Aktenzeichen L 5 KR 680/17 B
Leitsatz
1. Das Beitragsrecht des SGB IV enthält keine Rechtsgrundlage für einen Haftungsbescheid. (Rn. 7 und 8)
2. Besteht für Beitragsforderungen Gesamtschuldnerschaft, muss der Beitragsbescheid eine Ermessensausübung beinhalten. (Rn. 9)
Verfahrensgang
S 6 KR 391/16 2017-10-16 SGLANDSHUT SG Landshut
Tenor
Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Landshut vom 16.10.2017 aufgehoben.
Gründe
I.
Das Ausgangsverfahren vor dem Sozialgericht Landshut richtet sich gegen den Haftungsbescheid der Beklagten vom 10.06.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.10.2016, mit dem die Klägerin für rückständige Gesamtsozialversicherungsbeiträge der vormaligen Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) R. L. und A. auf der Basis des Nachforderungsbescheides der DRV Bund vom 19.03.2015 in Höhe von 121.832,86 EUR in Anspruch genommen wird.
Gegen den Nachforderungsbescheid vom 19.03.2015 ist ein Rechtsstreit vor dem Sozialgericht Landshut unter dem Aktenzeichen S 1 R 5091/15 anhängig. Wegen der Vorgreiflichkeit dieser Klage hat das Gericht das Haftungsbescheids-Verfahren ausgesetzt. Gegen den Aussetzungsbeschluss vom 16.10.2017 richtet sich die vorliegende Beschwerde der Klägerin. Der Aussetzungsbeschluss nennt im Rubrum die AOK Rheinland-Hamburg als Beklagte, obgleich die Klage gegen die AOK Hessen gerichtet ist. Die Beklagte hat die Zurückweisung der Beschwerde beantragt und auf die Möglichkeit der Berichtigung des Beschlusses gemäß §§ 142, 138 SGG hingewiesen.
II.
Die statthafte und zulässige Beschwerde ist in der Sache erfolgreich.
Aufgrund der klaren materiellen Rechtslage und Entscheidungsreife der Beschwerde hat sich der Senat nicht veranlasst gesehen, ein Berichtigungsverfahren aufgrund eines offensichtlichen Versehen – möglicherweise basierend auf einem Fehler des Textverarbeitungssystems – im Vorfeld durch das Sozialgericht durchführen zu lassen; dieses kann von Amts wegen nachgeholt werden, ohne dass dafür Fristen bestünden.
Das Sozialgericht war veranlasst, den Haftungsbescheid, welcher aus Gründen rechtswidrig ist, die nicht im Zusammenhang mit dem Nachforderungsbescheid der DRV Bund vom 19.3.2015 stehen, aufzuheben und der Klage stattzugeben.
1. Nach § 114 Abs. 2 S. 1 Alt. 1 SGG kann das Gericht anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsstelle auszusetzen ist, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet An dieser Vorgreiflichkeit fehlt es vorliegend, denn die Rechtswidrigkeit des Haftungsbescheides hat das Sozialgericht unabhängig von dem Verfahren gegen die GbR zu entscheiden.
a. Für den Haftungsbescheid fehlt es an der wegen des Vermögenseingriffs (Art. 12 GG) erforderlichen, dem Gebot der Normenklarheit entsprechenden Rechtsgrundlage zu Gunsten der Beklagten. Die allgemeine Entscheidungsgrundlage § 28h SGB IV reicht nicht dafür aus, die handelnden Personen, nicht aber den Arbeitgeber (hier die GbR) für Beiträge haftbar zu machen, welche der Arbeitgeber nach der ausdrücklichen Regelung in § 28e SGB IV allein schuldet. Dafür bedürfte es einer ausdrücklichen Norm, wie sie im Beitragsrecht der Gesetzlichen Unfallversicherung in § 150 SGB VII sowie im Steuerrecht in § 191 AO zu finden sind.
Zudem ergibt sich das Fehlen der Rechtsgrundlage für einen Haftungsbescheid auch aus den Gesetzgebungsmaterialien. Im Entwurf des SGB IV-Einordnungsgesetzes vom 2.5.1988 – BT-Drs. 11/2221 – war in § 28e Abs. 4 SGB IV eine entsprechende Regelung enthalten (aaO, S. 6 und 22). Diese Regelung wurde aber im Gesetzgebungsverfahren gestrichen (BT-Drs. 11/3445 vom 28.11.1988, S. 8 u. 35).
b. Darüber hinaus können die GbR als Arbeitgeber sowie die beiden handelnden natürlichen Personen R. L. sowie A. für die nur einmal abzuführenden Beiträge allein als Gesamtschuldner haften. Dann aber hat der Sozialversicherungsträger, hier die Beklagte als Einzugsstelle, nach der Rechtsprechung des BSG (Urt. v. 30.03.2017, B 2 U 10/15 R) aus verfassungsrechtlichen Gründen ein Ermessen, welcher der Gesamtschuldner in welchem Umfange in Anspruch genommen wird. Eine Ermessensausübung ist im Bescheid der Beklagten vom 10.06.2016/Widerspruchsbescheid vom 20.10.2016 nicht erkennbar, so dass dieser wegen Ermessensnichtgebrauchs rechtswidrig und schon deshalb aufzuheben ist.
2. Eine Kostenentscheidung und ein Streitwertbeschluss hatten nicht zu ergehen. Das Beschwerdeverfahren gegen den Aussetzungsbeschluss ist kein eigenes Verfahren oder ein eigener Verfahrensabschnitt, sondern nur ein Zwischenstreit im noch anhängigen Rechtsstreit vor dem Sozialgericht (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 15.12.2012, Az.: L 1 KR 421/12 B; Keller in Mayer-Ladewig et.al., 12. Aufl., 2017, SGG, § 114 Rz. 9 mwN).
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.