziehung der Nr. 1 und Nr. 2 des Bescheids des Beklagten vom 28. April 2021 (Az.: …*) aufzuheben.“
Die Anordnung des Sofortvollzugs sei nicht hinreichend begründet und ein besonderes Interesse an der Vollziehung nicht gegeben. Der Antragsteller sei nach Einschätzung seines Hausarztes als fahrtüchtig anzusehen. Er lasse seinen Gesundheitszustand regelmäßig von seinem Hausarzt überprüfen. Ein „Ärztliches Attest“ des Hausarztes vom 10. Mai 2021 ist als Anlage beigefügt. Die Entziehung der Fahrerlaubnis sei auch nicht sofort, sondern erst mehr als 2 Monate, nachdem ihm eingeräumt worden sei, freiwillig auf seine Fahrerlaubnis zu verzichten, erfolgt. Der Entziehungsbescheid sei rechtswidrig, da die Gutachtensanordnung bereits rechtswidrig gewesen sei. Der Antragsteller habe am 13. Juli 2020 lediglich einen und nicht zwei Unfälle verursacht. Für eine Begutachtung der Fahreignung habe kein Anlass bestanden.
Der Antragsgegner erwiderte mit Schreiben vom 14. Juli 2021 (zum Eilantrag) und 15. Juli 2021 (zur Klage), legte die Behördenakte vor und beantragte,
den Antrag abzulehnen.
Mit Beschluss vom 25. August 2021 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
Hinsichtlich der Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Parteien im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
II.
Der Antrag, die aufschiebende Wirkung der Klage (M 6 K 21.2645) des Antragstellers gegen die Ziffer 1 und 2 des Bescheids des Antragsgegners vom 28. April 2021 wiederherzustellen ist gemäß § 80 Abs. 5 VwGO zulässig, aber unbegründet.
1. Die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung in Ziffer. 3 des Bescheids vom 28. April 2021 genügt den formellen Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO.
Nach dieser Vorschrift ist die Anordnung der sofortigen Vollziehung schriftlich zu begründen. Dabei hat die Behörde unter Würdigung des jeweiligen Einzelfalls darzulegen, warum sie abweichend vom Regelfall der aufschiebenden Wirkung, die Widerspruch und Klage grundsätzlich zukommt, die sofortige Vollziehbarkeit des Verwaltungsaktes angeordnet hat. An den Inhalt der Begründung sind dabei allerdings keine zu hohen Anforderungen zu stellen (vgl. BayVGH, B.v. 29.12.2020 – 11 CS 20.2355 – juris Rn. 17; B.v. 16.10.2019 – 11 CS 19.1434 – juris Rn. 20 m.w.N.; Hoppe in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 80 Rn. 55, 46 – Erlass- und Vollzugsinteresse regelmäßig deckungsgleich).
Dem genügt die ersichtlich auf den vorliegenden Einzelfall abstellende Begründung auf Seite 7- 8 im Bescheid vom 28. April 2021. Die Fahrerlaubnisbehörde hat dargelegt, warum sie konkret im Fall des Antragstellers im Interesse der Sicherheit des öffentlichen Straßenverkehrs die sofortige Vollziehung anordnet. Sie hat dies auf den konkret vorliegenden Einzelfall bezogen, dass dieser das von ihm zur Ausräumung der Fahreignungszweifel geforderte Gutachten eines Arztes in einer Begutachtungsstelle für Fahreignung nicht vorgelegt hat. Dabei begegnet die behördliche Annahme, dass einem nicht fahrgeeigneten Kraftfahrer im Hinblick auf die damit für die Allgemeinheit verbundenen erheblichen Gefahren die Fahrerlaubnis ungeachtet des Gewichts seines persönlichen Interesses an der Teilnahme am individuellen Straßenverkehr nicht bis zum Eintritt der Bestandskraft des Entziehungsbescheids belassen werden kann, keinen Bedenken (stRspr. BayVGH, jeweils a.a.O. m.w.N.). Es spielt keine Rolle, ob der Antragsteller bis zum Erlass des Entziehungsbescheids und ggf. noch danach unbeanstandet am Straßenverkehr teilgenommen hat, in welchem Umfang er von der Fahrerlaubnis Gebrauch macht und ob er finanziell in der Lage ist, das von ihm geforderte Gutachten beizubringen. Maßgeblich ist, dass die Gefahren für die Allgemeinheit unvermindert bestehen, solange die Fahreignung fehlt. Die Anordnung des Sofortvollzugs der Nr. 2 des Bescheids ist mit dem öffentlichen Interesse an einer Verhinderung von möglichen Täuschungshandlungen gleichfalls ausreichend begründet.
Im Übrigen ergibt sich das besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung im Bereich des Sicherheitsrechts regelmäßig – so auch hier – gerade aus den Gesichtspunkten, die für den Erlass des Verwaltungsakts selbst maßgebend waren. Es ist nicht dadurch entfallen, dass zwischen der Anhörung zur geplanten Entziehung der Fahrerlaubnis und dem Erlass des Bescheids 2 Monate lagen.
2. Hinsichtlich der in Ziffern 1 und 2 des Bescheids vom 28. April 2021 angeordneten sofortigen Vollziehung der Entziehung der Fahrerlaubnis war die aufschiebende Wirkung der Klage nicht wiederherzustellen.
Gemäß § 80 Abs. 1 VwGO haben Widerspruch und Anfechtungsklage grundsätzlich aufschiebende Wirkung. Die aufschiebende Wirkung entfällt (auch), wenn die Behörde nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten angeordnet hat, was vorliegend hinsichtlich der Ziffern 1 und 2 des Bescheids zutrifft.
Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung im Fall des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO ganz oder teilweise wiederherstellen (§ 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO). Das Gericht trifft dabei eine originäre Ermessensentscheidung. Es hat bei der Entscheidung über die Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung abzuwägen zwischen dem von der Behörde geltend gemachten Interesse an der sofortigen Vollziehung ihres Bescheids und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Bei dieser Abwägung sind auch die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO allein mögliche, aber auch ausreichende summarische Prüfung, dass der Rechtsbehelf offensichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid schon bei summarischer Prüfung als offensichtlich rechtswidrig, besteht kein öffentliches Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens dagegen nicht hinreichend absehbar, verbleibt es bei einer Interessensabwägung.
Die im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens vorzunehmende Interessenabwägung fällt vorliegend zulasten des Antragstellers aus, weil der Bescheid, mit dem dem Antragsteller die Fahrerlaubnis entzogen wurde, bei summarischer Prüfung mit großer Wahrscheinlichkeit rechtmäßig ist und den Antragsteller nicht in seinen Rechten verletzt, so dass die hiergegen erhobene Klage voraussichtlich ohne Erfolg bleiben wird (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Entziehung der Fahrerlaubnis ist regelmäßig derjenige der letzten Behördenentscheidung, hier also der Zustellung des Entziehungsbescheids. Nachträglich im gerichtlichen Verfahren vorgelegte ärztliche Atteste, wie das des Hausarztes vom 10. Mai 2021, können aufgrund des entscheidungserheblichen Zeitpunkts – unabhängig von deren Aussagekraft für die Fahreignung – bei Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Entziehung durch das Gericht keine Berücksichtigung finden. Dies wäre nur dann möglich, wenn der Antragsteller – anders als im vorliegenden Verfahren – sein Wahlrecht hinsichtlich der möglichen Rechtsbehelfe dahingehend ausgeübt hätte, dass zunächst nur Widerspruch eingelegt worden wäre und noch kein Widerspruchsbescheid ergangen wäre (vgl. BVerwG U.v. 23.10.2014 – 3 C 3/13 – juris Rn. 13). In diesem Fall wäre für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abzustellen.
Zur Begründung wird zunächst zur Vermeidung von Wiederholungen auf die rechtlichen und tatsächlichen Ausführungen in dem angegriffenen Bescheid verwiesen (vgl. § 117 Abs. 5 VwGO).
Ergänzend ist mit Rücksicht auf das Klage- und Antragsvorbringen folgendes auszuführen:
Die Fahrerlaubnisbehörde durfte zurecht von der Nichteignung des Antragstellers ausgehen.
Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) und § 46 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV), hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich deren Inhaber als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist, finden die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung (§ 46 Abs. 3 FeV).
Nach § 11 Abs. 2 Satz 1 FeV kann die Fahrerlaubnisbehörde zur Vorbereitung von Entscheidungen über die Erteilung oder Verlängerung der Fahrerlaubnis oder über die Anordnung von Beschränkungen oder Auflagen die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens anordnen, wenn Tatsachen bekannt werden, die Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung begründen. Bedenken bestehen nach § 11 Abs. 2 Satz 2 FeV insbesondere, wenn Tatsachen bekannt werden, die auf eine Erkrankung oder einen Mangel nach Anlage 4 oder 5 hinweisen. Nicht erforderlich ist also, dass eine solche Erkrankung oder ein solcher Mangel bereits feststeht. Allerdings darf die Beibringung des Gutachtens nur aufgrund konkreter Tatsachen, nicht auf einen bloßen Verdacht „ins Blaue hinein“ bzw. auf Mutmaßungen, Werturteile, Behauptungen oder dergleichen hin verlangt werden (vgl. BVerwG, U.v. 5.7.2001 – 3 C 13.01 – NJW 2002, 78 = juris Rn. 26; Siegmund in Freymann/Wellner jurisPK-Straßenverkehrsrecht, Stand 19.4.2021, § 11 FeV Rn. 36). Ob die der Behörde vorliegenden Tatsachen ausreichen, ist nach den gesamten Umständen des jeweiligen Einzelfalls zu beurteilen. Gleiches gilt für den genauen Grad der Konkretisierung, die die von der Fahrerlaubnisbehörde gemäß § 11 Abs. 6 Satz 1 und 2 FeV festzulegende und mitzuteilende Fragestellung aufweisen muss (BVerwG, B.v. 5.2.2015 – 3 B 16.14 – BayVBl 2015, 421 = juris Rn. 9; BayVGH, B.v. 16.3.2021 – 11 CS 20.2627 u.a. – juris Rn. 16 m.w.N.).
Weigert sich der Betroffene, sich untersuchen zu lassen, oder bringt er der Fahrerlaubnisbehörde das von ihr geforderte Gutachten nicht fristgerecht bei, darf diese bei ihrer Entscheidung auf die Nichteignung des Betroffenen schließen, wenn sie ihn hierauf bei der Anordnung zur Beibringung des Erachtens hingewiesen hat (§ 11 Abs. 8 FeV).
Der Schluss auf die Nichteignung ist aber nur dann zulässig, wenn die Anordnung des Gutachtens formell und materiell rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig sowie hinreichend bestimmt war (stRspr, vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2016 – 3 C 20/15 – juris Rn. 19 m.w.N.).
Diese Voraussetzungen lagen vor. Zudem hat der Antragsgegner den Antragsteller bei seiner Gutachtensaufforderung auf die Folgen der Verweigerung der Mitwirkung hingewiesen (Seite 3 des Bescheids).
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Frage, ob die Fahrerlaubnisbehörde das ihr nach § 11 Abs. 2 Satz 1 FeV eingeräumte Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt hat, ist der Zeitpunkt der Aufforderung zur Beibringung des Fahreignungsgutachtens (vgl. BVerwG, U.v.17.11.2016 – 3 C 20/15 – juris Rn. 36).
Nach der Mitteilung der Polizeiinspektion S. hatte der Antragsteller (mindestens) einen Unfall mit Fremdschaden verursacht und war nicht imstande, hierfür schlüssige Ursachen zu benennen. Auch der herbeigerufene Notarzt ging von einem unklaren Gesundheitszustand aus, weshalb der Antragsteller zunächst zur Untersuchung ins Krankenhaus verbracht worden war. Die Freundin des Antragstellers, die den Notarzt gerufen hatte, war auch deshalb besorgt um den Gesundheitszustand, da sie den Eindruck hatte, der Antragsteller sei „neben der Spur“.
Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit bat die Fahrerlaubnisbehörde den Antragsteller deshalb zunächst um Vorlage einer hausärztlichen Stellungnahme, aus der hervorgehen sollte, ob und wenn ja, welche Erkrankungen und Einschränkungen bei dem Antragsteller nach der ICD-10 Eingruppierung zu diagnostizieren sind und welche Medikamente er gegebenenfalls einnimmt.
Aus dem ärztlichen Attest des Hausarztes vom 22. August 2020 ergibt sich eine Herzinsuffizienz bei koronarer Herzkrankheit sowie Vorhofflimmern im Zustand nach Mitralklappenersatz nach Endokarditis, die aktuell kardial kompensiert ist. Außerdem eine aktuell kompensierte chronische Niereninsuffizienz nach einer Elektrolytentgleisung/Exsikkose im Juni 2020.
Diese diagnostizierten Erkrankungen in Verbindung mit dem ungeklärten Verkehrsunfall vom 13. Juni 2020 ergaben im maßgeblichen Zeitpunkt der Gutachtensanordnung hinreichenden Anlass für die Anordnung, ein ärztliches Gutachten gemäß § 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 5 FeV beizubringen. Das Sicherheitsrisiko wird unmittelbar einsichtig, wenn man sich vor Augen führt, dass beim Abkommen von der Fahrbahn aus ungeklärten Gründen auch ein Mensch verletzt oder getötet hätte werden können. Der Vortrag des Prozessbevollmächtigten, dass das hausärztliche Attest vom 22. August 2020 nicht zum Nachteil des Antragstellers hätte berücksichtigt werden dürfen, geht fehl. Das berechtigtermaßen geforderte Attest wurde vom Antragsteller selbst für Zwecke der Fahreignungsüberprüfung zur Verfügung gestellt. Im Übrigen führt es im Sicherheitsrecht nicht automatisch zu einem Verwertungsverbot der durch ein Attest erlangten Kenntnisse, wenn der Betroffene bei der Überprüfung seines Gesundheitszustandes nicht hätte mitwirken müssen, dies jedoch getan hat (vgl. BayVGH, B.v. 5.10.2020 – 11 CS 20.1203 – juris).
Der Grund für den Unfall war im Zeitpunkt der Gutachtensanordnung ungeklärt. Der Antragsteller hat nach Aktenlage selbst keine Angaben zum Unfallhergang gemacht. Des Weiteren wurde keine plausible Erklärung dafür erbracht, dass er auf Befragung durch die Polizei nach dem Grund des Unfalls verschiedene und unschlüssige Ursachen benannte und auch nach Einschätzung seiner Freundin „neben der Spur“ zu sein schien. Diese schätzte die gesundheitliche Lage augenscheinlich als so kritisch ein, dass sie es für erforderlich hielt, den Notarzt zu rufen, nachdem der Hausarzt und der ärztliche Bereitschaftsdienst nicht sofort erreichbar waren.
Für den Unfall kamen somit mehrere Ursachen in Betracht, auch ein Zusammenhang mit den vom Hausarzt diagnostizierten Erkrankungen. So kann Vorhofflimmern kurzzeitige Bewusstlosigkeit zur Folge haben. Beschwerden bei chronischer Nierenkrankheit können unter anderem auch in Konzentrationsstörungen, Verwirrtheit, Bewusstseinsstörungen bis hin zur Bewusstlosigkeit bestehen. Herzleistungsschwäche durch angeborene oder erworbene Herzfehler oder sonstige Ursachen kann nach Nr. 4.5 der Anlage 4 zur FeV in bestimmten Erscheinungsformen die Fahreignung ausschließen. Ebenso begründen Herzrhythmusstörungen (sogenanntes Vorhofflimmern) nach Nr. 4.1.1 und 4.1.2 unter Umständen Bedenken gegen die Fahreignung. Auch Nierenerkrankungen wie eine chronische Niereninsuffizienz sind nach Nr. 10 der Anlage 4 zur FeV von fahreignungsrechtlicher Relevanz. Das hausärztliche Attest vom 22. August 2020 enthält keine näheren Angaben zu den Krankheitsbildern, sodass sich eine fahreignungsbeeinträchtigende Störung allein aufgrund des Hausarztattestes nicht ausschließen ließ.
Die Gutachtensaufforderung vom 12. Oktober 2020 war somit rechtmäßig, da die Fahrerlaubnisbehörde auch und gerade nach Vorlage des hausärztlichen Attests eine weitere Aufklärung für erforderlich halten durfte. Bei Erlass der Gutachtensaufforderung lagen ausreichend Tatsachen vor, die geeignet waren, Bedenken gegen die Fahreignung des Antragstellers zu begründen. Es verblieben eine Reihe von Restzweifeln hinsichtlich der Fahreignung, sodass die ursprünglichen Bedenken nicht eindeutig widerlegt waren. Die Fahrerlaubnisbehörde war deshalb nicht verpflichtet weiter der Frage nachzugehen, ob sich der Antragsteller nach dem Unfall am 13. Juni 2020 in einem „geistigen Ausnahmezustand“ oder „etwas neben der Spur“ befand. Auch kommt es im Zusammenhang mit den fahreignungsrelevanten Erkrankungen nicht darauf an, ob die Polizei irrtümlich von einem weiteren Unfall ausgegangen ist. Auch vom Antragsteller wird nicht bestritten, dass es zu einem Unfall ohne Fremdeinwirkung gekommen ist, dessen Hergang er nicht erklären konnte.
Weiter genügt die Gutachtensanforderung auch den an sie zu stellenden Anforderungen hinsichtlich der Anlassbezogenheit der Fragestellung nach § 11 Abs. 6 Sätze 1 und 2 FeV. Danach soll der Betroffene durch die Darlegung der Gründe, die Zweifel an der Fahreignung begründen, ebenso wie durch die Mitteilung der Fragestellung bereits in der an ihn gerichteten Beibringungsanordnung in die Lage versetzt werden, sich ein Urteil darüber zu bilden, ob die Aufforderung zu dessen Beibringung rechtmäßig insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig ist. Sowohl durch die Gutachtensanordnung als auch durch den vorangegangenen Austausch mit der Behörde hatte der Antragsteller die Möglichkeit, sich ein Urteil über die Gründe für die Zweifel an seiner Fahreignung und der Rechtmäßigkeit der Beibringungsanordnung zu bilden.
Die Entziehung der Fahrerlaubnis konnte somit auf § 11 Abs. 8 FeV gestützt werden, da der Antragsteller das formell und materiell rechtmäßig angeforderte Gutachten trotz Fristverlängerung nicht vorgelegte. Angesichts der Gefahren für Leben, körperliche Unversehrtheit und Eigentum anderer Verkehrsteilnehmer durch fahrungeeignete Personen kann eine vorläufige Teilnahme am Straßenverkehr auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit verantwortet werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob es dabei je zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen gekommen oder der Antragsteller über die genannten Ereignisse hinaus im Straßenverkehr je aufgefallen ist. Nach ständiger obergerichtlicher Rechtsprechung ist bei Kraftfahrern, denen die erforderliche Eignung zum Führen eines Kraftfahrzeugs fehlt, das Erlassinteresse regelmäßig mit dem Vollzugsinteresse identisch – s.o. unter 1. (vgl. BayVGH, B.v. 4.7.2019 – 11 CS 19.1041 – juris Rn. 16; B.v. 14.9.2016 – 11 CS 16.1467 – juris Rn. 13 m.w.N.; SächsOVG, B.v. 10.12.2014 – 3 B 148/14 – juris Rn. 6; OVG NW, B.v. 14.11.2014 – 16 B 1195/14 – juris Rn. 3; VGH BW, B.v. 20.9.2011 – 10 S 625/11 – juris Rn. 4; Hoppe in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 80 Rn. 55, 46).
3. Somit ist auch die – auf die Entziehung gestützte – Anordnung zur Ablieferung des Führerscheins in Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheids nach § 3 Abs. 2 Satz 3 StVG in Verbindung mit § 47 Abs. 1 Satz 1 und 2 FeV rechtmäßig und verletzt den Antragsteller nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes – GKG – i.V.m. den Empfehlungen in den Nrn. 46.3, 46.5, 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (abgedruckt in Kopp/Schenke, VwGO, 27. Aufl. 2021, Anh. § 164).


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