Medizinrecht

Keine Versicherungspflicht wegen selbständiger Tätigkeit eines Berufsfachschullehrers

Aktenzeichen  S 30 R 850/16

Datum:
6.7.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
ASR – 2018, 21
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB IV § 7a Abs. 1 S. 1
SGG § 193, § 197

 

Leitsatz

1 Begrenzte Aussagekraft hat das Tätigwerden in der betrieblichen Sphäre des Auftraggebers. Künstlerischer Auftritt, behördliche oder betriebliche Aus- und Fortbildung, technischer Service oder Bauleistungen können naturgemäß nur beim Auftraggeber erbracht werden und nicht in den Räumen des Dienstleisters. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
2 Die Kriterien “Kapitaleinsatz” und “Unternehmerrisiko” sind bei der Beurteilung von Dienstleistungen wenig aussagekräftig; im Dienstleistungsbereich besteht das typische Risiko in der Ungewissheit künftiger Aufträge. (Rn. 17 – 18) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Beklagte wird unter Aufhebung der Bescheide vom 16.12.2015 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 26.04.2016 zu der bescheidsmäßigen Feststellung verurteilt, dass der Beigeladene seine Aufgabe für die Klägerin in selbstständiger Tätigkeit erbringt und demgemäß nicht der Versicherungspflicht unterliegt.
II. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin und die Gerichtskosten.

Gründe

Die Klage wurde nach Durchführung des gesetzlich vorgeschriebenen Widerspruchsverfahrens form- und fristgerecht beim zuständigen Gericht erhoben und ist somit zulässig.
Die Klage ist in der Sache auch offenkundig begründet. § 7 a Abs. 1 S. 1 Sozialgesetzbuch IV (SGB IV ) ermöglicht ein Anfrageverfahren über die Frage einer strittigen Beschäftigung in Abgrenzung zu einer selbstständigen Tätigkeit. Abs. 1 S. 3 der Vorschrift begründet eine bundesweite Sonderzuständigkeit der Beklagten für entsprechende Statusfeststellungen. Nach Abs. 2 der Vorschrift entscheidet die Beklagte aufgrund einer Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalles, ob eine Beschäftigung vorliegt.
In der modernen Dienstleistungsgesellschaft ist es zur alltäglichen Erscheinung geworden, dass hoch qualifizierte Personen haupt- oder nebenberuflich für mehrere Arbeitgeber oder Auftraggeber tätig werden. Geradezu typisch ist es, mit eigener körperlicher Kraft, persönlichem Wissen, originärer organisatorischer Kompetenz, höchstpersönlicher künstlerischer Befähigung und/oder selbst erstellter Software verschiedene Kunden, Betriebsstätten, Lehreinrichtungen, Baustellen oder Auftrittsorte aufzusuchen. Zur Abgrenzung zwischen Selbstständigkeit und abhängiger Beschäftigung ist das Kriterium einer nur teilzeitigen Inanspruchnahme nicht geeignet. Begrenzte Aussagekraft hat auch das Tätigwerden in der betrieblichen Sphäre des Auftraggebers. Künstlerischer Auftritt, behördliche oder betriebliche Aus- und Fortbildung, technischer Service oder Bauleistungen können naturgemäß nur beim Auftraggeber erbracht werden und nicht in den Räumen des Dienstleisters. Auch die zeitliche Eingliederung der Dienstleistung in ein System des Stundenplans oder der mehr oder weniger flexiblen vorherigen Vereinbarungen ist für sich genommen noch nicht aussagekräftig. Der zu Reparaturen ins Haus gerufener Handwerker muss sich an einen vereinbarten Termin halten wie der Arzt, der seinen Patienten erwartet. Trotzdem sind beide selbstverständlich nicht Teilzeitarbeitnehmer ihrer Kunden.
Unerlässlich ist die Abwägung, in welchem Maße die erbrachte Leistung selbstgestaltet oder vor- und fremdbestimmt ist. Der ins betriebliche Fortbildungsseminar geladene Kommunikationswissenschaftler, der aus einer bestimmten beruflichen Praxis heraus zu speziellen Lehraufträgen in die Schule, Fachschule oder Hochschule berufene Dozent oder der zu öffentlichem Auftritt geladene Kabarettist, Schriftsteller oder Vortragskünstler hat seinen Auftrag jeweils wegen einer unverwechselbaren persönlichen Kompetenz erhalten, die vielfach auch ihren unmittelbaren Ausdruck im frei vereinbarten Honorar findet. Typisch für den Einsatz dieser Personen, der in selbstständiger Tätigkeit erbracht wird, ist die verlangte und erbrachte komplette persönliche, körpersprachliche und stimmliche Präsenz. Der eigene Name ist jeweils Markenzeichen. Ohne den Bezug zum Namen und zur oftmals auch visuellen Bekanntheit von Gestalt und Gesicht ist die Beauftragung eines öffentlich auftretenden literarischen Vortragskünstlers oder referierenden Politikers nicht vorstellbar.
Je enger und schematischer jedoch das Spektrum der zu erfüllenden Aufgaben ist und je selbstverständlicher die herangezogene Dienstleistungskraft austauschbar ist, umso weniger ist ein unternehmerisches Profil als Grundlage einer Selbstständigkeit beschreibbar. Die erkennende Kammer hatte und hat immer wieder unter dem Aspekt der Statusfeststellung die Position von Taxifahrern, LKW-Fahrern, Busfahrern, Bedienern von Bau- und Forstwirtschaftsmaschinen, Hausmeistern, Buchhaltungskräften, Teilzeitpflegekräften usw. zu beurteilen, von denen jeweils nur der Nachweis des entsprechenden Führerscheins oder der formalen beruflichen Qualifikation gefordert wird und die bei der Erfüllung ihrer Aufgaben weder irgendeinen nennenswerten zeitlichen und inhaltlichen Spielraum noch auch nur die rechtliche Befugnis zu irgendeiner kreativen Ausgestaltung ihrer Dienstleistung haben. Dass ein mit fremdem Fahrzeug arbeitender Kurierdienstfahrer seine Fahrtrouten selbst bestimmen kann und dass sich der Hausmeister eines Grundbestandes eigenen Werkzeugs bedient, genügt zur Anerkennung einer Selbstständigkeit nicht.
Vorliegend ist sehr ausführlich dargelegt und auch unschwer erkennbar, dass der Beigeladene dem von der Beklagten im Ablehnungsbescheid selbst skizzierten Typus der selbstständig tätigen Lehrkraft entspricht. Er füllt in eigener Verantwortung die Stichworte des Lehrplans mit Lehrinhalten aus und trägt den Stoff eigenverantwortlich vor. Seine administrativen Aufgaben am Rande werden von der Beklagten bei weitem überbewertet. Die Kontrolle der Anwesenheit bei Beginn der Stunde fordert nur einen winzigen zeitlichen Bruchteil der gesamten Unterrichtsstunde. Das lebendige Unterrichtsgespräch enthält selbstverständlich auch die gelegentliche Rückfrage nach dem ausreichenden Verständnis des gelehrten Stoffs. Mit der Überprüfung der Anwesenheitsliste wird der Beklagte aber genauso wenig zum Verwaltungsangestellten des Lehrinstituts wie er mit dieser gelegentlichen Rückfrage zum staatlichen Prüfer wird. Der Beigeladene entspricht klassisch dem Bild des selbstständigen Lehrbeauftragten, ohne den die gesamte berufliche Aus- und Fortbildung im öffentlichen Dienst wie in der freien Wirtschaft nicht denkbar wäre.
Die von der Beklagten immer wieder herangezogenen Kriterien „Kapitaleinsatz“ und „Unternehmerrisiko“ sind bei der Beurteilung von Dienstleistungen wenig aussagekräftig. Der eindeutig selbstständige bzw. freiberufliche Schriftsteller, Psychotherapeut, Unternehmensberater oder Rechtsanwalt setzt genauso wenig „Kapital“ ein wie der bei einer Zeitung vollzeitbeschäftigte Journalist oder der leitende Angestellte eines Unternehmens. Die für viele geistig-kommerziell-kommunikative Berufe notwendige Vorhaltung eines häuslichen Büros mit PC, Telefon und Schreibtisch sowie der Besitz eines Autos sind so selbstverständlich geworden, dass sich aus einer solchen Infrastruktur und ihrer mehr oder weniger intensiven beruflichen Nutzung keine bedeutsamen Schlüsse ziehen lassen. Auch die Mehrzahl der zweifellos nicht selbstständigen Tageszeitungsredakteure, Gymnasiallehrer, Hochschulprofessoren und Richter halten sich zuhause eine wissenschaftlich-schreibtechnisch-kommunikative Arbeitsbasis.
Hinsichtlich des Unternehmerrisikos müsste die Beklagte zur Kenntnis nehmen, dass im Dienstleistungsbereich gewiss nicht die einzelne vereinbarte Arbeitsstunde oder der einzelne Arbeitstag in der Ungewissheit über einen Erlös begonnen werden, sondern dass das typische Risiko hier in der Ungewissheit künftiger Aufträge besteht. Eine betriebswirtschaftliche Risikokalkulation kann im Dienstleistungsbereich naturgemäß nicht in derselben Weise stattfinden wie sie bei der Produktion von Waren möglich ist, bei der die Wahrscheinlichkeiten eines schnellen Abverkaufs, eines zögernden Verkaufs erst nach wiederum kostspieliger Lagerhaltung, einer billigen Abgabe von Überbeständen und schließlich einer vollständigen Abschreibung des unverkäuflichen Rests mit betriebswirtschaftlichen Kurven aufgezeichnet werden können. Unstrittig unterliegt der Beigeladene einem Risiko künftiger Beauftragung, das durch keinen Kündigungsschutz und durch keine sonstige Bestandsgarantie abgefedert ist.
Die Kostenentscheidungen beruhen auf §§ 193 und 197 a des Sozialgerichtsgesetzes (SGG ).


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