Medizinrecht

Kein Abschiebungsverbot nach Algerien aufgrund einer Erkrankung an Multipler Sklerose

Aktenzeichen  W 8 S 19.31241

Datum:
5.7.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 16492
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5
AsylG § 30, § 36 Abs. 4 S. 1, § 77 Abs. 2
AufenthG § 60 Abs. 7, § 60a Abs. 2c

 

Leitsatz

1 Vollziehbar ausreisepflichtige chronisch Erkrankte haben keinen Anspruch auf eine optimale Behandlung ihrer Erkrankung. Dies gilt insbesondere auch für eine etwaige Behandlung der Folgeerkrankungen. Selbst wenn die Qualität der Medikamente und der Behandlung der Erkrankung im Heimatland hinter der in Deutschland zurückbleibt, verschafft dies kein Bleiberecht in Deutschland. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
2 Eine nach § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG erforderliche erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur bei lebensbedrohlichen und schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlichen verschlechtern würden. Konkret ist die durch eine Krankheit verursachte Gefahr, wenn die gravierende Verschlechterung des Gesundheitszustands alsbald nach Abschiebung in den Zielstaat eintreten würde, weil eine adäquate Behandlung dort nicht möglich ist (Anschluss an BVerwG NVwZ 2007, 712 Rn. 15). (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Der Antragsteller ist algerischer Staatsangehöriger. Die Antragsgegnerin lehnte seinen Asylantrag mit Bescheid vom 24. Juni 2019 als offensichtlich unbegründet ab und drohte ihm die Abschiebung nach Algerien an.
Der Antragsteller erhob zu Protokoll des Urkundsbeamten am 3. Juli 2019 im Verfahren W 8 K 19.31240 Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid und beantragte gleichzeitig im vorliegenden Sofortverfahren:
Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung wird angeordnet.
Zur Antragsbegründung verwies der Antragsteller auf die Anhörung beim Bundesamt und führte weiter im Wesentlichen aus: Er sei wegen seiner komplizierten Erkrankung in Schweinfurt schon bei einer Neurologin gewesen. Bei dieser Ärztin stünden noch Gewebe-, Blut- und andere Untersuchungen aus, um eine genauere Diagnose stellen zu können. Für diese Untersuchungen habe er allerdings bisher noch keinen Termin erhalten. Er werde sich aber zeitnah darum bemühen. Den durch das Bundesamt gesetzten Termin für die Vorlage eines Attestes habe er bisher nicht wahrgenommen, weil er nicht über die hierfür erforderlichen finanziellen Mittel verfüge. Er werde sich noch einmal an die Caritas wenden, ob von dort eine Kostenübernahme möglich sei.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte (einschließlich der Akte in der Hauptsache W 8 K 19.31240) und die beigezogenen Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag ist zulässig, aber unbegründet.
Der Antrag, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung im Bescheid des Bundesamts vom 24. Juni 2019 anzuordnen, hat keinen Erfolg. Der Antrag ist unbegründet, da insoweit keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides bestehen (§ 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG).
Das Gericht folgt den Feststellungen und der Begründung im angefochtenen Bescheid und sieht zur Vermeidung von Wiederholungen von einer nochmaligen Darstellung ab (§ 77 Abs. 2 AsylG). Die Ausführungen im Bescheid decken sich mit der bestehenden Erkenntnislage, insbesondere mit dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes (Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Demokratischen Volksrepublik Algerien vom 25.6.2019, Stand: Mai 2019; vgl. ebenso Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport 3, Algerien, November 2018; BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Algerien vom 12.3.2018).
Das Vorbringen des Antragstellers rechtfertigt keine andere Beurteilung. Die angesprochene persönliche Situation ist offensichtlich (vgl. § 30 AsylG) nicht asyl-, flüchtlings- oder sonst schutzrelevant, wie die Antragsgegnerin im streitgegenständlichen Bescheid zutreffend ausgeführt hat. Denn nach dem eigenen Sachvortrag des Antragstellers waren wesentlicher Ausreisegrund seine gesundheitlichen Probleme, konkret seine Erkrankung an Multipler Sklerose (MS).
Des Weiteren liegen keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor. Auch insofern wird auf die zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Bescheid, die sich das Gericht zu Eigen macht, Bezug genommen und von einer weiteren Darstellung abgesehen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
Die Behandlung von Erkrankungen – der Antragsteller macht insbesondere geltend: Multiple Sklerose (MS) – ist in Algerien gewährleistet. Denn nach der vorliegenden Erkenntnislage ist die medizinische Grundversorgung mit einem für die Bürger weitgehend kostenlosen Gesundheitssystem auf niedrigem Niveau sichergestellt. Der Standard in öffentlichen Krankenhäusern entspricht oft nicht europäischem Niveau. Krankenhäuser, in denen schwierige Operationen durchgeführt werden können, existieren in jeder größeren Stadt; besser ausgestattete Krankenhäuser gibt es in den medizinischen Fakultäten von Algier, Oran, Annaba und Constantine. Häufig auftretende chronische Krankheiten wie Diabetes, Krebs, Tuberkulose, Herz- und Kreislaufbeschwerden, Geschlechtskrankheiten und psychische Erkrankungen können auch in anderen staatlichen medizinischen Einrichtungen behandelt werden. AIDS-Patienten werden in sechs Zentren behandelt. Die Versorgung mit Standard-Medikamenten ist zumindest in den Städten gewährleistet. Für mehrere Medikamente und medizinische Geräte ist der Import verboten, um die algerische Produktion zu stärken. Obwohl viele Medikamente als lokal produzierte Generika verfügbar sind, kommt es immer noch zu Presseberichten über einen Mangel an bestimmten Medikamenten in den Apotheken. Die Sozial- und Krankenversicherungen ermöglichen staatlichen Krankenhäusern eine grundsätzlich kostenlose, in privaten Einrichtungen eine kostenrückerstattungsfähige ärztliche Behandlung. Immer häufiger ist jedoch ein Eigenanteil zu übernehmen. Algerier, die nach jahrelanger Abwesenheit aus dem Ausland zurückgeführt werden, sind nicht mehr gesetzlich sozialversichert und müssen daher sämtliche Kosten selbst übernehmen, sofern sie nicht als Kinder oder Ehegatten oder von Versicherten erneut bei der Versicherung eingeschrieben werden oder selbst einer versicherungspflichtigen Arbeit nachgehen. Die staatliche medizinische Betreuung in Krankenhäusern steht auch Nichtversicherten beinahe kostenfrei zur Verfügung (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Demokratischen Volksrepublik Algerien vom 25.6.2019, Stand: Mai 2019, S. 20 f.; BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Algerien vom 12.3.2018 S. 25 ff.).
Erkrankungen rechtfertigen zudem grundsätzlich nicht die Annahme einer Gefahrenlage im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, wie der Gesetzgeber mittlerweile ausdrücklich klargestellt hat. Eine erheblich konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung unmittelbar wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist (vgl. § 60 Abs. 7 Sätze 2 bis 4 AufenthG). Neben diesen materiellen Kriterien hat der Gesetzgeber zudem in § 60a Abs. 2c AufenthG prozedurale Vorgaben für ärztliche Atteste zur hinreichenden Substantiierung des betreffenden Vorbringens aufgestellt (vgl. Kluth, ZAR 2016, 121; Thym, NVwZ 2016, 409 jeweils mit Nachweisen zur Rechtsprechung). Der Ausländer bzw. die Ausländerin muss eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen.
An einer solchen qualifizierten ärztlichen Bescheinigung fehlt es im vorliegenden Fall. Abgesehen von älteren ärztlichen Bescheinigungen aus seinem Heimatland hat der Antragsteller keine aktuellen ärztlichen Atteste vorgelegt, geschweige denn eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung nach § 60a Abs. 2c AufenthG. Mangels gegenteiliger aussagekräftiger Unterlagen sind keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen ersichtlich, wonach bei einer Rückkehr in die Heimat eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen bestünde. Auch unabhängig davon, dass eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung nicht vorgelegt wurde, ist nach den vorliegenden Erkenntnissen sowie dem Vorbringen des Antragstellers und den vorgelegten Unterlagen nicht ersichtlich, dass die Erkrankungen des Antragstellers – wie auch schon früher – nicht auch in Algerien behandelt bzw. weiter behandelt werden könnten. Denn den vorgelegten ärztlichen Unterlagen aus der Heimat ist zu entnehmen, dass der Antragsteller wegen seiner Erkrankungen bereits in Algerien behandelt worden ist und auch entsprechende Medikamente erhalten hat. Aus den vorliegenden ärztlichen Unterlagen lässt sich auch nicht entnehmen, dass gegenwärtig eine Rückkehr nach Algerien aus medizinischen Gründen unzumutbar wäre, weil sich etwaige lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankungen durch die Abschiebung unmittelbar wesentlich verschlechtern würden.
Die gesundheitliche Situation und die Möglichkeiten der medizinischen Versorgung des Antragstellers stellen sich bei einer Rückkehr nach Algerien auch nicht anders dar wie vor der Ausreise und wie bei zahlreichen anderen Landsleuten in vergleichbarer Lage.
Selbst wenn die Behandlungsmöglichkeiten in Algerien schlechter sein mögen als in der Bundesrepublik Deutschland, bleibt festzuhalten, dass eventuell alsbald und mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden wesentlichen bzw. lebensbedrohenden Gesundheitsverschlechterungen im Rahmen des algerischen Gesundheitssystems begegnet werden kann und muss. Der Antragsteller ist gehalten, sowohl die Möglichkeiten des algerischen Gesundheitssowie Sozialsystems auszuschöpfen, als auch gegebenenfalls auf private Hilfemöglichkeiten, etwa durch Verwandte oder Hilfsorganisationen, zurückzugreifen, um eventuelle Gesundheitsgefahren zu vermeiden bzw. jedenfalls zu minimieren. Der Antragsteller ist bei einer Rückkehr nach Algerien nicht auf sich allein gestellt bzw. nicht allein und ohne Unterstützung; vielmehr kann er gegebenenfalls auch auf seine (Groß-) Familie zurückgreifen. Der Antragsteller verfügt über Verwandte, die ihn, wie zuvor, unterstützen können. Nach seinen Angaben hat er in Algerien in einer Eigentumswohnung seiner Eltern gewohnt. In seiner Heimat leben noch seine Mutter, seine minderjährige Schwester und seine beiden volljährigen Brüder. Des Weiteren hat er noch verschiedene Onkeln und Tanten.
Letztlich muss sich der Antragsteller grundsätzlich auf den in seinem Heimatstaat vorhandenen Versorgungsstandard im Gesundheitswesen verweisen lassen. Chronisch Erkrankte haben keinen Anspruch auf eine optimale Behandlung ihrer Erkrankung. Dies gilt insbesondere auch für eine etwaige Behandlung der Folgeerkrankungen. Der Verweis auf den Standard im Heimatland gilt nicht nur für die Grunderkrankung, sondern auch für die Folgeerkrankungen einschließlich der dafür erforderlichen Medikation. Ein Anspruch auf eine optimale Behandlung besteht nicht. Selbst wenn die Qualität der Medikamente und der Behandlung der Erkrankung des Antragstellers hinter der in Deutschland zurückbleibt, verschafft dies dem Antragsteller nicht ein Bleiberecht in Deutschland.
Schließlich ist noch zu betonen, dass nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur bei lebensbedrohlichen und schwerwiegenden Erkrankungen vorliegt, die sich durch die Abschiebung wesentlichen verschlechtern würden. Konkret ist die durch eine Krankheit verursachte Gefahr, wenn die gravierende Verschlechterung des Gesundheitszustands alsbald nach Abschiebung in den Zielstaat eintreten würde, weil eine adäquate Behandlung dort nicht möglich ist (BVerwG, U.v. 17.10.2006 – 1 C 18/05 – BVerwGE 127, 33). Für die Annahme einer solchen unmittelbar eintretenden Gefahr fehlen greifbare Anhaltspunkte, wenn sich der Antragsteller den Möglichkeiten des algerischen Gesundheitssystems unterwirft.
Im Ergebnis begründet die Erkrankung des Antragstellers kein Abschiebungsverbot, zumal er schon in der Vergangenheit medikamentös in Algerien behandelt worden ist und bei einer Rückkehr in sein Heimatland erforderlichenfalls von der Ausländerbehörde die zur Überwindung von Übergangsschwierigkeiten erforderlichen Medikamente für einen gewissen Zeitraum zur Verfügung gestellt bekommen kann (ebenso VG Magdeburg, U.v. 6.12.2018 – 8 A 206/18 – juris m.w.N.; vgl. auch VG Köln, B.v. 24.8.2016 – 3 L 1612/16.A – juris).
Das Gericht hat des Weiteren keine durchgreifenden Zweifel, dass dem Antragsteller im Anschluss an seiner Rückkehr die Sicherung seiner wirtschaftlichen Existenz möglich sein wird. Dem Antragsteller ist es zuzumuten, sich eine Arbeit zu suchen, bzw. es besteht die Möglichkeit der Unterstützung von noch in Algerien lebenden Familienmitgliedern, so dass er sich jedenfalls sein Existenzminimum sichern kann. Gegenteiliges folgt auch nicht aus der wirtschaftlichen und sozialen Lage Algeriens, wie auch das Bundesamt im streitgegenständlichen Bescheid ausgeführt hat. In Algerien ist die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und auch die medizinische Grundversorgung gewährleistet (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Demokratischen Volksrepublik Algerien vom 25.6.2019, Stand: Mai 2019, S. 8 f., 20 f.; BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Algerien vom 12.3.2018, S. 24 ff.). Der Antragsteller ist noch jung und erwerbsfähig; ihm ist – trotz seiner Erkrankung wie in der Vergangenheit – zuzumuten, zur Sicherung seines Existenzminimums den notwendigen Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeit zu verdienen bzw. gegebenenfalls auf die Unterstützung durch Familienangehörige der in Algerien noch lebenden (Groß-)Familie zurückzugreifen. Letztlich ist dem Antragsteller eine (Re-)Integration in die Lebensverhältnisse seines Heimatstaates möglich und zumutbar (im Ergebnis ebenso BVerwG, U.v. 15.4.2019 – 1 C 46/18 – juris; U.v. 27.3.2018 – 1 A 5/17 – juris; VG Stade, U.v. 1.4.2019 – 3 A 32/18 – Milo; VG Magdeburg, U.v. 6.12.2018 – 8 A 206/18 – juris; VG Minden, U.v. 28.3.2017 – 10 K 883/16.A – juris; U.v. 22.8.2016 – 10 K 821/16.A – juris; VG Köln, B.v. 24.8.2016 – 3 L 1612/16.A – juris).
Der Antrag war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).


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