Medizinrecht

Kein Anspruch auf Erteilung eines “vorläufigen” Aufenthaltstitels

Aktenzeichen  M 12 E 16.2197

Datum:
9.6.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 6 Abs. 1, § 36 Abs. 2, § 50, § 59, § 60 Abs. 2, § 81 Abs. 3, Abs. 4
GG GG Art. 19 Abs. 4
VwGO VwGO § 123

 

Leitsatz

Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis stellt im vorläufigen Rechtsschutzverfahren eine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache dar; auch ein “vorläufiger” Aufenthaltstitel kommt nicht in Betracht. (redaktioneller Leitsatz)
Eine Pflegebedürftigkeit des Ausreisepflichtigen stellt keinen Grund für eine Verlängerung der Ausreisefrist dar; vielmehr handelt es sich dabei in der Sache um die Geltendmachung von Abschiebungshindernissen, die nach der gesetzlichen Systematik ggf. zu einer Duldung, nicht aber zu einer Verlängerung der Ausreisefrist führen können. (redaktioneller Leitsatz)
Ist eine zwangsweise Durchsetzung der Ausreisepflicht mangels Erlasses einer Abschiebungsandrohung nicht zu befürchten, fehlt es hinsichtlich des Antrags auf vorübergehende Aussetzung der Abschiebung an einem Anordnungsgrund. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Antrag wird abgelehnt.
II.
Die Antragstellerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Der Streitwert wird auf EUR 1.250,- festgesetzt.

Gründe

I.
Die am … geborene Antragstellerin ist vietnamesische Staatsangehörige. Sie reiste zuletzt am …. Dezember 2015 mit einem niederländischen Schengen-Visum zu Besuchszwecken, ausgestellt in Kuala Lumpur (gültig bis 5. Februar 2016), über Kopenhagen in das Bundesgebiet ein.
Am 16. Februar 2016 beantragte sie die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug und aus humanitären Gründen. Im Antrag erklärte sie, ihren Lebensunterhalt durch Unterhaltszahlung ihrer Kinder sowie durch ein Sparguthaben in Höhe von 40.000,- Euro zu bestreiten. Ihre Tochter …, geb. …, sowie ihre beiden Söhne …, geb. …, und …, geb. …, lebten in …. Ihre Wohnung habe sie seit 18. Januar 2016 bei ihrer Tochter.
Beigefügt war ein ärztliches Attest von Dr. … S…, Facharzt für Allgemeinmedizin, vom 16. Februar 2016, der bei der Antragstellerin Hypertonie, reaktive Depressionen mittelschweren bis schweren Stadiums mit Anzeichen von Suizidalität, periphere Polytoxipathie (Polyneuropathie) durch Einwirken giftiger Substanzen (Agent Orange), chron. rezidivierende Lumboischialgie bei Diskusprolaps im lumbosacralen Übergang, deutlich reduzierte Mobilität und einen ausgeprägt reduzierten Allgemeinzustand diagnostizierte. Die gesamte Familie der Antragstellerin lebe in Deutschland. Die Antragstellerin sei verwitwet und lebe bisher allein in Vietnam. Die selbstständige Versorgung der Antragstellerin sei aufgrund der gesundheitlichen Verschlechterung nicht mehr möglich. Aus ärztlicher Sicht sei es notwendig, dass die Antragstellerin von ihrer Familie versorgt und betreut werde. Eine Rückkehr nach Vietnam würde einen hohen Grad an Verschlechterung der physischen und psychischen Situation nach sich ziehen und sei damit für die Antragstellerin nicht zumutbar. Momentan sei Reisefähigkeit nicht gegeben. Eine permanente Aufenthaltsgenehmigung sei daher dringend erforderlich.
Des Weiteren wurde ein ärztliches Attest von Dr. G., Facharzt für Orthopädie und Chirurgie – Sportmedizin, vom 3. Februar 2016 vorgelegt, wonach aufgrund der Anamnese davon auszugehen sei, dass die Antragstellerin akut durch das Nervengift Agent Orange geschädigt worden sei. Es zeigten sich typische Anzeichen einer Vergiftung, die neurotoxisch das Nervensystem und die peripheren Nerven betreffe. Unter Berücksichtigung der Schwere dieser neurotoxischen Einschränkungen sei eine weitergehende neurologisch-psychiatrische Behandlung notwendig. Diese könne nur in Deutschland geleistet werden, da eine medizinische Versorgung in der Heimat in diesem Fall nicht möglich sei. Aufgrund der Schwere dieser Erkrankung und der bestehenden traumatischen Ereignisse hätten sich erhebliche Depressionen ausgewirkt, die sich als posttraumatische Depression zeigten und dazu geführt hätten, dass die Antragstellerin suizidal gefährdet sei. Zusätzlich leide die Antragstellerin aus orthopädischer Sicht unter chronisch rezidivierenden Lumboischialgien mit einer Bandscheibenschädigung im lumbosacralen Übergang, zusätzlich an Veränderungen im Bereich der Hüft- und Kniegelenke, wobei die Probleme der Lendenwirbelsäule bedingt seien durch die Bandscheibenschädigung und Nervenschädigung, die durch konservative Therapien nicht hätten gebessert werden können. Die Antragstellerin sei auf Medikamente mit schmerzlinderndem Charakter angewiesen. Unter Berücksichtigung der orthopädischen, neurologischen und internistischen Erkrankungen sei die Antragstellerin zum jetzigen Zeitpunkt weder reisefähig noch abschiebefähig. Es sei damit zu rechnen, dass eine erhebliche Gefährdung der Gesundheit bestehe und eine fehlende Behandlung eine weitergehende Schädigung der bereits eingetretenen Gesundheitsstörung beinhalte.
Weiter wurde vorgelegt ein Kontoauszug von … vom 30. Dezember 2015, aus dem sich ein Guthaben von 44.345,- Euro ergibt. Aus der Anlage zum Kontoauszug ergibt sich, dass die Antragstellerin aus dem Ausland am 18. Dezember 2015 39.000,- Euro auf das Konto ihres Sohnes überwiesen hat.
Der Antragstellerin wurde am 18. Februar 2016 eine Grenzübertrittsbescheinigung ausgestellt, die in der Folge bis 30. April 2016 verlängert wurde.
Die Antragstellerin hat in der Folge ein Schreiben der … vorgelegt, mit der die Aufnahme der Antragstellerin als Untermieterin in die Wohnung ihrer Tochter in stets widerruflicher Weise genehmigt wurde, sowie eine Bestätigung der Steuerberatungsgesellschaft in … mbH vom 14. März 2016, wonach der Tochter der Antragstellerin ein zur persönlichen Verfügung stehendes durchschnittliches Nettoeinkommen aus der Selbstständigkeit nach Abzug aller betrieblichen Ausgaben für die Monate Januar und Februar 2016 in Höhe von 3.619,91 Euro bestätigt wurde.
Mit Schreiben vom 18. April 2016 wurde der Bevollmächtigten der Antragstellerin mitgeteilt, dass bislang kein fachärztliches Attest vorgelegt worden sei. Es bestünden berechtigte Zweifel, dass durch den Facharzt für Orthopädie und Chirurgie Dr. G. aus … eine posttraumatische Störung festgestellt werden könne. Auch das Attest des Allgemeinarztes Dr. S. sei nicht ausreichend. Im Falle einer Reiseunfähigkeit aufgrund einer posttraumatischen Belastungsstörung sei ein Gutachten eines Facharztes für Psychiatrie oder psychotherapeutische Medizin vorzulegen. Ohne ein fachärztliches Attest werde die Grenzübertrittsbescheinigung nicht weiter verlängert. Einen Anspruch könne die Antragstellerin aufgrund § 81 Abs. 4 Satz 2 AufenthG nicht ableiten.
Die Antragstellerin legte daraufhin ein nervenärztliches Attest von Dr. M. vom 29. März 2016, ergänzt am 27. April 2016, vor, in dem ausgeführt wird, dass die Antragstellerin an Symptomen auf nervenärztlichem Fachgebiet leide und psychische und physische Hilfestellung durch die Familie zur Sicherstellung der Pflege und zur psychischen Versorgung benötige. Es lägen Symptome einer depressiven Erkrankung vor sowie neurologische Symptome, die ein Nachlassen der Alltagsfähigkeiten belegten. Somit sei auch von einer hirnorganischen Erkrankung auszugehen. Ohne die Unterstützung durch die Angehörigen sei die Antragstellerin hilflos. Bei einer Rückkehr nach Vietnam wäre die Versorgung nicht mehr sichergestellt. In der Ergänzung vom 27. April 2016 wird ausgeführt, die Diagnose depressive Erkrankung benötige keine Erläuterung. Die Diagnose hirnorganische Erkrankung mit nachlassenden Alltagsfähigkeiten bedeute beginnende oder schon schwere Demenzerkrankung. Dass die Versorgung nicht sichergestellt sei, bedeute, dass die Antragstellerin in Gefahr gerate zu verhungern, zu verdursten oder anderweitig ums Leben zu kommen.
Mit Schreiben vom 29. April 2016 wurde der Bevollmächtigten der Antragstellerin mitgeteilt, dass die bislang eingereichten Atteste nicht den Anforderungen der Antragsgegnerin entsprächen. Da eine Reiseunfähigkeit trotz ausreichender Frist nicht nachgewiesen worden sei, werde die Ausreisefrist für die Antragstellerin nicht weiter verlängert.
Mit Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten vom … Mai 2016, bei Gericht am 13. Mai 2016 eingegangen, hat die Antragstellerin beim Bayerischen Verwaltungsgericht München beantragt,
im Wege einstweiligen Rechtsschutzes gemäß § 123 VwGO die Antragsgegnerin zu verpflichten, der Antragstellerin eine Aufenthaltserlaubnis auf Grundlage von § 36 Abs. 2 AufenthG zu erteilen sowie die Ausreisefrist für die Antragstellerin bis zur Entscheidung in der Hauptsache angemessen zu verlängern.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Antragstellerin im Wege des Besuchsvisums nach Deutschland gekommen sei, um ihre Kinder in … zu besuchen. Die Antragstellerin sei … Jahre alt und lebe bisher allein in Vietnam. In Vietnam lebten keine weiteren Angehörigen mehr. Die Antragstellerin sei bereits des Öfteren im Wege eines Besuchsvisums bei ihren Kindern in Deutschland gewesen und habe auch dieses Mal vorgehabt, in die Heimat zurückzukehren. Allerdings hätten die Kinder der Antragstellerin aus Sorge um ihre Mutter beschlossen, diese bei sich in … zu behalten, da sich der Gesundheitszustand der Antragstellerin drastisch verschlechtert habe und diese nicht mehr in der Lage sei, sich allein zu versorgen und eine Betreuung sowie eine dauernde ärztliche Behandlung in Deutschland dringend vonnöten sei. Es sei für die Antragstellerin somit unzumutbar und auch gesundheitsgefährdend, alleine in ihre Heimat zurückkehren zu müssen. Besonders dramatisch sei die Veränderung im mentalen, cerebralen Bereich. Hinzu kämen neben starken körperlichen Beschwerden ernst zu nehmende Suizidgedanken aufgrund mittelschweren bis schweren Depressionen. Eine Rückkehr ins Heimatland sei unzumutbar, auch weil die Antragstellerin eine umfassende Betreuung benötige, die in Vietnam nicht durchgeführt bzw. sichergestellt werden könne. Erwähnenswert sei in diesem Zusammenhang, dass Vietnam kein Sozialstaat sei, so dass sich von staatlicher Seite aus niemand um die Versorgung bzw. Betreuung der Antragstellerin kümmern würde. Sie wäre vollkommen allein, verlassen und auf sich allein gestellt. Damit wäre Gefahr für Leib und Leben der Antragstellerin gegeben. Die Antragstellerin werde in … von ihrer Tochter betreut und durch ihre beiden Söhne unterstützt. Der Lebensunterhalt der Antragstellerin sei durch die Tochter und dem Schwiegersohn mehr als gesichert, zudem verfüge die Antragstellerin über ein Sparguthaben in Höhe von 40.000,- Euro. Wohnraum sei ebenfalls vorhanden. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 2 AufenthG sei aufgrund der vorliegenden außergewöhnlichen Härte dringend erforderlich, um schwerwiegende Nachteile der Antragstellerin für Leib und Leben abzuwenden. Die Grenzübertrittsbescheinigung der Antragstellerin sei am 30. April 2016 abgelaufen, so dass ein Antrag nach § 123 VwGO erforderlich und geboten sei und keinesfalls eine Vorwegnahme der Hauptsache darstelle.
Mit Schreiben vom 23. Mai 2016 hat die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Bevollmächtigte der Antragstellerin habe am …. Februar 2016 die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 36 Abs. 2 AufenthG aus gesundheitlichen/humanitären Gründen beantragt. Der Antrag löse keine Fiktionswirkung aus. Die Antragstellerin sei damit vollziehbar ausreisepflichtig. Die vorgetragene Reiseunfähigkeit zur Aussetzung einer Abschiebung sei bislang nicht ausreichend belegt. Die eingereichten ärztlichen Atteste, die im Wesentlichen psychische und neurologische Gründe ins Feld führten, genügten nicht den Anforderungen des § 60a Abs. 2c AufenthG. Die Stellungnahmen des Herrn Dr. S. (Facharzt für Allgemeinmedizin) und des Herrn Dr. G. (Facharzt für Orthopädie und Chirurgie) könnten mangels der nötigen Fachausrichtung nicht akzeptiert werden. Herr Dr. M. (Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie) lasse trotz des entsprechenden Hinweises im Merkblatt „Ärztliches Attest bei Reiseunfähigkeit“ die gesetzlich vorgesehene Begründung vermissen. Es gelte daher die gesetzliche Vermutung der Reisefähigkeit.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und Behördenakte verwiesen.
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO hat keinen Erfolg.
Nach § 123 Abs. 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte, oder auch zur Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, nötig erscheint, um wesentliche Nachteile für den Antragsteller abzuwenden. Nach § 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO sind dabei sowohl ein Anordnungsanspruch, d. h. der materielle Anspruch, für den der Antragsteller vorläufigen Rechtsschutz sucht, als auch ein Anordnungsgrund, der insbesondere durch die Eilbedürftigkeit einer vorläufigen Regelung begründet wird, nach § 920 Abs. 2 i. V. m. § 294 Abs. 1 ZPO glaubhaft zu machen. Maßgebend sind dabei die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
1. Die Antragstellerin begehrt mit ihrem Antrag auf Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gem. § 36 Abs. 2 AufenthG keine vorläufige Maßnahme, sondern die Vorwegnahme der Hauptsache. Ein solches Rechtsschutzziel widerspricht grundsätzlich der Funktion des vorläufigen Rechtsschutzes (vgl. BVerwG, B.v. 13.8.1999 – BVerwG 2 VR 1.99 – BVerwGE 109, 258, B.v. 27.5.2004 – 1 WDS-VR 2/04 – juris) und kommt nur ausnahmsweise aus Gründen des Gebotes effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) in Betracht. Ein derartiger Ausnahmefall liegt nicht vor, da schwerwiegende Nachteile auch durch eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung vermieden werden können. Auch ein „vorläufiger“ Aufenthaltstitel kommt deshalb nicht in Betracht (OVG RP, B.v. 18.2.1991 – 13 B 10 914/90 – InfAuslR 1991, 186).
2. Soweit die Antragstellerin die Verpflichtung der Antragsgegnerin begehrt, die Ausreisefrist bis zur Entscheidung in der Hauptsache angemessen zu verlängern, ist der Antrag zulässig, aber unbegründet.
Die Antragstellerin hat keinen Anordnungsanspruch auf Verlängerung der Ausreisefrist glaubhaft gemacht. Die Antragstellerin ist gem. § 50 Abs. 1 AufenthG ausreisepflichtig, da sie einen erforderlichen Aufenthaltstitel nicht mehr besitzt. Ihr Schengen-Visum ist bereits am 5. Februar 2016 abgelaufen. Die Ausreisepflicht ist gem. § 50 Abs. 2 AufenthG grundsätzlich unverzüglich zu erfüllen. Dies wird durch die Einräumung einer Frist dahingehend modifiziert, dass die Ausreisepflicht zwar auch innerhalb der Frist besteht, aber nicht unverzüglich, sondern erst bis zum Ablauf der Frist zu erfüllen ist. Die Ausreisefrist soll dem Ausländer ermöglichen, sich auf die Ausreise vorzubereiten und ihn in die Lage versetzen, rechtzeitig freiwillig auszureisen, um eine Abschiebung zu vermeiden (Hailbronner, AuslR, Stand: Februar 2016, § 50 AufenthG Rn. 14 ff.). Die Ausreisefrist ist so zu bemessen, dass der Ausländer noch diejenigen wichtigen Angelegenheiten regeln kann, die seine Anwesenheit erfordern. Dabei ist die Länge seines Aufenthalts in der BRD zu berücksichtigen. Bei kranken Ausländern ist die Frist so zu bemessen, dass der Ausländer für eine ausreichende Betreuung und Hilfeleistung während und nach der Reise sorgen kann. Grundsätzlich erscheint eine Frist von 30 Tagen nach einem rechtmäßigen Aufenthalt ausreichend. Eine Verlängerung der Ausreisefrist kommt nur in Betracht, wenn eine freiwillige Ausreise gesichert erscheint, die Voraussetzungen des § 58 Abs. 1 AufenthG also nicht vorliegen. Eine Verlängerung scheidet hingegen aus, wenn die Abschiebungsvoraussetzungen nach § 58 AufenthG eingetreten sind, insbesondere die Ausreisefrist bereits abgelaufen ist. Anderenfalls bestünde die Gefahr, dass durch das Einräumen von Ausreisefristen der bewusst eng gehaltene Katalog von Abschiebungshindernissen umgangen und erweitert würde (Hailbronner a. a. O. Rn. 18 ff.).
Im vorliegenden Fall sind die Voraussetzungen des § 58 AufenthG bereits eingetreten, so dass ein Anspruch auf Verlängerung der Ausreisefrist bereits deshalb ausscheidet.
Nach § 58 AufenthG ist ein Ausländer abzuschieben, wenn die Ausreisepflicht vollziehbar ist, eine Ausreisefrist nicht gewährt wurde oder diese abgelaufen ist und die freiwillige Erfüllung der Ausreisepflicht nicht gesichert ist oder aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung eine Überwachung der Ausreise erforderlich erscheint. Diese Voraussetzungen sind erfüllt:
Die Antragstellerin ist gem. § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG vollziehbar ausreisepflichtig, da trotz Beantragung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug gem. § 36 Abs. 2 AufenthG weder ihr Aufenthalt nach § 81 Abs. 3 AufenthG als erlaubt noch ihr Aufenthaltstitel nach § 81 Abs. 4 AufenthG als fortbestehend gilt. Das Schengen-Visum der Antragstellerin gilt nicht gem. § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG als fortbestehend. Zum einen hat die Antragstellerin erst nach Ablauf der Gültigkeit ihres Schengen-Visums die Aufenthaltserlaubnis beantragt. Zum anderen ist die Fiktionswirkung im Falle eines – hier vorliegenden – Visums gem. § 6 Abs. 1 AufenthG generell gem. § 81 Abs. 4 Satz 2 AufenthG ausgeschlossen. Daher kommt auch keine Anordnung nach § 81 Abs. 4 Satz 3 AufenthG wegen verspäteter Antragstellung in Betracht. Die Anwendung des § 81 Abs. 3 AufenthG ist bereits deshalb ausgeschlossen, weil sich die Antragstellerin als vietnamesische Staatsangehörige nicht ohne Aufenthaltstitel rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten kann.
Zudem ist die der Antragstellerin zuletzt gewährte Ausreisefrist bereits am 30. April 2016 abgelaufen; auch die Überwachung der Ausreise ist gem. § 58 Abs. 3 Nr. 2 AufenthG erforderlich, da die Antragstellerin nicht innerhalb der ihr gesetzten Ausreisefrist ausgereist ist.
Im Übrigen wurde der Antragstellerin die Ausreisefrist bereits mehrfach verlängert. Insgesamt wurde ihr eine Ausreisefrist von nahezu 2 ½ Monaten eingeräumt. Dieser Zeitraum erscheint vor dem Hintergrund des kurzen Aufenthalts im Bundesgebiet ausreichend, um alle wichtigen Angelegenheiten im Bundesgebiet zu regeln und ggf. auch Vorsorge für die Reise und die Rückkehr in medizinischer Hinsicht zu treffen.
Die geltend gemachte dauerhafte Pflegebedürftigkeit der Antragstellerin stellt hingegen keinen Grund für eine Verlängerung der Ausreisefrist dar. Vielmehr macht die Antragstellerin damit in der Sache Abschiebungshindernisse geltend, die nach der gesetzlichen Systematik ggf. zu einer Duldung, nicht aber zu einer Verlängerung der Ausreisefrist führen können.
Ein Anordnungsanspruch auf Verlängerung der Ausreisefrist ist nach alledem nicht glaubhaft gemacht.
3. Soweit der Antrag gemäß §§ 122, 88 VwGO dahingehend auszulegen ist, dass die Antragstellerin die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung bis zur Entscheidung in der Hauptsache begehrt, ist der Antrag zulässig, aber unbegründet.
Hat der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels weder eine fiktive Fortgeltung des bisherigen Aufenthaltstitels noch eine Erlaubnis noch eine fiktive Duldung bewirkt, kann sich ein Ausländer gegen den zwangsweisen Vollzug der Ausreisepflicht nur mit einem Antrag nach § 123 VwGO wehren (Samel in Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl. 2013, § 81 AufenthG Rn. 42).
Die Antragstellerin hat allerdings weder einen Anordnungsanspruch auf vorübergehende Aussetzung der Abschiebung noch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
Die Abschiebung eines Ausländers ist gem. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist.
Eine rechtliche Unmöglichkeit ergibt sich nicht aus der Beantragung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 2 AufenthG. Die Beantragung eines Aufenthaltstitels, die nicht zu einer Fiktion gem. § 81 Abs. 4 AufenthG oder einer Erlaubnis oder Duldung gem. § 81 Abs. 3 AufenthG führt, steht weder der Ausreisepflicht noch deren zwangsweiser Durchsetzung entgegen. Es besteht kein allgemeiner Grundsatz, dass während eines behördlichen oder gerichtlichen Verfahrens die Abschiebung ausgesetzt ist oder auszusetzen wäre (Samel a. a. O. Rn. 36). Im Übrigen besteht für die Sicherung eines Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels auch kein Anordnungsgrund, weil in der Ausreise keine wesentliche Erschwerung oder eine drohende Gefahr der Beeinträchtigung des Anspruchs gesehen werden kann (Samel a. a. O. Rn. 43).
Eine rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung aus gesundheitlichen Gründen hat die Antragstellerin ebenfalls nicht glaubhaft gemacht. Gem. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt gem. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden.
Bei den Beschwerden der Antragstellerin auf orthopädischem Gebiet, wie sie in den Attesten von Dr. S. und Dr. G. ausgeführt werden, handelt es sich im Wesentlichen um altersbedingte Beschwerden, die weder als lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankungen i. S. d. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG anzusehen sind noch sich durch die Abschiebung verschlechtern würden. Die erforderlichen schmerzlindernden Medikamente sind auch in Vietnam erhältlich.
Was die vorgetragenen Erkrankungen auf neurologischem bzw. psychiatrischem Gebiet betrifft, ist festzustellen, dass weder das Attest eines Facharztes für Orthopädie noch das Attest eines Facharztes für Allgemeinmedizin mangels entsprechender Fachrichtung geeignet sind, derartige Erkrankungen glaubhaft zu machen. Auch das Attest von Dr. M…, Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie, vom 29. März 2016, ergänzt am 27. April 2016, ist für eine Glaubhaftmachung von Erkrankungen auf neurologischem bzw. psychiatrischem Gebiet nicht geeignet. Aus dem Attest ergeben sich weder die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage die fachliche Beurteilung erfolgt ist noch die Methode der Tatsachenerhebung. Dass bei der Antragstellerin Symptome auf nervenärztlichem Fachgebiet sowie Symptome einer depressiven Erkrankung und neurologische Symptome vorliegen, stellt zudem noch keine Diagnose dar. Auch der Begriff der hirnorganischen Erkrankung beinhaltet keine Diagnose eines bestimmten Krankheitsbildes. In der Ergänzung wird zwar von einer depressiven Erkrankung gesprochen, ohne jedoch den Schweregrad der Erkrankung anzugeben. Auch die Ausführungen zur Demenzerkrankung sind vage und enthalten keine Angaben zur Schwere der Erkrankung, vielmehr spricht der Arzt von einer beginnenden oder schweren Demenzerkrankung, was sich gegenseitig ausschließt. Auch eine zu erwartende Verschlechterung der angegebenen Erkrankungen durch die Rückführung nach Vietnam ergibt sich aus dem Attest nicht.
Selbst wenn die Antragstellerin an Demenz bzw. Depressionen erkrankt sein sollte, wären diese Erkrankungen auch in Vietnam behandelbar. Dabei ist es gem. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine zu befürchtende wesentliche Verschlechterung dieser Erkrankungen ergibt sich aus dem Attest von Dr. M… ebenfalls nicht.
Zwar wird in den vorgelegten ärztlichen Attesten sinngemäß ausgeführt, dass die Antragstellerin mittlerweile pflegebedürftig ist und ihr deshalb auf sich allein gestellt in Vietnam Gefahr für Leib und Leben drohen würde, da sie nicht mehr für sich sorgen könnte. An der Hilflosigkeit und Pflegebedürftigkeit der Antragstellerin bestehen angesichts der Tatsache, dass es der Antragstellerin offensichtlich möglich war, sich außerhalb ihres Heimatlandes in Kuala Lumpur (Malaysia) ein niederländisches Schengen-Visum zu besorgen, 39.000,- Euro auf das Konto ihres Sohnes zu überweisen und schließlich über Kopenhagen und Berlin nach … zu reisen, jedoch erhebliche Zweifel. Selbst wenn die Antragstellerin aber derart schwerstpflegebedürftig wäre und in Vietnam keine Unterstützung staatlicherseits erhalten könnte, ist eine sich daraus ergebende erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben der Antragstellerin nicht glaubhaft gemacht. Angesichts eines jährlichen Pro-Kopf-Einkommen in Vietnam von lediglich 2.230 USD in 2015 (vgl. www.a…de) ist es nicht nachvollziehbar, warum mit den der Antragstellerin zur Verfügung stehenden Mitteln von immerhin 39.000,- Euro und ggf. finanzieller Unterstützung ihrer in Deutschland gut verdienenden Kinder keine adäquate Pflege in Vietnam finanziert werden könnte.
Auch eine Transportunfähigkeit der Antragstellerin oder eine Reiseunfähigkeit im weiteren Sinn durch den Ausreise- bzw. Abschiebungsvorgang ist nicht glaubhaft gemacht. Gem. § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG wird vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen. Die vorgelegten Atteste erfüllen nicht die gesetzlichen Anforderungen des § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG. Bzgl. der neurologischen und psychiatrischen Krankheitsbilder wird diesbzgl. auf obige Ausführungen verwiesen. Hinsichtlich der orthopädischen Erkrankungen ergeben sich aus den Attesten von Dr. S. und Dr. G. insbesondere nicht der Schweregrad der Erkrankung sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben. Es wird lediglich pauschal Reiseunfähigkeit angegeben, ohne auf die konkreten Auswirkungen der diagnostizierten Erkrankung im Hinblick auf die Reisefähigkeit einzugehen. Eine Reiseunfähigkeit drängt sich angesichts der erst wenige Monate zurückliegenden Einreise der Antragstellerin ins Bundesgebiet auch nicht anderweitig auf.
Darüber hinaus hat die Antragstellerin keinen Anordnungsgrund, d. h. die Eilbedürftigkeit, glaubhaft gemacht. Die Antragstellerin muss derzeit keine zwangsweise Durchsetzung der Ausreisepflicht befürchten, da die Antragsgegnerin bislang noch keine Abschiebungsandrohung nach § 59 AufenthG erlassen hat, wozu sie vor Durchführung der Abschiebung verpflichtet ist. Anhaltspunkte dafür, dass die Antragsgegnerin entgegen der gesetzlichen Regelung die Ausreisepflicht ohne vorherige Abschiebungsandrohung vollziehen will, sind nicht ersichtlich.
4. Der Antrag war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen.
5. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz -GKG- i. V. m. Nrn. 1.5 und 8.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Fassung der am 30.5./1.6.2012 und am 18.7.2013 beschlossenen Änderungen.


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