Medizinrecht

Keine sofortige COVID-19-Schutzimpfung

Aktenzeichen  20 CE 21.321

Datum:
10.2.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BayVBl – 2021, 313
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BAYCoronaImpfV § 1 Abs. 1, Abs. 2, § 2, § 3, § 4
GG Art. 2 Abs. 2 S. 1, Art. 3 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Nach der CoronaImpfV vom 8.2.2021 ist es ausgeschlossen, Personen mit hoher Priorität (§ 3) in die Gruppe der Personen mit höchster Priorität (§ 2) im Wege einer Einzelfallentscheidung höherzustufen, auch wenn sie sich in einer Krebsbehandlung mit Chemotherapie befinden (Rn. 17 und 18) (redaktioneller Leitsatz)
2.  Ein Anspruch auf unverzüglich Impfung ergibt sich auch nicht aus einem unmittelbar aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG bzw. Art. 3 Abs. 1 GG abgeleiteten Teilhabeanspruch.   (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 26b E 21.393 2021-01-28 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 5.000 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der 78-jährige Beschwerdeführer, der an Krebs erkrankt ist und dem eine chemotherapeutische Behandlung bevorsteht, begehrt mit seinem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz eine unverzügliche Schutzimpfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2.
Der Antragsteller versuchte, vertreten durch seinen Prozessbevollmächtigten, seit dem 21. Januar 2021 erfolglos eine unverzügliche Verabreichung des Impfstoffes durch die Antragsgegnerin zu erwirken. Eine förmliche Ablehnung des Antrags erfolgte bisher nicht.
Mit Schreiben vom 26. Januar 2021, ergänzt durch Schreiben vom 27. und 28. Januar 2021, stellte der Antragsteller einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz.
Das Verwaltungsgericht lehnte den Antrag mit Beschluss vom 28. Januar 2021 ab. Der an Krebs erkrankte Antragsteller mit Wohnsitz in Bayern gehöre nicht zu den von § 2 CoronaImpfV erfassten Anspruchsberechtigten mit höchster Priorität, sondern wegen seines Alters gemäß § 3 Nr. 1 CoronaImpfV zu der Gruppe von Anspruchsberechtigten mit hoher Priorität, während Krebspatienten gemäß § 4 Nr. 2 lit. h CoronaImpfV zur Gruppe mit erhöhter Priorität zählten, die ausweislich von § 1 Abs. 2 Satz 1 CoronaImpfV erst nach der Berücksichtigung der Gruppe mit höchster Priorität berücksichtigt würden. Somit gehöre der Antragsteller nicht zu der von § 2 CoronaImpfV erfassten Gruppe, die gegenwärtig berücksichtigt werde.
Eine vorrangige Berücksichtigung des Antragstellers im Ermessenswege nach § 1 Abs. 2 Satz 2 CoronaImpfV komme nicht in Betracht. Nach § 1 Abs. 2 Satz 2 CoronaImpfV könnten innerhalb der nach den §§ 2 bis 4 CoronaImpfV vorgegebenen Gruppen auf Grundlage der jeweils vorliegenden infektiologischen Erkenntnisse, der jeweils aktuellen Empfehlung der Ständigen Impfkommission beim Robert-Koch-Institut (STIKO) und der epidemiologischen Situation vor Ort bestimmte Anspruchsberechtigte vorrangig berücksichtigt werden. Diese Vorschrift eröffne nach ihrem eindeutigen Wortlaut lediglich die Möglichkeit, den Antragsteller innerhalb seiner durch § 3 CoronaImpfV vorgegebenen Gruppe vorrangig zu berücksichtigen, nicht jedoch eine vorgezogene Berücksichtigung in der nach § 2 CoronaImpfV bestimmten Gruppe höchster Priorität, was einer Höherstufung in eine höhere Priorisierungsgruppe entspräche. Auch aus § 1 Abs. 2 Satz 1 CoronaImpfV folge kein Anspruch des Antragstellers auf Berücksichtigung zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Danach sollten die Länder und der Bund die Anspruchsberechtigten in der durch die §§ 2 bis 4 CoronaImpfV vorgezeichneten Reihenfolge berücksichtigen. Es handele sich hierbei um eine Soll-Vorschrift, d.h. im Regelfall sei die Verwaltung an die von der Verordnung vorgegebene Priorisierung gebunden. Nur in atypischen Ausnahmefällen sei eine Abweichung von den Priorisierungsvorgaben im Rahmen eines insoweit eingeschränkten Ermessens zulässig. Im vorliegenden Fall stehe der Sinn und Zweck der Priorisierungsvorschriften allerdings der Annahme eines atypischen Falles entgegen. Die von der Antragsgegnerin verfolgte Impfreihenfolge sei von sachlichen Kriterien getragen und halte sich im Rahmen des Gestaltungsspielraums.
Mit seiner Beschwerde beantragt der Antragsteller, die Beschwerdegegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Beschwerdeführer unverzüglich eine erste Schutzimpfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 verabreichen zu lassen. Bei dem Beschwerdeführer handele es sich um eine 78,5 Jahre alte Person. Der Beschwerdeführer lebe mit seiner erwerbstätigen Ehefrau in häuslicher Gemeinschaft. Sein Gesundheitszustand sei erheblich angegriffen, da bei ihm ein Rezidiv einer Haarzellenleukämie diagnostiziert worden sei, die sehr zeitnah mit einer Chemotherapie behandelt werden müsse. Aus diesem Grund bestehe ein extrem gesteigertes Risiko eines letalen Verlaufs bei Erkrankung an COVID-19. Um die gesundheitliche Situation mit Hinblick auf den hiesigen Antrag gerichtsfest zu dokumentieren, habe der Beschwerdeführer ein umfassendes medizinisches Gutachten erstellen lassen. Aufgrund der bevorstehenden Chemotherapie habe die Gutachterin hierbei insbesondere auch die in diesem Verfahren bereits eingereichten Blutwerte des Beschwerdeführers vor und nach der Chemotherapie inspiziert. Insbesondere mit Hinblick auf die anstehende Chemotherapie komme die Gutachterin zu dem Schluss, dass nach fachlich-medizinischem Ermessen dem Antragsteller mit höchster Dringlichkeit umgehend eine Schutzimpfung gegen das SARS-CoV-2-Virus und damit gegen Covid-19 zu gewähren sei.
Das Verwaltungsgericht habe bei seiner Entscheidung die Verordnung rechtsfehlerhaft ausgelegt und dabei sowohl die Reichweite der Verordnung als auch die bei der Auslegung der Verordnung anzulegenden verfassungsrechtlich gebotenen Maßstäbe verkannt. Insbesondere verkenne es, dass § 1 Abs. 2 S. 1 CoronalmpfV in Abgrenzung zu § 1 Abs. 2 S. 2 CoronalmpfV gerade eine Priorisierungsentscheidung zwischen den einzelnen, in §§ 2 bis 4 CoronalmpfV ausgewiesenen Gruppen, nicht nur ermögliche, sondern gerade auch vorsehe. Vorliegend sei neben dem zu ermittelnden Willen des Verordnungsgebers auch die Ermächtigungsgrundlage des § 20i Abs. 3 Nr.1 lit. a) SGB V maßgeblich zu berücksichtigen, die eine starre Abstufung nach dem Alter nicht vorsehe. Aus der Entstehungsgeschichte ergebe sich, dass die fachlich eingebundenen Stellen neben dem Alter auch ein erhöhtes Risiko für einen schweren oder tödlichen Verlauf durch einen vorbelasteten Gesundheitszustand berücksichtigt hätten. Auch seien Einzelfallentscheidungen vorgesehen gewesen. Dies habe das Verwaltungsgericht nicht berücksichtigt. Die überarbeitete Fassung der STIKO-Empfehlung vom 29. Januar 2021 (S. 59 f.) sehe ausdrücklich vor, dass bei der Priorisierung innerhalb der COVID-19-lmpfempfehlung der STIKO nicht alle Krankheitsbilder oder Impfindikationen berücksichtigt werden könnten. Deshalb seien Einzelfallentscheidungen möglich. Es obliege den für die Impfung Verantwortlichen, Personen, die nicht explizit genannt seien, in die jeweilige Priorisierungskategorie einzuordnen. Dies betreffe z.B. Personen mit seltenen, schweren Vorerkrankungen, für die bisher zwar keine ausreichende wissenschaftliche Evidenz bzgl. des Verlaufes einer COVID-19-Erkrankung vorliege, für die aber ein erhöhtes Risiko angenommen werden könne. Hierzu zähle der Antragsteller. Dies treffe auch für Personen zu, die zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr oder nicht mehr gleich wirksam geimpft werden könnten (z.B. bei unmittelbar bevorstehender Chemotherapie). Darüber hinaus seien Einzelfallentscheidungen möglich, wenn Lebensumstände mit einem nachvollziehbaren, unvermeidbar sehr hohen Infektionsrisiko einhergingen. Patienten mit Covid-19 und hämatologischer Erkrankung verstürben häufiger an Covid-19 als Patienten mit Covid-19 und onkologischer Erkrankung. Dabei erkläre sich die besondere Schwere dieses Einzelfalles nicht an der Chemotherapie allein und nicht an der hämatologischen Grunderkrankung allein, sondern in potenziert besonderer Weise an der zeitlich engen Folge beider Komponenten, nämlich an der Purin-Analogonbasierten Chemotherapie einer hämatologischen Grunderkrankung aus dem Formenkreis der B-Zell-Non-Hodgkin-Lymphome. Hieraus sowie aus Art. 2 Abs. 2 GG folge ein Anspruch des Antragstellers auf unverzügliche Impfung. Darüber hinaus führe eine priorisierte Berücksichtigung des Beschwerdeführers nicht zwingend dazu, dass eine andere priorisierte Person später den Impfstoff verabreicht bekomme. Der Beschwerdeführer sei bereit, sich auch kurzfristig zum Impfzentrum zu begeben, wenn ein anderer Termin nicht wahrgenommen worden sei bzw. wenn Impfstoff übriggeblieben sei. Weiter verkenne das Verwaltungsgericht, dass der Antragsteller keine Priorisierung gegenüber den Bewohnern von Alten- und Pflegeheimen begehre, sondern lediglich gegenüber den anderen Personen, die bereits in den nunmehr in Betrieb genommenen Impfzentren behandelt würden.
Mit Schriftsatz vom 9. Februar 2020 führte der Antragsteller noch aus, auch und insbesondere vor dem Hintergrund der neu gefassten Verordnung habe der Beschwerdeführer einen Anspruch auf unverzügliche Coronaschutzimpfung aus der CoronaImpfV. Die CoronalmpfV n.F. sehe in § 1 Abs. 2 S. 3 nunmehr eine Öffnungsklausel vor, auch eine Höherstufung von Anspruchsberechtigten zwischen den Gruppen der §§ 2 bis 4 CoronalmpfV sei möglich. Ein solches Verständnis der Verordnung ergebe sich auch aus den öffentlichen Stellungnahmen der politisch Verantwortlichen. Aufgrund der eindeutigen Aussagen verfange in diesem Kontext auch kein Hinweis darauf, dass der Verordnungsgeber ausschließlich auf die effiziente Organisation der Schutzimpfung mit dem Ziel der Verhinderung des Verwurfs von Impfdosen habe abstellen wollen. Denn ansonsten blieben die Personen, die hiermit gerade adressiert werden sollten, unberücksichtigt, was einen Verstoß gegen die dem Staat aus Art. 2 Abs. 2 i.V.m. 3 Abs. 3 S. 2 GG zukommenden Schutzpflichten darstellen würde. Trotz der nunmehr erfolgten Aktualisierung der Verordnung sei der Fall des Beschwerdeführers nicht vom Verordnungstext adressiert, sodass er hier zwingend prioritär zu berücksichtigen sei. Die Verordnung schweige bislang dazu, wie mit denjenigen Personen umzugehen sei, die nicht nur eines der in § 3 CoronalmpfV genannten Kriterien erfüllten, sondern gleich mehrere. Zu diesen vorgenannten Risikofaktoren trete erschwerend und ganz erheblich der Umstand hinzu, dass die CoronalmpfV in § 3 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. d nunmehr zwar die Personen mit malignen hämatologischen Erkrankungen in den Blick nehme, jedoch anstehende Chemotherapien überhaupt nicht als risikoerhöhende Faktoren benenne. Sofern in § 1 Abs. 2 S. 3 CoronalmpfV keine Härtefallregelung gesehen werde, ergebe sich der Anspruch des Antragstellers jedenfalls unmittelbar aus den Grundrechten. Dies gelte insbesondere im Fall der Verfassungswidrigkeit der Verordnung.
Die Antragsgegnerin tritt der Beschwerde entgegen und führt in tatsächlicher Hinsicht im Wesentlichen noch aus, die Landeshauptstadt München habe seit dem Impfstart am 27. Dezember 2020 bislang (Stand: 08.02.2021) insgesamt 45.575 Impfdosen erhalten. Die Verteilung sei dabei ausschließlich nach den in der CoronalmpfV festgelegten Priorisierungs-Kriterien erfolgt. Als prioritär behandelt würden daher die in § 2 CoronalmpfV festgelegten Personengruppen. Mit rund 13.400 Impfdosen, die an die Münchner Kliniken sowie Angehörige des Rettungsdienstes und an der notärztlichen Versorgung teilnehmendes Personal abgegeben worden seien, solle die medizinische Versorgung im Stadtgebiet flächendeckend sichergestellt werden. Rund 11.500 Erst- und 8.400 Zweitimpfungen seien an Personen, die in den vollstationären Pflegeeinrichtungen zur Behandlung, Betreuung oder Pflege älterer oder pflegebedürftiger Menschen behandelt, betreut oder gepflegt werden oder tätig seien, durchgeführt worden. Weitere rund 6.000 Impfdosen seien im Impfzentrum am Standort der Messe München an Personen der in § 2 CoronalmpfV beschriebenen Personengruppen verimpft worden. Die Personengruppe mit der höchsten Priorität nach § 2 CoronalmpfV umfasse ca. 120.000 Menschen. Es hätten bislang lediglich 35 Impfdosen verworfen werden müssen.
Die Landesanwaltschaft Bayern hat sich am Beschwerdeverfahren beteiligt und keinen eigenen Antrag gestellt. In der Sache verteidigt sie die Entscheidung des Verwaltungsgerichts.
Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte Bezug genommen.
II.
Das Beschwerdevorbringen, auf das sich die Prüfung des Senats beschränkt (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigt keine Änderung der erstinstanzlichen Entscheidung. Die Ablehnung des Eilantrags erweist sich im Ergebnis (vgl. BayVGH, B.v. 21.5.2003 – 1 CS 03.60 – NVwZ 2004, 251 = juris Rn. 16; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 146 Rn. 29 ff.) als richtig.
1. Ein Anordnungsanspruch, der im Rahmen des Erlasses einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO eine Verpflichtung des Antragsgegners zur unverzüglichen Impfung des Antragstellers begründen könnte, wurde vom Antragsteller nicht glaubhaft gemacht. Ein solcher Anspruch ergibt sich für den Antragsteller bei summarischer Prüfung weder aus den Bestimmungen der Coronavirus-Impfverordnung – CoronaImpfV – noch unmittelbar aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Der Senat hat dabei die Rechtslage im Zeitpunkt seiner Entscheidung zugrunde zu legen. Danach ist ein möglicher Anspruch nach der Verordnung zum Anspruch auf Schutzimpfung gegen das Corona-Virus SARS-CoV-2 (Coronavirus-Impfverordnung – CoronaImpfV) vom 8. Februar 2021 (BAnz AT 08.02.2021) zu beurteilen. Durch diese Verordnung werden u.a. die Voraussetzungen des Impfanspruches nach § 20i Abs. 3 Satz 7 SGB V i.V.m. § 5 Absatz 2 Satz 1 Nr. 4 Buchstabe c und f IfSG geregelt.
a) Der behauptete Anspruch dürfte sich gegen den richtigen Antragsgegner richten. Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 und 1 CoronaImpfV sind die Länder für die Leistungserbringung grundsätzlich zuständig. Danach werden die Leistungen nach § 1 Absatz 1 CoronaImpfV in Impfzentren und durch mobile Impfteams, die den Impfzentren angegliedert sind, erbracht. Die Impfzentren werden von den Ländern oder im Auftrag der Länder errichtet und betrieben. Für eine entsprechende ausdrückliche Beauftragung der unteren Gesundheitsbehörden ist nichts ersichtlich. Allerdings sind nach § 3 Abs. 2 GDVG die unteren Behörden für Gesundheit, Veterinärwesen und Verbraucherschutz sachlich zuständig, soweit nichts anderes bestimmt ist. Die Antragsgegnerin nimmt die Aufgaben der unteren Gesundheitsbehörde nach Art. 4, 3 Abs. 2 GDVG, § 2 Abs. 2 GesV wahr. Damit ist im einstweiligen Rechtsschutzverfahren davon auszugehen, dass die Antragsgegnerin als untere Gesundheitsbehörde für die Erfüllung des Impfanspruches zuständig ist (so wohl auch der Wille des Bayerischen Kabinetts, vgl. https://www.bayern.de/bericht-aus-der-kabinettssitzung-vom-27-oktober-2020/). Regelungen des Freistaats Bayern, welche das weitere Verfahren der Leistungserbringung regeln, sind darüber hinaus nicht ersichtlich.
b) Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Er hat weder einen Anspruch aus § 1 Abs. 1 Satz 1 CoronaImpfV noch einen unmittelbaren aus der Verfassung abgeleiteten Teilhabeanspruch aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG bzw. Art. 3 Abs. 1 GG. Die allgemein bekannte Knappheit der Impfstoffe ermöglicht eine Teilhabe nur im Rahmen der aktuell zur Verfügung stehenden Kapazitäten und erfordert daher in jedem Fall eine Priorisierung (LSG Niedersachsen-Bremen, B.v. 2.2.2021 – L 5 SV 1/21 B ER – juris). Es liegt auch kein atypischer Einzelfall vor, der es ausnahmsweise gebietet, den Antragsteller in die Gruppe mit höchster Priorität aufzunehmen und ihm innerhalb dieser Gruppe vorrangig eine Impfung zu ermöglichen.
aa) Der Antragsteller hat zwar im Grundsatz einen Anspruch auf eine Impfung gegen das Coronavirus, bei eingeschränkter Verfügbarkeit von Impfstoffen nicht jedoch auf eine unverzügliche Impfung im Rahmen der höchsten Priorität (vgl. § 1 Abs. 1 CoronaImpfV), sondern – aufgrund seines Alters von über 70 Jahren und seiner Krebserkrankung – in der Priorisierungsstufe der Gruppe 2 (§ 3 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 Buchstabe d). Die vorgenommene Priorisierung ist dabei grundsätzlich nicht zu beanstanden. Sie entspricht im Wesentlichen den Beschlussempfehlungen der am RKI angesiedelten Ständigen Impfkommission nach § 20 Abs. 2 IfSG – STIKO (vgl. zuletzt den „Beschluss der STIKO zur 2. Aktualisierung der COVID-19-Impfempfehlung und die dazugehörige wissenschaftliche Begründung“, Stand der Aktualisierung vom 29. Januar 2021; abzurufen unter: RKI – Impfungen A – Z – STIKO-Empfehlungen zur COVID-19-Impfung – Epidemiologisches Bulletin -; aufgerufen hier zuletzt am 8. Februar 2021). Der Senat hat keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass diese Empfehlungen nicht auf den jeweils neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen basieren und regelmäßig evaluiert werden (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, B. v. 2.2.2021 – L 5 SV 1/21 B ER – juris).
Durch die Änderung der CoronaImpfV mit Verordnung vom 8. Februar 2021 ist die Einstufung nunmehr eindeutig. Sowohl aufgrund seines Alters als auch seines sehr hohen Risikos für einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf nach einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 aufgrund seiner malignen hämatologischen Erkrankung steht dem Antragsteller lediglich eine Schutzimpfung mit hoher Priorität nach § 3 CoronaImpfV zu, die bei der gegenwärtigen Sachlage, welche durch eine generelle Knappheit der Impfstoffe geprägt ist, unter keinem Gesichtspunkt zu einem sofortigen Impfanspruch führen kann, zumal bislang nicht einmal die Hälfte der impfberechtigten Mitglieder der Priorisierungsstufe 1 im Gebiet der Antragsgegnerin geimpft wurde. Der Umstand, dass eine Person wie der Antragsteller gleich mehrere Kriterien einer Priorisierungsgruppe erfüllt, führt nicht dazu, dass sie im Ermessenswege in die nächsthöhere Priorisierungsgruppe gehoben wird, sondern kann ggf. im Rahmen des § 1 Abs. 2 Satz 1 CoronaImpV bei einer Priorisierungsentscheidung innerhalb einer Gruppe berücksichtigt werden.
Durch die Neuregelung ist aber auch klargestellt, dass eine Einzelfallentscheidung dahingehend Personen mit hoher Priorität nach § 3 in die Gruppe der Personen mit höchster Priorität nach § 2 höherzustufen, aus Priorisierungsgründen grundsätzlich nicht in Betracht kommt. Dies folgt daraus, dass die Verordnung Personen, bei denen ein sehr hohes oder hohes Risiko für einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf nach einer Infektion mit den Coronavirus SARS-CoV-2 lediglich in den Priorisierungsgruppen des § 3 und § 4 nennt und eine Höherstufung lediglich im Fall des § 4 Abs. 1 Nr. 4 lit. i, § 6 Abs. 6 CoronaImpfV von der erhöhten Priorität in die Gruppe mit hoher Priorität vorgesehen ist. Das gilt unabhängig davon, ob die Person sich unmittelbar in einer Krebsbehandlung befindet. Nachdem in der Neufassung eine entsprechende Höherstufung in die Gruppe mit höchster Priorität nach § 2 CoronaImpfV ausdrücklich nicht vorgesehen ist, kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass hier eine planwidrige Regelungslücke vorliegt, so dass eine entsprechende Anwendung der Vorschriften ausscheidet. An dieser Einschätzung ändert auch nicht die zusätzlich in die Verordnung aufgenommene Regelung des § 1 Abs. 2 Satz 2 CoronaImpfV, wonach von der Reihenfolge nach Satz 1 in Einzelfällen abgewichen werden kann, wenn dies für eine effiziente Organisation der Schutzimpfungen, insbesondere bei einem Wechsel von einer der in Satz 1 genannten Gruppen zur nächsten, und zur kurzfristigen Vermeidung des Verwurfs von Impfstoffen notwendig ist. Denn diese Regelung erweist sich angesichts ihres klaren Wortlaut als objektives, allein einer möglichst effizienten Impforganisation dienendes Recht und verleiht der einzelnen Person kein subjektiv-öffentliches Recht auf Berücksichtigung eines besonderen individuellen Schutzbedarfs.
bb. Der Antragsteller kann aber darüber hinaus auch keinen Anspruch auf sofortige Berücksichtigung unter dem Gesichtspunkt eines atypischen Einzelfalls geltend machen. Denn gemessen an den Bestimmungen der Neufassung der CoronaImpfV ist der Fall des Antragstellers gerade nicht atypisch, weil die Fälle der Personen, bei denen ein sehr hohes oder hohes Risiko für einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf nach einer Infektion mit den Coronavirus SARS-CoV-2 in §§ 3 und 4, 6 Abs. 6 CoronaImpfV geregelt sind. Dabei kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Verordnungsgeber Krebserkrankte, die sich vor oder in einer Chemotherapie befinden, nicht unter die Fallkonstellation § 3 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe d CoronaImpfV zählen wollte.
cc. Der Antragsteller kann sich auch nicht zur Verwirklichung seines Rechtsschutzzieles einer unverzüglichen Impfung auf einen unmittelbar aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG bzw. Art. 3 Abs. 1 GG abgeleiteten Teilhabeanspruch stützen, weil auch dieser sich wegen der aktuell begrenzten Kapazität der Impfstoffe an nachvollziehbaren, wissenschaftlich basierten Erkenntnissen orientieren muss und damit ähnlichen Kriterien folgen müsste wie der Anspruch nach § 1 Abs. 1 Satz 1 CoronaImpfV. Diesem unmittelbar aus der Verfassung herzuleitenden Anspruch käme insbesondere Bedeutung zu, wenn man aufgrund eines Verstoßes gegen den Parlamentsvorbehalt zur Auffassung käme, dass die CoronaImpfV verfassungswidrig wäre. Bedeutsam ist hier insbesondere der Hinweis des Antragstellers auf die überarbeitete Fassung der STIKO-Empfehlung vom 29. Januar 2021 (S. 59 f.), die ausdrücklich vorsehe, dass bei der Priorisierung innerhalb der COVID-19-lmpfempfehlung von der STIKO nicht alle Krankheitsbilder oder Impfindikationen berücksichtigt werden könnten. Deshalb seien Einzelfallentscheidungen möglich. Es obliege den für die Impfung Verantwortlichen, Personen, die nicht explizit genannt seien, in die jeweilige Priorisierungskategorie einzuordnen. Dies betreffe z.B. Personen mit seltenen, schweren Vorerkrankungen, für die bisher zwar keine ausreichende wissenschaftliche Evidenz bzgl. des Verlaufes einer COVID-19-Erkrankung vorliege, für die aber ein erhöhtes Risiko angenommen werden könne. Dies treffe auch für Personen zu, die zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr oder nicht mehr gleich wirksam geimpft werden könnten, wie z.B. den Antragsteller aufgrund seiner unmittelbar bevorstehenden Chemotherapie. Der Senat kann aber weder hieraus noch aus anderen Gesichtspunkten den Schluss ziehen, dass der Antragsteller deswegen von Verfassungs wegen ohne weiteres einen Anspruch auf unverzügliche Impfung hätte. Vielmehr ist die hinter der Entscheidung des Verordnungsgebers stehende Bewertung, derartige Fälle nicht in einer Gruppe mit höchster Dringlichkeit zu berücksichtigen, auch in diesem Zusammenhang jedenfalls nicht offensichtlich sachwidrig.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 47 Abs. 1, 2 i.V.m. § 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG. Da das Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz die Hauptsacheentscheidung vorwegnimmt, ist eine Reduzierung des Streitwerts nicht angezeigt (vgl. Nr. 1.5 Satz 2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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