Medizinrecht

Kostenübernahme für eine Sportprothese – unmittelbarer Behinderungsausgleich

Aktenzeichen  L 4 KR 339/18

Datum:
30.4.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 20255
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB IX § 2
SGB V § 13 Abs. 3 a S. 9
SGB V § 33 Abs. 1 S. 1
SGB XII § 53
SGB XII § 54 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Die Förderung des Freizeitsports und des Vereinssports gehört grundsätzlich nicht zu den Aufgaben der Krankenkassen bei der Hilfsmittelversorgung.
2. Ein wesentlicher Gebrauchsvorteil und damit ein Anspruch auf Versorgung mit Sportprothesen ist aber jedenfalls nicht ausgeschlossen, wenn normale Laufprothesen keine sportliche Betätigung ermöglichen, insbesondere wenn im konkreten Einzelfall die Klägerin aufgrund körperlicher Einschränkungen an den oberen und unteren Extremitäten nicht in der Lage ist, eine Sportart (hier außer Dressurreiten ohne Beinprothesen) auszuüben.
3. Der durch das Bundesteilhabegesetz geänderte Behinderungsbegriff in § 2 SGB IX gebietet die Zulassung von Ausnahmen von dem Rechtssatz, die Förderung des Freizeitsports und des Vereinssports gehöre nicht zu den Aufgaben der Krankenkassen bei der Hilfsmittelversorgung.
4. Damit ist bei der Prüfung von Ansprüchen nach § 33 SGB V nach aktuellem Recht individuellen Wünschen größeres Gewicht beizumessen als nach der früheren Rechtslage, die dem Urteil des BSG vom 21.03.2013 zu Grunde lag.

Verfahrensgang

S 7 KR 306/15 2018-04-12 Urt SGMUENCHEN SG München

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 12.04.2018 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat auch die außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Berufungsverfahren zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.

Gründe

Die Berufung ist zulässig; insbesondere ist sie ohne Zulassung statthaft (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG) und wurde form- und fristgerecht eingelegt (§ 151 SGG).
Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das SG hat der Klage zutreffend stattgegeben. Der Klägerin steht ein Anspruch auf Versorgung mit den beantragten Sportprothesen zu.
1. Die Klägerin kann den geltend gemachten Anspruch allerdings nicht auf eine Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a SGB V stützen. Die Genehmigungsfiktion sowie die Regelungen aus § 13 Abs. 3a SGB V insgesamt sind auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation nicht anwendbar (§ 13 Abs. 3a Satz 9 SGB V). Die begehrten Sportprothesen dienen keiner (kurativen) Krankenbehandlung, sondern allein dem (unmittelbaren) Behinderungsausgleich und haben daher medizinisch-rehabilitativen Charakter (vgl. zu einer Definitiv-Unterschenkelprothese mit Prothesenfuß BSG, Urteil vom 15.03.2018, B 3 KR 18/17 R). Diese Rechtsprechung ist auf den vorliegenden Fall übertragbar; sie ist den Beteiligten bekannt und muss hier nicht im Einzelnen wiedergegeben werden.
2. Auch auf § 33 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 SGB V (Vorbeugung einer drohenden Behinderung) kann der Anspruch nicht mit Erfolg gestützt werden. Wie das SG zutreffend ausgeführt hat, sind die begehrten Sportprothesen nicht geeignet und erforderlich, einer Behinderung vorzubeugen. Ein Ausgleich oder die Verbesserung der Fehlstellung der Lendenwirbelsäule ist durch die Verordnung von Sportprothesen nicht zu erreichen, da ein ruhiger Stand mit diesen Prothesen nicht möglich ist und eine ständige Gewichtsverlagerung erfolgen muss. Ein dauernder Einfluss mit Verhinderung einer pathologischen Lordose ist durch die Sportprothesenversorgung weder möglich noch zu erwarten und aus orthopädischer Sicht nicht zu konstruieren. Dies hat der gerichtliche Sachverständige Dr. W. in seinem Gutachten vom 03.05.2017 überzeugend und nachvollziehbar dargelegt.
3. Die Klägerin kann sich jedoch mit Erfolg auf § 33 Abs. 1 Satz 1 Var. 3 SGB V (Ausgleich einer bestehenden Behinderung) berufen. Danach haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind.
Bei den streitgegenständlichen Sportprothesen handelt es sich um Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich, die weder Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens noch nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Sie sind im konkreten Einzelfall der Klägerin auch erforderlich, weil sie gegenüber den vorhandenen Prothesen einen wesentlichen Gebrauchsvorteil bieten, indem sie das Laufen ermöglichen.
Der Senat geht von den Grundsätzen aus, die das BSG in seinem Urteil vom 21.03.2013 (B 3 KR 3/12 R) formuliert hat; auf die Ausführungen des BSG wird Bezug genommen. Dabei verkennt der Senat nicht, dass das BSG in der genannten Entscheidung ausgeführt hat, die Förderung des Freizeitsports und des Vereinssports gehöre nicht zu den Aufgaben der Krankenkassen bei der Hilfsmittelversorgung (a.a.O., Rn. 9). Dieser Rechtssatz kann jedoch auf den Fall der Klägerin keine Anwendung finden.
a) Das BSG hat den zitierten Rechtssatz bereits in dem Urteil vom 21.03.2013 relativiert. Denn es hat hervorgehoben, dass eine normale Laufprothese dem dortigen Kläger ebenfalls sportliche Betätigungen „in einem erheblichen Maße“ bzw. „in nennenswertem Umfang“ ermögliche (a.a.O., Rn. 23). Daraus folgt für den Senat, dass das BSG einen wesentlichen Gebrauchsvorteil und damit einen Anspruch auf Versorgung mit Sportprothesen jedenfalls nicht ausschließt, wenn normale Laufprothesen keine sportliche Betätigung ermöglichen. So liegt es hier.
aa) Dem Kläger in dem vom BSG entschiedenen Fall war ein Unterschenkel amputiert worden; er ging – ohne die streitgegenständliche Sportprothese – regelmäßig zum Schwimmen und in ein Fitnessstudio, fuhr Rad, wanderte, spielte Tischtennis und betätigte sich in einer Behindertensportgruppe als Sitzballspieler (BSG, a.a.O., Rn. 2).
bb) Die Klägerin im vorliegenden Fall ist körperlich wesentlich stärker eingeschränkt. Sie leidet an Dysmelie in Form von Fehlen beider Beine ab dem distalen Oberschenkeldrittel und schweren Funktionsstörungen im Bereich der Ellenbogen und Hände. Der gerichtliche Sachverständige Dr. W. hat dargelegt, dass eine Fehlanlage beider Ellenbogengelenke besteht. Linksseitig ist eine Beugung/Streckung von 90/10/0° möglich; rechtsseitig besteht eine in 40° kontrakte Gelenkstellung; eine Beugung oder Streckung ist nicht möglich. Auf beiden Seiten besteht keine Drehfähigkeit der Unterarme. Es liegt ein dreigliedriger Aufbau der Hände nach plastischer Operation vor; zumindest ein angedeuteter Zangen- und Schlüsselgriff zwischen Daumen und Restfingern ist möglich. Außerdem leidet die Klägerin nach dem Befundbericht der Praxis Dr. L./Dr. Z. vom 25.10.2016 an einer Spina bifida.
Mit diesen Beeinträchtigungen ist die Klägerin nicht in der Lage, eine andere Sportart auszuüben als Dressurreiten. Dies wird ihr jedoch gerade nicht durch die vorhandenen Prothesen ermöglicht, weil sie bei dieser Sportart überhaupt keine Beinprothesen benötigt. Dagegen sind – wie bereits das SG festgestellt hat – insbesondere Ballsportarten, Handbikefahren und Schwimmen aufgrund der Funktionseinschränkungen der oberen Extremitäten ausgeschlossen. Liegeradfahren ist nur auf ebenen Flächen – und damit nur sehr eingeschränkt – möglich. Der Senat ist hiervon auf Grund der Angaben der Klägerin überzeugt, die den festgestellten Funktionseinschränkungen entsprechen und denen auch die Beklagte nicht widersprochen hat.
b) Der durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) geänderte Behinderungsbegriff in § 2 SGB IX gebietet die Zulassung von Ausnahmen von dem Rechtssatz, die Förderung des Freizeitsports und des Vereinssports gehöre nicht zu den Aufgaben der Krankenkassen bei der Hilfsmittelversorgung. In seinem Urteil vom 15.03.2018 (B 3 KR 18/17 R) hat das BSG auf die Änderung durch das BTHG hingewiesen.
Bei der Prüfung eines Anspruchs aus § 33 SGB V ist das gesamte materielle und soziale Umfeld einschließlich der individuellen privaten und beruflichen Lebensgestaltung zu ermitteln und auf dieser Basis zu entscheiden, ob das begehrte Hilfsmittel im alltäglichen Lebensumfeld wesentliche Gebrauchsvorteile bietet, die die Klägerin nach ihren individuellen Fähigkeiten auch tatsächlich nutzen kann, bzw. welches konkrete Versorgungskonzept bei ihr zur Bewältigung des Alltagslebens anstelle dessen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich ist.
Dabei ist mit Blick auf zwischenzeitlich eingetretene Rechtsänderungen zu beachten, dass die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der Tatsacheninstanz maßgebend ist. Für den Versorgungsanspruch nach § 33 SGB V ist daher mit zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber inzwischen mit dem BTHG vom 23.12.2016 den Behinderungsbegriff in § 2 SGB IX idF des BTHG ausdrücklich entsprechend dem Verständnis der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) neu gefasst und dabei dem Wechselwirkungsansatz noch mehr Gewicht beigemessen hat als nach dem bis dahin geltenden Recht. Danach kommt es nicht allein auf die wirklichen oder vermeintlichen gesundheitlichen Defizite an. Im Vordergrund stehen vielmehr das Ziel der Teilhabe (Partizipation) an den verschiedenen Lebensbereichen sowie die Stärkung der Möglichkeiten einer individuellen und den persönlichen Wünschen entsprechenden Lebensplanung und -gestaltung unter Berücksichtigung des Sozialraumes und der individuellen Bedarfe zu wohnen (BSG, a.a.O., Rn. 44 f. unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien).
Für den Senat folgt daraus, dass bei der Prüfung von Ansprüchen nach § 33 SGB V nach aktuellem Recht individuellen Wünschen größeres Gewicht beizumessen ist als nach der früheren Rechtslage, die noch dem zitierten Urteil vom 21.03.2013 zu Grunde lag. Dabei ist auch die Förderung von Freizeitsport durch eine Hilfsmittelversorgung nicht ausgeschlossen.
Im Leben der Klägerin spielt – wie ihre Einvernahme durch den Senat ergeben hat – Sport eine herausragende Rolle; er ist ein wesentlicher Teil ihres außerberuflichen Alltagslebens. Die Klägerin übt Dressurreiten als Leistungssport aus; sie ist Mitglied im A.. Zusätzlich möchte sie Laufen als weitere Sportart ausüben, was ihr mit den vorhandenen Prothesen nicht möglich ist. Dabei handelt es sich um einen nachvollziehbaren persönlichen Wunsch hinsichtlich ihrer individuellen Lebensgestaltung, gerade weil ihr auf Grund des komplexen Behinderungsbildes, das auch den Gebrauch der Arme stark einschränkt, weitere Sportarten ohnehin nicht zugänglich sind. Soweit sie mit anderen Menschen gemeinsam laufen will, macht sie geleichzeitig einen Bedarf an Integration geltend. Die Klägerin kann die begehrten Sportprothesen auch nach ihren individuellen Fähigkeiten tatsächlich nutzen; dies ergibt sich aus der Stellungnahme der Firma P. Orthopädietechnik, die die Klägerin als Anlage zum Schriftsatz vom 14.09.2015 im erstinstanzlichen Verfahren vorgelegt hat. Dort ist ausgeführt, die Klägerin habe im Rahmen eines Sportcamps an einem aktiven Lauftraining teilgenommen. Dabei habe sich gezeigt, dass sie mit Sportprothesen gut zurechtgekommen sei. Diesbezügliche Bedenken hätten sich nicht bestätigt. Damit sind auch die vom Sachverständigen L. allgemein geäußerten Bedenken hinsichtlich einer Sturzgefahr entkräftet. Dieser Sachverständige hat die Klägerin nicht bei der Verwendung von Sportprothesen beobachtet.
Der Senat verkennt nicht, dass eine Hilfsmittelversorgung nicht der Förderung des Leistungssports dient. Dies steht jedoch dem Anspruch der Klägerin nicht entgegen. Die Klägerin begehrt die streitgegenständlichen Prothesen nicht für das Dressurreiten, das sie als Leistungssport ausübt. Sie benötigt sie auch nicht für entsprechendes Training, sondern möchte ausschließlich dem allgemeinen Bedürfnis nach Sport, vor allem nach Joggen, nachkommen. Dies ergibt sich aus den überzeugenden Angaben der Klägerin in der mündlichen Verhandlung.
c) Zusammenfassend ist der Senat auf Grund des dargelegten Verständnisses von § 2 SGB IX und der Rechtsprechung des BSG sowie der Umstände des Einzelfalls zu der Überzeugung gelangt, dass der Klägerin der geltend gemachte Anspruch auf Versorgung mit Sportprothesen nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Var. 3 SGB V zusteht.
4. Der Senat lässt offen, ob die Klägerin gegen die Beklagte als erstangegangene Rehabilitationsträgerin nach § 14 SGB IX zusätzlich einen Anspruch aus §§ 53, 54 Abs. 1 SGB XII (Eingliederungshilfe) gegen den Beigeladenen hat. Feststellungen zu den Einkommens- und Vermögensverhältnissen der Klägerin sind daher nicht erforderlich.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Senat lässt die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zu(§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).


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