Medizinrecht

Kein Anspruch auf Erteilung einer Duldung oder Aussetzung der Abschiebung wegen psychischer Erkrankung

Aktenzeichen  10 CE 19.704

Datum:
25.6.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 15141
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1, Abs. 2c S. 1
VwGO § 123 Abs. 3, § 146 Abs. 4
ZPO § 920 Abs. 2

 

Leitsatz

1. Die Neutralität und Unabhängigkeit des Amtsarztes verleiht, neben dem speziellen Sachverstand, dessen Beurteilung gegenüber derjenigen widersprechender ärztlicher Privatgutachten bzw. -atteste ein höheres Gewicht. Dies gilt vor allem dann, wenn der Amtsarzt auf die Erwägungen dieser Gutachten oder Atteste eingeht und nachvollziehbar darlegt, warum er ihnen nicht folgt (Rn. 9). (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Frage, ob das Vorbringen des Betroffenen zu einem belastenden Ereignis glaubhaft ist, ist nicht Gegenstand eines psychiatrischen Fachgutachtens zum Vorliegen einer Posttraumatischen Belastungsstörung, sondern ausschließlich Sache des Tatrichters (Rn. 9). (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 25 E 19.1072 2019-03-26 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Mit ihrer Beschwerde verfolgen die Antragsteller ihren in erster Instanz erfolglosen Antrag weiter, den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihnen eine Duldung zu erteilen, hilfsweise dem Antragsgegner zu untersagen, sie abzuschieben.
Das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz im Wesentlichen mit der Begründung abgelehnt, die Antragstellerin zu 2) habe keinen Anspruch auf Erteilung einer Duldung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Weder sei sie wegen ihrer Erkrankung transportunfähig, noch bedeute für sie die Abschiebung – außerhalb des eigentlichen Transportvorgangs – eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr. Das amtsärztliche Gutachten von Herrn R. vom 16. Januar 2019 komme zu dem überzeugenden Ergebnis, dass die Antragstellerin zu 2) trotz der vorliegenden Erkrankungen (rezidivierende depressive Störung, Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, histrionische Persönlichkeitszüge und deutliche Zweckreaktion mit ausgeprägt demonstrativem Verhalten) im vollem Umfang reise- und transportfähig sei. Auch sei durch die Rückführung keine schwerwiegende Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes zu befürchten; eventuellen suizidalen Handlungen, die als Zweckreaktion gegen die Rückführung einzuschätzen seien, könne durch entsprechende Sicherungsmaßnahmen bei der Rückführung (Bewachung und ärztliche Begleitung) begegnet werden. Das Ergebnis der amtsärztlichen Begutachtung vom 16. Januar 2019 sei angesichts der im Verfahren vorgelegten Privatgutachten aus dem Jahr 2018 nicht in Zweifel zu ziehen. Demgemäß hätten auch die weiteren Antragsteller unter Berücksichtigung von Art. 6 GG keinen Anspruch auf Duldung; eigene Duldungsgründe dieser Antragsteller seien weder vorgetragen noch ersichtlich.
Zur Begründung ihrer Beschwerde haben die Antragsteller das psychiatrische Gutachten des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie T. B. vom 10. April 2019 vorgelegt. Darin werden bei der Antragstellerin zu 2) die Diagnosen rezidivierende depressive Störung, derzeit schwere Episode, komplexe posttraumatische Belastungsstörung, andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung sowie unklares Gebärmuttermalignom getroffen. Unter Berücksichtigung der bzw. in Auseinandersetzung mit den über die Antragstellerin zu 2) bereits vorliegenden Untersuchungsberichten, ärztlichen Gutachten und Attesten kommt das Gutachten vom 10. April 2019 zu der Einschätzung, dass bei der Antragstellerin zu 2) von einer Reiseunfähigkeit nach § 60a Abs. 2 AufenthG sowohl im engeren Sinn (unmittelbar bei der Durchführung einer Abschiebung) aufgrund mit großer Wahrscheinlichkeit drohender selbstschädigender und suizidaler Handlungen als auch im weiteren Sinn aufgrund der im Herkunftsland zu erwartenden generellen Verschlechterung des Zustandes mit massiv beeinträchtigenden Folgen auszugehen sei.
Der Antragsgegner tritt der Beschwerde unter Vorlage eines ärztlichen Berichts des Dr. R.W. vom 23. April 2019 zum bei den Antragstellern durchgeführten Abschiebeversuch am 5. April 2019 sowie einer ergänzenden ärztlichen Stellungnahme des Facharztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie sowie forensische Psychiatrie R. vom 20. Mai 2019 zu seinem Gutachten vom 16. Januar 2019 entgegen. Danach sei bei der Antragstellerin zu 2) nicht von einer Reiseunfähigkeit auszugehen.
II.
Die Beschwerde ist ungeachtet der Frage, ob sie überhaupt den Begründungsanforderungen gemäß § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO genügt, jedenfalls unbegründet. Die mit der Beschwerde geltend gemachten gesundheitlichen Gründe bei der Antragstellerin zu 2) rechtfertigen es nicht, die Entscheidung des Verwaltungsgerichts abzuändern oder aufzuheben. Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Antragsteller einen Anordnungsanspruch auf Aussetzung der Abschiebung bzw. auf Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG nicht in einer den Anforderungen des § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO genügenden Weise glaubhaft gemacht haben.
Die vor allem auf das amtsärztliche Gutachten vom 16. Januar 2019 gestützte Annahme des Verwaltungsgerichts, bei der Antragstellerin zu 2) liege weder ein Fall einer Reiseunfähigkeit im engeren Sinn (Transportunfähigkeit) noch einer Reiseunfähigkeit im weiteren Sinn (durch eine drohende wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes unmittelbar durch die Abschiebung selbst, vgl. z.B. BayVGH, B.v. 26.11.2018 – 19 C 18.54 – juris Rn. 19 m.w. Rsprnachweisen) vor, ist durch das im Beschwerdeverfahren vorgelegte, im Auftrag der Bevollmächtigten der Antragsteller erstellte psychiatrische Gutachten vom 10. April 2019 weder widerlegt noch durchgreifend infrage gestellt. Denn sowohl die darin bei der Antragstellerin zu 2) getroffenen Diagnosen als auch insbesondere die auf dieser Grundlage durch den Gutachter festgestellte Reiseunfähigkeit unterliegen methodisch und fachlich durchgreifenden Bedenken. Diese Mängel des Privatgutachtens vom 10. April 2019 werden durch den ärztlichen Bericht zur Abschiebeaktion der Familie T. (Antragsteller) am 5. April 2019 und die ergänzende amtsärztliche Stellungnahme vom 20. Mai 2019, die durch den Antragsgegner mit der Beschwerdeerwiderung vorgelegt worden sind, in nachvollziehbarer und überzeugender Weise aufgezeigt. Demgemäß ist die gesetzliche Vermutung nach § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG nicht widerlegt.
Im ärztlichen Bericht des Dr. R.W. über den Ablauf der von ihm als Arzt begleiteten Abschiebeaktion am 5. April 2019 wird im Einzelnen geschildert, dass während der gesamten sich über den Tag hinziehenden Aktion „keine Verhaltensauffälligkeiten“, sondern vielmehr ein „mitwirkendes Verhalten“ der Antragstellerin zu 2) zu beobachten gewesen sei, das „die Aussagen aller Gutachten (Ausnahme R.) hinsichtlich des Absprechens von Alltagskompetenz ad absurdum führen“ würde. Auch im psychiatrischen Gutachten vom 10. April 2019 wird vom Gutachter T. B. die angeblich „schon seit ca. 17 Jahren massiv veränderte Handlungskompetenz der Betroffenen“ (Antragstellerin zu 2) besonders hervorgehoben und dazu u.a. Folgendes ausgeführt: „So wird mehrfach beschrieben und auch in der aktuellen Untersuchung geschildert, dass eine Teilnahme am normalen Alltag kaum möglich ist, selbst geringe Anforderungen und Aufgaben nicht bewältigt werden können (genannt seien hier als Beispiele derzeit Nahrungsaufnahme außerhalb des bewohnten Zimmers, Umgang mit den eigenen Kindern, Bewältigung auch geringfügiger Stressoren wie Geräusche, Lärm, Zimmerkontrollen, früher schon Verlassen des elterlichen Hauses) …“. Diesen allein auf den Schilderungen der Betroffenen basierenden Feststellungen widerspricht allerdings das von Dr. R.W. am Abschiebungstag (5.4.2019) und damit sogar in einer besonderen Belastungssituation festgestellte Verhalten der Antragstellerin zu 2) diametral.
In seiner ergänzenden (amts-)ärztlichen Stellungnahme kommt der Gutachter R. zudem Ergebnis, aufgrund der festgestellten deutlichen Diskrepanz des Verhaltens bei seiner Untersuchung der Antragstellerin zu 2) und ihrem Verhalten danach sei er zu dem Schluss gekommen, dass es sich hier um ein ausgeprägtes demonstratives Verhalten bei histrionischen Persönlichkeitszügen handle. Das zuletzt vorgelegte Gutachten des Herrn Dr. B. vom 10. April 2019 beschreibe ein anderes Verhalten der Antragstellerin zu 2), mache aber keine Ausführungen zu der (von R.) diagnostizierten histrionischen Persönlichkeit der Antragstellerin zu 2) und berücksichtige auch nicht das (von R.) geschilderte diskrepante Verhalten innerhalb und außerhalb der Untersuchungssituation. Im Wesentlichen übernehme Dr. B. die Angaben der Antragstellerin zu 2) ohne (die gebotene kritische) Prüfung einer möglichen Simulation oder Aggravation; die Diagnoseerstellung des Dr. B. beruhe überwiegend auf der subjektiven Beschwerdeschilderung der Antragstellerin zu 2). Es sei auch nicht nachvollziehbar, warum Herr Dr. B. auf eine körperliche und neurologische Befunderhebung verzichtet habe. Ferner habe er in seinem Gutachten nicht berücksichtigt, dass sowohl das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge als auch das Bayerische Verwaltungsgericht jeweils festgestellt hätten, dass die Angaben der Frau T. (der Antragstellerin zu 2) bezüglich ihrer Traumata nicht glaubhaft seien. Auch die weiteren vorliegenden Gutachten seien diesbezüglich von den subjektiven Angaben der Frau T. ausgegangen. Der von Herrn Dr. B. erhobene psychopathologische Befund sei ebenfalls mangelhaft (wird in der Stellungnahme im Folgenden detailliert ausgeführt). Bei dem erfolgten Abschiebungsversuch habe Frau T. ein ganz anderes Verhalten gezeigt, als es nach dem Gutachten des Herrn Dr. B zu erwarten gewesen wäre. Dieses beim Abschiebeversuch tatsächlich gezeigte Verhalten bestätige die (bereits zuvor von R.) getroffene Einschätzung, dass bei Frau T. eine Zweckreaktion vorliege und damit auch kein Zweifel an der Transport- und Reisefähigkeit der Frau T. (der Antragstellerin zu 2) bestehe. Zusammenfassend enthalte das Gutachten des Herrn Dr. B. vom 10. April 2019 keine neuen medizinischen Befunde, die eine Änderung der Bewertungen im Gutachten vom 16. Januar 2019 begründen könnten.
Diese (ergänzte) Beurteilung des Amtsarztes ist, wovon auch das Verwaltungsgericht im Hinblick auf das Gutachten vom 16. Januar 2019 ausgeht, sowohl von den angeführten tatsächlichen Grundlagen als auch der darauf beruhenden Beurteilung in sich schlüssig, nachvollziehbar und im Ergebnis überzeugend. Die Neutralität und Unabhängigkeit des Amtsarztes verleiht – neben dem speziellen Sachverstand – dieser Beurteilung ein höheres Gewicht (stRspr, vgl. BayVGH, B.v. 18.12.2017 – 19 CE 17.1541 – juris Rn. 25); dies gilt vor allem dann, wenn der Amtsarzt – wie hier – auf die Erwägungen der vorliegenden ärztlichen Privatgutachten bzw. -atteste eingeht und nachvollziehbar darlegt, warum er ihnen nicht folgt (BayVGH a.a.O. Rn. 25 m.w.N.). Im Übrigen steht die Bewertung des Amtsarztes, dass die Ableitung einer Traumatisierung (hier Diagnose des Herrn Dr. B. einer „komplexen posttraumatischen Belastungsstörung“) bei der Antragstellerin zu 2) schon nicht plausibel ist, wenn die (angeblichen) Tatsachengrundlagen nicht glaubhaft sind, in Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Senats. Danach ist die Frage, ob das Vorbringen des Betroffenen zum belastenden Ereignis glaubhaft ist, nicht Gegenstand eines psychiatrischen Fachgutachtens zum Vorliegen einer PTBS, sondern ausschließlich Sache des Tatrichters (vgl. zuletzt BayVGH, B.v. 13.2.2019 – 10 ZB 18.32806 – Rn. 6 m.w. Rsprnachweisen). Im Übrigen ist auch der abschließende Hinweis im Gutachten des Herrn Dr. B., eine Behandelbarkeit einer Traumafolgestörung sei im Herkunftsland der Antragstellerin zu 2) „vermutlich auf absehbare Zeit nicht herstellbar“ nur eine in keiner Weise substantiierte Behauptung.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 39 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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