Medizinrecht

Keine einstweilige Anordnung auf Zahlung von Arbeitslosengeld bei ungeklärten Leistungsvoraussetzungen wegen verweigerter Mitwirkung seitens des Arbeitslosen

Aktenzeichen  L 10 AL 9/17 B ER

Datum:
10.3.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGG SGG § 86b Abs. 2 S. 2
SGB III SGB III § 137 Abs. 1 Nr. 1, § 138 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 5, § 145, § 328

 

Leitsatz

1 Zur Feststellung der Verfügbarkeit eines Arbeitslosen ist es erforderlich, dass das Arbeitsamt den Umfang zumutbarer Arbeiten und das tatsächliche Leistungsvermögen des Arbeitslosen eigenständig ermittelt und feststellt. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
2 Ist eine solche Feststellung aufgrund der Weigerung des Arbeitslosen, einen Gesundheitsfragebogen auszufüllen, seine behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht zu entbinden oder einer Untersuchung durch den ärztlichen Dienst des Arbeitsamtes zuzustimmen, nicht möglich, trägt der Arbeitslose die Feststellungslast und sind ihm auch im Rahmen einstweiligen Rechtsschutzes keine Leistungen zuzusprechen. (Rn. 13 – 15) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 6 AL 468/16 ER 2017-01-05 Bes SGNUERNBERG SG Nürnberg

Tenor

I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Nürnberg vom 05.01.2017 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

I.
Streitig ist die Zahlung von Arbeitslosengeld (Alg).
Nach der Arbeitsbescheinigung der Firma A. GmbH Co KG war die Antragstellerin (ASt) dort bis 30.06.2016 in einem Arbeitsverhältnis gestanden. Zumindest in den Zeiträumen 14.08.2014 bis 31.12.2014, 01.01.2015 bis 03.03.2015 und vom 23.11.2015 bis 31.12.2015 erhielt sie Krankengeld. In der Zeit vom 02.09.2016 bis 29.09.2016 befand sie sich in einer Einrichtung der Deutschen Rentenversicherung zur medizinischen Rehabilitation und wurde als arbeitsunfähig entlassen. Im Rahmen ihrer persönlichen Arbeitslosmeldung vom 16.08.2016 gab sie u.a. an, sie könne bestimmte Beschäftigungen nicht mehr ausüben und müsse sich zeitlich einschränken. Nach den Vermerken der Antragsgegnerin (Ag) habe die ASt den Gesundheitsfragebogen nicht abgegeben und sei mit einer Untersuchung durch den ärztlichen Dienst der Ag nicht einverstanden. Nach ihrer Auffassung sei ihr die Wahl des Arztes freigestellt.
Ausweislich eines „Entwurfs“ in den Akten die Ag lehnte diese mit Bescheid vom 30.11.2016 den Antrag auf Alg ab. Die ASt sei postalisch nicht erreichbar, sie könne auf Vermittlungsvorschläge nicht zeit- und ortsnah reagieren und die Termine zur amtsärztlichen Untersuchung nicht wahrnehmen. Eine Kopie des Entwurfs wurde der ASt im Rahmen einer persönlichen Vorsprache am 01.12.2016 ausgehändigt. Mit Telefax vom gleichen Tage monierte die ASt, es fehle eine rechtsgültige Unterschrift. Mit Schreiben vom 12.01.2017 teilte die Ag mit, da die ASt postalisch nicht erreichbar sei, liege der Originalbescheid vom 30.11.2016 per öffentlicher Zustellung in der Agentur für Arbeit Dinkelsbühl zur Abholung bereit und könne dort innerhalb der Öffnungszeiten in Empfang genommen werden.
Bereits am 21.12.2016 hat die ASt beim Sozialgericht Nürnberg (SG) einen Eilantrag gestellt. Die Ag verweigere die Auszahlung von Leistungen. Für eine ununterbrochene Erreichbarkeit sei die Handynummer hinterlassen worden. Mit Beschluss vom 05.01.2017 hat das SG den Antrag abgelehnt. Spätestens am 01.12.2016 sei der Ablehnungsbescheid vom 30.11.2016 der ASt bekannt gegeben worden. Innerhalb der Frist von einem Monat sei dagegen kein Widerspruch eingelegt worden, so dass der Bescheid bindend geworden sei. Er sei damit einer einstweiligen Regelung nicht mehr zugänglich.
Dagegen hat die ASt Beschwerde beim Bayer. Landessozialgericht eingelegt. Beschlüsse und Schreiben würden mangels Unterschriften erhebliche Formmängel aufweisen und seien unwirksam. Sie sei vom 01.10.1990 bis 30.06.2016 bei der Firma A. beschäftigt gewesen.
Zur Ergänzung des Sachverhaltes wird auf die Akten der Ag sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz – SGG), aber nicht begründet. Das SG hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Ergebnis zu Recht abgelehnt.
Das Begehren der ASt auf Zahlung von Alg kann im Rahmen einer Hauptsache grundsätzlich mit einer Anfechtungs- und Leistungsklage geltend gemacht werden, so dass vorliegend § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG die maßgebliche Rechtsgrundlage für die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes darstellt. Hiernach ist eine Regelung zulässig, wenn sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das ist etwa dann der Fall, wenn der Antragsteller ohne eine solche Anordnung schwere und unzumutbare, nicht anders abwendbare Nachteile entstehen, zu deren Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (so BVerfG, Beschluss vom 25.10.1998 – 2 BvR 745/88 – BVerfGE 79, 69 (74); Beschluss vom 19.10.1977 – 2 BvR 42/76 – BVerfGE 46, 166 (179); Beschluss vom 22.11.2002 – 2 BvR 745/88 – NJW 2003, 1236).
Die Regelungsanordnung setzt das Vorliegen eines Anordnungsgrundes – das ist in der Regel die Eilbedürftigkeit – und das Vorliegen eines Anordnungsanspruches – das ist der materiell-rechtliche Anspruch, auf den der Antragsteller sein Begehren stützt – voraus. Die Angaben hierzu hat der Antragsteller glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 2 und 4 SGG iVm § 920 Abs. 2, § 294 Zivilprozessordnung – ZPO; Keller in Meyer-Ladewig/Kel-ler/Leitherer, SGG, 11. Aufl, § 86b Rn 41).
Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage in dem vom BVerfG vorgegebenen Umfang (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 – Breith 2005, 803) das Obsiegen in der Hauptsache sehr wahrscheinlich ist. Ist bzw wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruches der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Sind hierbei die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu.
Es fehlt vorliegend bereits an einem Anordnungsanspruch. Unabhängig davon, ob der Ablehnungsbescheid vom 30.11.2016 bereits bestandskräftig geworden und damit das Nichtbestehen des Anspruchs auf Alg zwischen den Beteiligten bindend wäre (§ 77 SGG) – dagegen könnte sprechen, dass die ASt am 01.12.2016 sich per Fax beim Ag gegen die ihr ausgehändigte Entwurfskopie gewandt hat, weil diese keine Unterschrift trage, worin ggf bereits bei entsprechender Auslegung des Schreibens ein Widerspruch gesehen werden könnte – ist mangels Klärung, ob die ASt die Anspruchsvoraussetzungen für einen Anspruch auf Alg erfüllt, ein Obsiegen in der Hauptsache derzeit unwahrscheinlich.
Eine Arbeitnehmerin hat Anspruch auf Alg bei Arbeitslosigkeit (§ 136 Abs. 1 Nr. 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch – SGB III), wenn sie arbeitslos ist (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 SGB III), sich bei der Agentur für Arbeit arbeitslos gemeldet (§ 137 Abs. 1 Nr. 2 SGB III) und die Anwartschaftszeit erfüllt (§ 137 Abs. 1 Nr. 3 SGB III) hat. Vorliegend kann das Bestehen von Arbeitslosigkeit nicht festgestellt werden, da dieses nach § 138 Abs. 1 Nr. 3 iVm Abs. 5 SGB III eine Verfügbarkeit des Arbeitslosen voraussetzt. Dies ist nur der Fall, wenn die Arbeitnehmerin den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung steht, was ua dann nicht gegeben ist, wenn die ASt eine versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende zumutbare Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des für sie in Betracht kommenden Arbeitsmarktes nicht ausüben kann oder darf. Dabei ist es erforderlich, dass die Ag den Umfang zumutbarer Arbeiten und zur Beurteilung der subjektiven Verfügbarkeit das tatsächliche Leistungsvermögen der Arbeitslosen eigenständig ermittelt und festzustellt (vgl dazu BSG, Urteil vom 09.09.1999 – B 11 AL 13/99 R). Dies gilt auch im Hinblick auf die Frage, ob ein Fall der sog Nahtlosigkeitsregelung des § 145 SGB III vorliegt, bei dem auch eine Person, die allein deshalb nicht arbeitslos ist, weil sie wegen einer mehr als sechsmonatigen Minderung ihrer Leistungsfähigkeit versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigungen nicht unter den Bedingungen ausüben kann, die auf dem für sie in Betracht kommenden Arbeitsmarkt ohne Berücksichtigung der Minderung der Leistungsfähigkeit üblich sind, einen Anspruch auf Alg hat, wenn eine verminderte Erwerbsfähigkeit im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung nicht festgestellt worden ist.
Eine solche Feststellung ist vorliegend nicht möglich. Die ASt ist (bislang) nicht bereit einen Gesundheitsfragebogen auszufüllen, ihre behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht zu entbinden oder einer Untersuchung durch den ärztlichen Dienst der Ag zuzustimmen. Im Rahmen der Mitwirkungsverpflichtungen soll ein Antragsteller sich auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers ärztlichen und psychologischen Untersuchungsmaßnahmen unterziehen, soweit diese für die Entscheidung über die Leistung erforderlich sind (§ 62 Erstes Buch Sozialgesetzbuch – SGB I). Da die ASt lange Zeit Krankengeld bezogen hat, zuletzt von einer medizinischen Rehabilitation als arbeitsunfähig entlassen worden ist und selbst angegeben hat, bestimmte Beschäftigungen nicht mehr ausüben zu können bzw sich zeitlich einschränken zu müssen, besteht das Erfordernis, die Leistungsfähigkeit und das Leistungsvermögen festzustellen. Dies kann nur durch Beiziehung bereits vorhandener ärztlicher Unterlagen, was im Hinblick auf ein fehlendes Einverständnis der ASt nicht möglich ist, oder durch eine ärztliche Untersuchung erfolgen. Bei letzterer steht es im Ermessen der Ag, die untersuchende Stelle und den untersuchenden Arzt zu bestimmen, wodurch der Anspruch der ASt auf die sog freie Arztwahl eingeschränkt ist (vgl dazu Seewald in Kassler Kommentar, Stand 12/2016, § 62 SGB I Rn 10). Hinreichende Gründe, weshalb eine Untersuchung der ASt durch den ärztlichen Dienst der Ag unzumutbar sein soll, sind weder vorgebracht noch ersichtlich.
Damit können die Leistungsvoraussetzungen nicht weiter aufgeklärt werden. Es liegt auch im Hinblick auf den längeren Bezug von Krankengeld, die Entlassung von einer medizinischen Rehabilitation als arbeitsunfähig und die Angabe, bestimmte Beschäftigungen nicht mehr ausüben zu können bzw sich zeitlich einschränken zu müssen, keine sich aufdrängende (uneingeschränkte) Verfügbarkeit der ASt vor. Andere hinreichenden Aufklärungsmöglichkeiten sind nicht zu erkennen. Da es sich auch nicht lediglich um eine Verzögerung bei der Feststellung handelt, sondern die Feststellungen an der Weigerung der ASt scheitern, kommt – zumindest derzeit – keine vorläufige Leistungsbewilligung nach § 328 SGB III in Betracht (vgl dazu für die Zeit von Antragstellung bis zur Auswertung eines ärztlichen Gutachtens: Geiger, info also 2013, 90). Bei unveränderter Sachlage würde die ASt die Feststellungslast treffen. Ihr wäre die Nichterweislichkeit der Anspruchsvoraussetzungen wegen ihrer Weigerungshaltung letztlich entgegenzuhalten.
Auch wenn damit nicht ausgeschlossen ist, dass im Rahmen eines Hauptsacheverfahrens ein Anspruch auf Alg nach einer doch noch durchgeführten weiteren Sachaufklärung – ggf auch nach § 145 Abs. 1 SGB III – festgestellt werden kann, fällt eine Interessenabwägung nicht zugunsten der ASt aus. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sie es selbst in der Hand hat durch die Abgabe des Gesundheitsfragebogens oder der Mitwirkung bei einer Untersuchung durch den ärztlichen Dienst der Ag eine weitere Sachverhaltsaufklärung zu ermöglichen. Zudem besteht die Möglichkeit im Falle des Nichtvorhandenseins ausreichender Mittel zur Sicherung des Lebensunterhaltes entsprechende Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in Anspruch zu nehmen. Dass ein entsprechender Antrag bereits gestellt bzw abgelehnt worden ist, ist weder vorgebracht noch ersichtlich.
Die Beschwerde der ASt war damit zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf der analogen Anwendung des § 193 SGG.
Der Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).


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