Medizinrecht

Nichtzulassungsbeschwerde, Rentenversicherung, Versicherungspflicht, Leistungen, Arbeitnehmer, Arbeitsvertrag, Krankenversicherung, Bescheid, Pflegeversicherung, Arbeitsleistung, Gerichtsbescheid, Eingliederung, Berufung, Unternehmerrisiko, unternehmerisches Risiko, Ruhen des Verfahrens, gesetzlichen Rentenversicherung

Aktenzeichen  L 7 BA 76/20

Datum:
10.5.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 52687
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Verfahrensgang

S 26 R 440/16 2020-05-29 SGMUENCHEN SG München

Tenor

Eine Altenpflegefachkraft, die in einer stationären Einrichtung arbeitet, ist regelmäßig abhängig beschäftigt.
I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 29. Mai 2020 wird zurückgewiesen.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der Kosten der Beigeladenen.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
IV. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird festgesetzt auf 5000,00 Euro.

Gründe

Der Senat kann im schriftlichen Verfahren nach § 124 Abs. 2 SGG entscheiden, da sich alle Beteiligten mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren nach § 124 Abs. 2 SGG einverstanden erklärt haben.
Die zulässige Berufung ist unbegründet.
Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 29. Mai 2020 zu Recht abgewiesen. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 01.09.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.02.2016 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Beigeladene zu 1 unterlag in ihrer Tätigkeit für die Klägerin im streitbefangenen Zeitraum aufgrund einer abhängigen Beschäftigung der Versicherungspflicht in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung.
Nach § 7a Abs. 1 Satz 1 SGB IV können die Beteiligten schriftlich eine Entscheidung der nach § 7a Abs. 1 Satz 3 SGB IV zuständigen Beklagten beantragen, ob eine Beschäftigung vorliegt, es sei denn, die Einzugsstelle oder ein anderer Versicherungsträger hat im Zeitpunkt der Antragstellung bereits ein Verfahren zur Feststellung einer Beschäftigung eingeleitet. Die Beklagte entscheidet aufgrund einer Gesamtwürdigung aller Umstände, ob eine Beschäftigung vorliegt (§ 7a Abs. 2 SGB IV). Das Verwaltungsverfahren ist in Absätzen 3 bis 5 der Vorschrift geregelt. § 7a Abs. 6 SGB IV regelt in Abweichung von den einschlägigen Vorschriften der einzelnen Versicherungszweige und des SGB IV den Eintritt der Versicherungspflicht (Satz 1) und die Fälligkeit des Gesamtsozialversicherungsbeitrags (Satz 2).
Versicherungspflichtig sind in der Krankenversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V), in der Rentenversicherung nach § 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI, in der Arbeitslosenversicherung nach § 25 Abs. 1 Satz 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) und in der Pflegeversicherung nach § 20 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB XI gegen Arbeitsentgelt beschäftigte Personen. Beschäftigung ist nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB IV die nichtselbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB IV sind Anhaltspunkte für eine Beschäftigung eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers.
Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG setzt eine Beschäftigung voraus, dass der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber persönlich abhängig ist. Bei einer Beschäftigung in einem fremden Betrieb ist dies der Fall, wenn der Beschäftigte in den Betrieb eingegliedert ist und dabei einem Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung umfassenden Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliegt. Diese Weisungsgebundenheit kann – vornehmlich bei Diensten höherer Art – eingeschränkt und zur „funktionsgerecht dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess“ verfeinert sein. Demgegenüber ist eine selbständige Tätigkeit vornehmlich durch das eigene Unternehmerrisiko, das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft sowie die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit gekennzeichnet. Ob jemand abhängig beschäftigt oder selbständig tätig ist, hängt davon ab, welche Merkmale überwiegen (zum Ganzen z.B. BSG, Urteil vom 29. August 2012 – B 12 KR 25/10 R – juris, Rn. 15; BSG, Urteil vom 30. April 2013 – B 12 KR 19/11 R – juris, Rn. 13; BSG, Urteil vom 30. Oktober 2013 – B 12 KR 17/11 R – juris, Rn. 23 -, BSG, Urteil vom 30. März 2015 – B 12 KR 17/13 R – juris, Rn. 15 – jeweils m.w.N.; zur Verfassungsmäßigkeit der anhand dieser Kriterien häufig schwierigen Abgrenzung zwischen abhängiger Beschäftigung und selbständiger Tätigkeit: Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Nichtannahmebeschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 20. Mai 1996 – 1 BvR 21/96 – juris, Rn. 6 ff.). Maßgebend ist das Gesamtbild der Arbeitsleistung (zum Ganzen z.B. BSG, Urteil vom 24. Januar 2007 – B 12 KR 31/06 R – juris, Rn. 15; BSG, Urteil vom 29. August 2012 – B 12 KR 25/10 R – juris, Rn. 15 f.; BSG, Urteil vom 30. Oktober 2013 – B 12 KR 17/11 R – juris, Rn. 23 ff. – jeweils m.w.N.).
Das Gesamtbild bestimmt sich nach den tatsächlichen Verhältnissen. Tatsächliche Verhältnisse in diesem Sinne sind die rechtlich relevanten Umstände, die im Einzelfall eine wertende Zuordnung zum Typus der abhängigen Beschäftigung erlauben. Ob eine abhängige Beschäftigung vorliegt, ergibt sich aus dem Vertragsverhältnis der Beteiligten, so wie es im Rahmen des rechtlich Zulässigen tatsächlich vollzogen worden ist. Ausgangspunkt ist daher zunächst das Vertragsverhältnis der Beteiligten, so wie es sich aus den von ihnen getroffenen Vereinbarungen ergibt oder sich aus ihrer gelebten Beziehung erschließen lässt. Eine im Widerspruch zu ursprünglich getroffenen Vereinbarungen stehende tatsächliche Beziehung und die sich hieraus ergebende Schlussfolgerung auf die tatsächlich gewollte Natur der Rechtsbeziehung geht der nur formellen Vereinbarung vor, soweit eine – formlose – Abbedingung rechtlich möglich ist. Umgekehrt gilt, dass die Nichtausübung eines Rechts unbeachtlich ist, solange diese Rechtsposition nicht wirksam abbedungen ist. Zu den tatsächlichen Verhältnissen in diesem Sinne gehört daher unabhängig von ihrer Ausübung auch die einem Beteiligten zustehende Rechtsmacht (BSG, Urteil vom 8. Dezember 1994 – 11 RAr 49/94 – juris, Rn. 20). In diesem Sinne gilt, dass die tatsächlichen Verhältnisse den Ausschlag geben, wenn sie von den Vereinbarungen abweichen (BSG, Urteil vom 1. Dezember 1977 – 12/3/12 RK 39/74 – juris, Rn. 16; BSG, Urteil vom 4. Juni 1998 – B 12 KR 5/97 R – juris, Rn. 16; BSG, Urteil vom 10. August 2000 – B 12 KR 21/98 R – juris, Rn. 17 – jeweils m.w.N.). Maßgeblich ist die Rechtsbeziehung so, wie sie praktiziert wird, und die praktizierte Beziehung so, wie sie rechtlich zulässig ist (vgl. hierzu insgesamt BSG, Urteil vom 24. Januar 2007 – B 12 KR 31/06 R – juris, Rn. 17; BSG, Urteil vom 29. August 2012 – B 12 KR 25/10 R – juris, Rn. 16).
Dabei kommen bei bestimmten Tätigkeiten besonderen Umständen eine besondere Gewichtung zu, die im Rahmen der Abwägung die Gewichtung einzelner Umstände vorbestimmt (vgl etwa zur Bedeutung der Rechtsmacht bei Tätigkeiten in Gesellschaften beispielhaft BSG, Urteil vom 23. Februar 2021, B 12 R 18/18 R, zur Tätigkeit von Ärzten in Krankenhäusern beispielhaft BSG, Urteil vom 4. Juni 2019, B 12 R 11/18 R, und zur Tätigkeit von Pflegepersonal in entsprechenden Einrichtungen beispielhaft BSG, Urteil vom 7. Juni 2019, B 12 R 6/18 R).
Ausgehend von diesen Grundsätzen war N bei der Klägerin in der streitgegenständlichen Zeit abhängig beschäftigt.
Ausgangspunkt für die Abwägung einzelner Umstände und deren Gewichtung ist danach, dass N als Altenpflegefachkraft in der stationären Einrichtung der Klägerin tätig war. Damit ist nach den vom BSG aufgestellten Grundsätzen wesentliches Abwägungskriterium die Einbindung der Fachkraft in die Struktur der Einrichtung und die damit verbundene Verantwortlichkeit des Einrichtungsträgers, die sich auch in einem – bei aller Freiheit bei Ausübung der Tätigkeit – letztlich noch in einem zur Wahrnehmung dieser Verantwortung gegenüber den in die Einrichtung aufgenommenen Personen verbleibenden Weisungsrecht niederschlägt.
Maßgebliches Indiz für eine abhängige Beschäftigung ist insoweit die Eingliederung in den Betrieb der Einrichtung. Dies stellt ein eigenständig zu betrachtendes Indiz neben einer Weisungsgebundenheit der Tätigkeit dar (BSG, Urteil vom 7. Juni 2019 – B 12 R 6/18 R – juris, Rn. 28).
Unterstützt wird dies durch die Vorgaben des für die Klägerin als zugelassene Altenpflegeeinrichtung verbindlichen rechtlichen Rahmens. Solche Vorgaben des Leistungserbringerrechts sind bei der Gesamtabwägung zur Klärung des sozialversicherungsrechtlichen Status der eingesetzten Fachkraft anhand der tatsächlichen Verhältnisse grundsätzlich zu berücksichtigen (BSG, Urteile vom 7. Juni 2019 – B 12 R 6/18 R – juris, Rn. 25 ff. zur stationären Pflegeeinrichtung, vom 31. März 2017 – B 12 R 7/15 R – juris, Rn. 30 ff. zum Erziehungsbeistand nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch [SGB VIII], vom 24. März 2016 – B 12 KR 20/14 R – juris, Rn. 27 f. zu Physiotherapeuten und Leistungen nach dem SGB V; vom 25. April 2012 – B 12 KR 24/10 R – juris, Rn. 18 ff. zur Familienhilfe nach dem SGB VIII).
Notwendig ist eine Steuerung, Anleitung, Koordination und Kontrolle der Altenpflegeleistungen auf der Grundlage eines in jedem Einzelfall gesondert zu erhebenden Bedarfs. Diese altenpflegerische Gesamtverantwortung muss von der Fachkraft ständig wahrgenommen werden (BSG, Urteil vom 22. April 2009 – B 3 P 14/07 R – juris, Rn. 14, 19; Wahl in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XI, 2. Aufl., Stand: 12. September 2017, § 71 Rn. 16). Diese regulatorischen Rahmenbedingungen haben im Regelfall die Eingliederung von Altenpflegefachkräften in die Organisations- und Weisungsstruktur der stationären Altenpflegeeinrichtung zur Folge.
Für eine bei einer solchen Konstellation nur ausnahmsweise in Betracht kommende selbstständige Tätigkeit im sozialversicherungsrechtlichen Sinne müssen daher gewichtige Indizien bestehen (BSG, Urteil vom 7. Juni 2019 – B 12 R 6/18 R – juris, Rn. 26 zur stationären Pflegeeinrichtung).
Nachdem N für die Klägerin in deren Einrichtung für die vertraglich an die Klägerin gebundenen Personen tätig war, kommt nach der Rechtsprechung des BSG diesem Umstand bei der Abwägung somit ein derartiges Gewicht zu, dass zunächst alle anderen Einzelumstände in den Hintergrund treten, also von einer abhängigen Tätigkeit von N auszugehen ist.
Soweit das BSG vom Grundsatz der abhängigen Beschäftigung von Fachkräften in stationären Einrichtungen ausnahmsweise (vgl BSG, Urteil vom 7. Juni 2019 – B 12 R 6/18 R – juris, Rz 26) Raum für eine selbständige Tätigkeit anerkennt, ist eine solche Ausnahme hier nicht ersichtlich.
Die Honorarhöhe ist kein ausschlaggebendes Indiz, vgl BSG, Urteil vom 7. Juni 2019 – B 12 R 6/18 R Rz 34.
Ein besonderes Unternehmensrisiko ist nicht vorhanden, vgl BSG, Urteil vom 7. Juni 2019 – B 12 R 6/18 R Rz 31. Insbesondere begründen die Anschaffungen von N (zB Kleidung, Computer, Kfz) angesichts der strukturellen Vorgaben in einer stationären Einrichtung kein ins Gewicht fallendes Risiko (BSG aaO). Die Klägerseite hat nichts vorgebracht, was hier auch nur im Entferntesten für ein so großes, besonderes unternehmerisches Risiko und auf der anderen Seite für eine entsprechende unternehmerische Gewinnchance sprechen könnte, das so stark wiegen könnte, dass hier eine Ausnahme vom Grundsatz der abhängigen Beschäftigung bejaht werden könnte. Kfz und Computer sind letztlich auch privat nutzbar bzw verwertbar. Und die Gewinn- und Verlustchancen bei einem festen Stundenlohn ergeben kein zu gewichtendes unternehmerisches Risiko.
Auch das Auftreten von N als freie Altenpflegekraft ist unbeachtlich (BSG aaO).
Im Ergebnis bleibt die Berufung erfolglos.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 1 und 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Die Beigeladenen haben im Berufungsverfahren keine Anträge gestellt; es entspricht daher der Billigkeit, ihre Kosten nicht der Klägerin aufzulegen.
Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht ersichtlich, § 160 Abs. 2 SGG.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß § 197a Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGG i.V.m. § 63 Abs. 2 Satz 1, § 52 Abs. 2, § 47 Abs. 1 Gerichtskostengesetz (GKG) endgültig auf 5.000 € festgesetzt. Die Höhe des Streitwerts entspricht dem Auffangstreitwert von 5.000,00 €, da bislang lediglich über das Bestehen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses und die hieraus folgende Sozialversicherungspflicht entschieden wurde, aber noch keine Gesamtsozialversicherungsbeiträge festgesetzt wurden.


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