Medizinrecht

Inobhutnahme bei medizinischer Altersfeststellung ohne eindeutiges Ergebnis

Aktenzeichen  M 18 E 16.797

Datum:
18.5.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 123 Abs. 1 S. 2
SGB VIII SGB VIII § 42a, § 42f Abs. 1, Abs. 2
RL 2013/32/EU Art. 25 Abs. 5

 

Leitsatz

Bleibt das tatsächliche Alter nach Ausschöpfung aller Erkenntnismöglichkeiten (hier: widersprechende ärztliche und zahnärztliche Untersuchungen) unklar, ist von der Minderjährigkeit auszugehen, so dass der Betroffene vom Jugendamt in Obhut genommen werden muss. (redaktioneller Leitsatz)
Sowohl der eidesstattlichen Versicherung eines Angehörigen als auch dem afghanischen Identitätsdokument (“Tazkira”) kommen nur begrenzte Bedeutung bei der Altersfeststellung zu.  (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, den Antragsteller einstweilen in Obhut zu nehmen und in einer geeigneten Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung unterzubringen.
II.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Der Antragssteller ist nach eigenen Angaben afghanischer Staatsangehöriger und am … Februar 2001 geboren.
Am 15. Februar 2016 führten Mitarbeiter der Antragsgegnerin mit dem Antragsteller ein Alterseinschätzungsgespräch durch. Bei diesem Gespräch war auch ein seit sechzehn Jahren in Deutschland lebender Bruder des Antragstellers zugegen. Die Mitarbeiter der Antragsgegnerin kamen aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes, des gezeigten Verhaltens sowie der durch den Antragsteller gemachten Angaben zu dem Ergebnis, dass der Antragsteller zweifelsfrei volljährig sei.
Mit Bescheid vom 15. Februar 2016 lehnte die Antragsgegnerin eine Inobhutnahme des Antragstellers ab.
Mit Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom …. Februar 2016, der am 19. Februar 2016 bei Gericht einging, ließ der Antragsteller Klage gegen den Bescheid vom 15. Februar 2016 erheben (M 18 K 16.796). Mit weiterem Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom …. Februar 2016, der ebenfalls am 19. Februar 2016 bei Gericht einging, ließ der Antragsteller weiter beantragen,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Antragsteller bis zur endgültigen Klärung seines Alters in Obhut zu nehmen und in einer jugendgerechten Einrichtung unterzubringen.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Alterseinschätzung sei fehlerhaft, da eine medizinische Untersuchung nicht stattgefunden habe. Es handle sich um einen Zweifelsfall, so dass der Antragssteller bis zur Klärung als Jugendlicher behandelt und in Obhut genommen werden müsse.
Mit an die Antragsgegnerin gerichteten Schreiben beantragten die Bevollmächtigten des Antragstellers, zur Altersbestimmung gemäß § 42f Abs. 2 SGB VIII eine ärztliche Untersuchung zu veranlassen.
Ein ärztlicher Untersuchungsbericht vom …. März 2016 für den Antragsteller kommt zu dem Ergebnis, dass aufgrund des körperlichen Untersuchungsbefundes (u. a. Habitus, Ausprägung der Muskulatur, der Mimik, der Behaarung, der Haut und der Gelenke) und der Befragung mit Anamnese die Einschätzung getroffen werde, dass das Alter des Antragstellers deutlich über 18 Jahren sein müsste. Nach einem zahnärztlichen Gutachten über den Antragsteller vom …. April 2016 ist der Zahnwechsel von Milchgebiss auf Erwachsenengebiss nur teilweise abgeschlossen. Auf Grundlage der vorliegenden gesamten Gebisssituation ergebe sich eine Alterseingrenzung zwischen dem 15. und 16. Lebensjahr, da der Zahndurchbruch noch nicht vollständig abgeschlossen sei.
Mit Schriftsatz vom 18. April 2016 beantragte die Antragsgegnerin,
den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.
Zur Begründung wurde vorgebracht, die Tatbestandsvoraussetzungen des § 42a SGB VIII für eine (vorläufige) Inobhutnahme läge nicht vor. Das zunächst durchgeführte Alterseinschätzungsverfahren nach § 42f Abs. 1 SGB VIII habe die Volljährigkeit des Antragstellers ergeben. In der Folge sei dann eine ärztliche Untersuchung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII veranlasst worden. Das zahnärztliche Untersuchungsgutachten sei aus Sicht der Antragsgegnerin nicht aussagekräftig, da der vollständige Zahndurchbruch medizinisch nicht genau bestimmt werden könne. Das ärztliche Gutachten vom …. März 2016, welches zum Ergebnis komme, dass der Antragsteller deutlich über 18 Jahren sein müsse, erstrecke sich anders als das zahnärztliche Gutachten auf mehrere körperliche Merkmale. Es müsse daher von der Volljährigkeit des Antragstellers ausgegangen werden.
Mit Schriftsatz vom …. Mai 2016 legten die Bevollmächtigten des Antragstellers eine eidesstattliche Versicherung des Bruders des Antragstellers vom …. April 2016, wonach der Antragsteller am … Februar 2001 geboren ist, sowie die Kopie einer Tazkira im Original und in deutscher Übersetzung vor. Im Übrigen wurde zu den vorliegenden ärztlichen Begutachtungsergebnissen Stellung genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten sowie die vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
Der Antrag hat in der Sache Erfolg.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Voraussetzung ist, dass der Antragsteller das von ihm behauptete streitige Recht (den Anordnungsanspruch) und die drohenden Gefahr seiner Beeinträchtigung (den Anordnungsgrund) glaubhaft macht, § 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO. Maßgebend sind dabei die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
Der Antragsteller hat sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft machen können.
1. Dem Antragsteller steht ein Anordnungsanspruch zur Seite.
Nach § 42a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, ein ausländisches Kind oder einen ausländischen Jugendlichen vorläufig in Obhut zu nehmen, sobald dessen unbegleitete Einreise nach Deutschland festgestellt wird. Nach § 42a Abs. 1 Satz 2, § 42 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII umfasst die Inobhutnahme die Befugnis, ein Kind oder einen Jugendlichen bei einer geeigneten Person, in einer geeigneten Einrichtung oder in einer sonstigen Wohnform vorläufig unterzubringen.
Anspruchsberechtigt nach den vorgenannten Normen sind ausschließlich Kinder und Jugendliche. Eine Inobhutnahme Volljähriger wäre rechtswidrig (vgl. BayVGH v. 23.9.2014 Az. 12 CE 14.1833 – juris, Rn. 21). Nach § 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII ist im Sinne des SGB VIII Jugendlicher wer 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist.
Hinsichtlich des Alterseinschätzungsverfahren regelt § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII, dass das Jugendamt im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme der ausländischen Person gemäß § 42a SGB VIII deren Minderjährigkeit durch Einsichtnahme in deren Ausweispapiere festzustellen oder hilfsweise mittels einer qualifizierten Inaugenscheinnahme einzuschätzen und festzustellen hat. Nach § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII hat das Jugendamt auf Antrag des Betroffenen oder seines Vertreters oder von Amts wegen in Zweifelsfällen eine ärztliche Untersuchung zu Altersbestimmung zu veranlassen.
Vorliegend ist die Antragsgegnerin offensichtlich von einem Zweifelsfall im Sinn von § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII ausgegangen. Ein Zweifelsfall ist im Rahmen dieser Norm auch dann Voraussetzung für eine ärztliche Untersuchung, wenn ein Antrag des Betroffenen oder seines Vertreters vorliegt. Diese ergibt sich aus der Gesetzesbegründung (BT- Drs 18/6392 S.20), wonach in Zweifelsfällen die betroffene Person oder ihr Vertreter berechtigt sein soll, einen Antrag auf Bestimmung des Alters der betroffenen Person zu stellen. In den Fällen, in denen zwar ein entsprechender Antrag vorliegt, aber kein Zweifelsfall gegeben ist, sind die Voraussetzungen für eine ärztliche Untersuchung nach § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII damit nicht gegeben.
Der Gesetzgeber hat es unterlassen, im Rahmen der Regelung des § 42f SGB VIII über das behördliche Verfahren zur Altersfeststellung eine Regelung dahingehend aufzunehmen, wie in den Fällen zu entscheiden ist, in denen das tatsächliche Alter auch nach Ausschöpfung aller Erkenntnismöglichkeiten unklar bleibt. Der nationale Gesetzgeber wäre insofern aber auch durch Art. 25 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32/EU, die seit dem 21. Juli 2015 in Kraft ist, gebunden. Nach Satz 1 dieser Norm können die Mitgliedstaaten im Rahmen der Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz ärztliche Untersuchungen des Alters unbegleiteter Minderjähriger durchführen lassen, wenn aufgrund allgemeiner Aussagen oder anderer einschlägiger Hinweise Zweifel bezüglich des Alters des Antragstellers bestehen. Nach Satz 2 der Norm gehen die Mitgliedstaaten, wenn diese Zweifel bezüglich des Alters des Antragstellers danach fortbestehen, davon aus, dass der Antragsteller minderjährig ist.
Aus diesen rechtlichen Vorgaben in Kombination mit den vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen folgt, dass beim Antragsteller von Minderjährigkeit auszugehen ist und somit die Inobhutnahmevoraussetzungen vorliegen.
Der ärztliche Untersuchungsbericht vom …. März 2016 und das zahnärztliche Gutachten vom …. April 2016 zeigen kein einheitliches Ergebnis, sondern widersprechen sich vielmehr grundsätzlich. Der ärztliche Untersuchungsbericht geht von einem Alter deutlich über 18 Jahren aus, das zahnärztliche Gutachten von einem Alter zwischen dem 15. und 16. Lebensjahr. Eine „Schnittmenge“ zwischen den beiden Alterseinschätzungen besteht nicht. Es kann insoweit auch nicht der Auffassung der Antragsgegnerin gefolgt werden, dem ärztlichen Untersuchungsbericht vom …. März 2016 den Vorrang einzuräumen, da sich dieser Bericht anders als das zahnärztliche Gutachten auf mehrere körperliche Merkmale erstrecke. Es ist vielmehr umgekehrt so, dass das zahnärztliche Gutachten aus sich selbst heraus ohne Erläuterung durch den Gutachter nachvollzogen werden kann, der ärztliche Untersuchungsbericht aber lediglich abstrakt die Untersuchungsparameter beschreibt, ohne darzustellen, welche Feststellung zu welchem Parameter getroffen wurde. Ohne ergänzende Erläuterung durch den Berichtsersteller ist der Untersuchungsbericht vom …. März 2016 für das Gericht daher nicht nachvollziehbar.
Für das Eilverfahren ist nach alledem schon aufgrund der vorgenannten Umstände von der Minderjährigkeit des Antragstellers auszugehen.
Es kommt damit nicht mehr darauf an, ob zur Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs die vorgelegte eidesstattliche Versicherung des Bruders des Antragstellers genügen würde. Zwar ist nach § 173 VwGO i. V. m. § 294 Abs. 1 ZPO auch eine eidesstattliche Versicherung als Mittel der Glaubhaftmachung geeignet. Ob für die Glaubhaftmachung der Minderjährigkeit auch eine eidesstattliche Versicherung, die sich ausschließlich auf das Geburtsdatum bezieht ohne darzulegen, aufgrund welcher Umstände dieses konkrete Datum erinnerlich ist, ausreichend ist, kann für das vorliegende Verfahren offen bleiben.
Kein eigener Erkenntniswert kommt jedenfalls der in Kopie des Originals sowie in deutscher Übersetzung vorgelegten Tazkira zu. Das afghanische Personenstandswesen bietet keine Gewähr für die Richtigkeit des in einer vorgelegten Tazkira angegebenen „Geburtsdatums“ (vgl. OVG NRW v. 29.9 2014 Az. 12 B 923/14 – juris, Rn. 11ff.).
2. Der Antragsteller konnte auch den erforderlichen Anordnungsgrund darlegen.
Der Antragsteller kann nicht darauf verwiesen werden, in einer Asylbewerberunterkunft für Erwachsene zu verbleiben, da eine Unterbringung dort und eine solche in einer Jugendhilfeeinrichtung oder ein einer Pflegefamilie nicht annähernd gleichwertig sind ( BayVGH v. 23.9.2014 a. a. O., Rn. 27).
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Das Verfahren ist nach § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.


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