Medizinrecht

Nigeria, teilweise Klagerücknahme, Abschiebungsverbot (bejaht), Diabetes mellitus Typ I, gerichtliche Beweiserhebung, fehlende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit

Aktenzeichen  Au 9 K 21.30469

Datum:
30.6.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 21330
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 113 Abs. 5 S. 1
VwGO § 92
AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1

 

Leitsatz

Tenor

I. Soweit die Klägerin die Klage zurückgenommen hat, wird das Verfahren eingestellt.
II. Die Beklagte wird unter Aufhebung der Nrn. 4 bis 6 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 8. April 2021 verpflichtet, festzustellen, dass für die Klägerin ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) hinsichtlich Nigerias vorliegt.
III. Die Kosten des Verfahrens tragen die Klägerin zu 2/3 und die Beklagte zu 1/3. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
IV. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung gegen Leistung einer Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht zuvor der jeweilige Vollstreckungsgläubiger Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage der Klägerin ohne die Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten übereinstimmend auf eine solche verzichtet haben (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
1. Soweit die Klage im Schriftsatz vom 23. Juni 2021 teilweise zurückgenommen wurden, war das Verfahren nach § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen. Nach teilweiser Klagerücknahme verbliebener Gegenstand des Verfahrens ist damit nur mehr der Anspruch der Klägerin auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
2. Soweit die Klägerin ihre Klage noch aufrechterhalten hat, ist sie zulässig und begründet.
Der Bescheid des Bundesamts vom 8. April 2021 ist nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung im schriftlichen Verfahren (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) insoweit rechtswidrig und verletzt die Klägerin daher in ihren Rechten, als diese einen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Nigerias besitzt, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen, wie sie die Klägerin hier ausschließlich geltend macht, liegt nach Satz 3 der Regelung nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch eine Abschiebung wesentlich verschlechtern, also zu außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden führen würden, wobei die wesentliche Verschlechterung alsbald nach der Rückkehr in den Zielstaat eintreten müsste (vgl. VG München, B.v. 26.4.2016 – M 16 S7 16.30786 – juris Rn. 16). Dass die medizinische Versorgung im Zielstaat (Nigeria) mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig oder überall gewährleistet ist, ist hierbei nicht erforderlich, § 60 Abs. 7 Satz 4 und 5 AufenthG.
Der sich auf eine seiner Abschiebung entgegenstehende Erkrankung berufende Ausländer muss diese durch eine qualifizierte, gewissen Mindestanforderungen genügende ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen (vgl. § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG). Aus dem vorgelegten Attest muss sich nachvollziehbar ergeben, auf welcher Grundlage die Diagnose gestellt wurde und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt. Dazu gehören etwa Angaben darüber, seit wann und wie häufig sich der Patient in ärztlicher Behandlung befunden hat und ob die von ihm geschilderten Beschwerden durch die erhobenen ärztlichen Befunde bestätigt werden. Zudem sollte das Attest Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf (Medikation und Therapie) geben.
Es entspricht inzwischen gefestigter Rechtsprechung (vgl. BayVGH, B.v. 9.11.2017 – 21 ZB 17.30468 – juris Rn. 4; B.v. 10.1.2018 – 10 ZB 16.30735 – juris Rn. 8; OVG NW, B.v. 9.10.2017 – 13 A 1807/17A – juris Rn. 19 ff.; OVG LSA, B.v. 28.9.2017 – 2 L 85/17 – juris Rn. 2 ff.), dass die Anforderungen an ein ärztliches Attest gemäß § 60a Abs. 2c AufenthG auf die Substantiierung der Voraussetzungen eines krankheitsbedingten Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG zu übertragen sind (vgl. BayVGH, B.v. 24.1.2018 – 10 ZB 18.30105 – juris Rn. 7). Dies ist mittlerweile durch die geänderte Fassung in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ausdrücklich klargestellt, der § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG für entsprechend anwendbar erklärt.
Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze hat die Klägerin hier das Vorliegen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinreichend glaubhaft gemacht.
Die Klägerin leidet an einer im Jahr 2020 festgestellten Diabetes mellitus Typ I. Daneben wurde bei der Klägerin ebenfalls ärztlich attestiert eine Adipositas per magna. Ferner ist bei der Klägerin eine normochrome normozytäre Anämie gegeben. Die vorliegenden Erkrankungen wurden bei der Klägerin fachärztlich diagnostiziert. Zuletzt hat das MVZ * – Medizinisches Versorgungszentrum * unter dem 21. Mai 2021 (Gerichtsakte Bl. 69, 70) ausgeführt, dass die Diabetes-Grunderkrankung der Klägerin langfristig erfolgen müsse. Die Klägerin sei auf eine Dauermedikation angewiesen. Bei Therapieabbruch drohe der Klägerin im schlimmsten Fall ein Exitus letalis.
Bei der für die Klägerin attestierten Diabetes mellitus Typ I Erkrankung handelt es sich um eine Behandlungsbedürftige Erkrankung. Insbesondere ist die Klägerin ärztlich nachgewiesen auf die regelmäßige Zuführung von Insulin angewiesen. Bei Diabetes mellitus Typ I handelt es sich um eine schwerwiegende und lebensbedrohliche Erkrankung. Bei Diabetes mellitus Typ 1 handelt es sich auch um eine schwerwiegende und lebensbedrohliche Erkrankung. Gänzlich unbehandelt kann ein voll entwickelter Diabetes mellitus Typ 1 gerichtsbekanntermaßen rasch zum Tod oder zumindest zu schwerwiegenden Gesundheitsbeeinträchtigungen führen. Mithin kommt es vorliegend darauf an, ob der Klägerin im Falle einer Rückkehr nach Nigeria zeitnah eine Behandlung ihrer Diabetes mellitus Typ 1, also vor allem eine zeitnah einsetzende und verlässliche Versorgung mit lebenswichtigem Insulin, auch tatsächlich zur Verfügung stehen wird und insbesondere finanzierbar ist.
Nach der vom Gericht durchgeführten Beweiserhebung ist die bei der Klägerin vorhandene Diabetes-Erkrankung zwar in Nigeria behandelbar, jedoch ist das Gericht der Überzeugung, dass es der Klägerin als Mutter von insgesamt drei Kindern im Falle einer Rückkehr nach Nigeria nicht möglich sein wird, die für sie erforderliche medikamentöse Dauer-Behandlung der Diabetes-Erkrankung fortzusetzen sowie die regelmäßig erforderliche ärztliche Untersuchung dauerhaft sicherzustellen. Nach der durchgeführten Beweiserhebung sind mit der Konsultation eines Facharztes, den die Klägerin nach den Ausführungen der sie behandelnde Ärztin etwa alle zwei Wochen benötigt in Nigeria etwa 35 EUR vor der jeweiligen Konsultation zu bezahlen. Neben den anfallenden Facharztkosten ist die Klägerin auch auf eine tägliche Insulingabe angewiesen. In Bezug auf das der Klägerin verordnete Insulin glargin ist für 100 Insulineinheiten mit Kosten von 10 EUR zu rechnen. Nach Aussagen der die Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland behandelnde Fachärztin reicht das derzeit verordnete Präparat Toujeo in der Stärke 900 Einheiten/3 ml für die Dauer von etwa zwei bis drei Monaten. Umgerechnet wären in Nigeria hierfür bereits Kosten in Höhe von 90 EUR anfallend. In Bezug auf die der Klägerin ebenfalls verordneten Fertigspritzen Novorapid (Insulin aspart) ist mit weiteren Kosten in der angegebenen Dosierung von 38 EUR zu rechnen. Nach Aussagen der behandelnden Ärztin genügt das der Klägerin verordnete Präparat für die Dauer von etwa elf Tagen (maximal zwei Wochen). In der Summe gelangt man so zu monatlichen Kosten für die Klägerin zur Behandlung der bei ihr vorhandenen Diabetes mellitus Typ I von über 100 EUR. Dieser Betrag ist bei einem durchschnittlichen Jahreseinkommen in Nigeria von etwa 1.800 EUR nach Auffassung des erkennenden Gerichts nicht finanzierbar. Hinzu kommt, dass es sich um eine Dauermedikation handelt, die bereits unmittelbar nach der erneuten Einreise nach Nigeria für die Klägerin erforderlich würde. Weiter ist darauf hinzuweisen, dass die Erkrankung der Klägerin bei deren Ausreise aus Nigeria nicht bekannt gewesen ist. Die bei der Klägerin vorliegende Erkrankung wurde erstmals im Dezember 2020 diagnostiziert. Für die Klägerin bzw. deren Familie erscheint eine Finanzierung auch deshalb mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen, da die Klägerin einer beruflichen Tätigkeit nicht nachgehen können wird. Hierfür spricht zum einen das eingeschränkte Bildungsniveau der Klägerin (lediglich dreijähriger Besuch einer Grundschule) sowie die weiter vorliegenden Erkrankungen einer Adipositas per magna sowie einer Anämie. Aufgrund der im Verfahren eingeholten Auskünfte des Auswärtigen Amtes zur medizinischen Versorgung von Diabetes-Erkrankungen in Nigeria und der Verfügbarkeit der erforderlichen Medikamente, der hiermit verbundenen Kosten sowie der persönlichen Umstände der Klägerin – diese ist derzeit unverheiratet und Mutter von drei minderjährigen Kindern – ist auszuschließen, dass diese in der Lage wäre, für sich und ihre minderjährigen Kinder zu sorgen und daneben ihre eigene erforderliche medizinische Behandlung zu organisieren bzw. zu finanzieren.
3. Nach alledem ist auf der Grundlage der im Verfahren vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen, die auch die erforderliche Aktualität aufweisen, nach Überzeugung des Gerichts davon auszugehen, dass der Klägerin ein Schutzanspruch im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zusteht, nicht nach Nigeria abgeschoben zu werden.
Ob auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner Prüfung, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (vgl. BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14/10 – BVerwGE 140, 319 Rn. 16).
Die Gewährung von Abschiebungsschutz hat zur Folge, dass auch die entsprechende Abschiebungsandrohung des streitgegenständlichen Bescheids (Nr. 5) (§ 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG) und das auf 30 Monate festgesetzte Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG (Nr. 6) ebenfalls aufzuheben waren.
4. Die Kostenentscheidung in dem nach § 83b AsylG gerichtskostenfreien Verfahren beruht auf §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2 VwGO, wobei das Gericht zugrunde gelegt hat, dass die erklärte Klagerücknahme der Klägerin 2/3 des ursprünglichen Streitgegenstandes betrifft, während die Klägerin hinsichtlich der weiter aufrechterhaltenen Klage vollständig obsiegt.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung (ZPO).


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