Medizinrecht

Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit

Aktenzeichen  L 19 R 829/17

Datum:
10.10.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 42752
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
ALG
Satz 2 § 17 Abs. 1
SGB
VI § 38
VI § 51 Abs. 3a
VI § 55 Abs. 1 S. 1
VI § 55 Abs. 1 S. 2

 

Leitsatz

Zu den Pflichtbeitragszeiten im Sinne des § 51 Abs. 3a Nr. 1 SGB VI zählen nicht alle Beitragszahlungen, zu deren Zahlung man auf Grund eines Bundesgesetzes verpflichtet ist. Es sind nur Beitragszahlungen erfasst, deren Zahlungspflicht sich aus dem SGB VI ergibt.

Verfahrensgang

S 9 R 454/17 2017-11-13 GeB SGNUERNBERG SG Nürnberg

Tenor

I. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Nürnberg vom 13.11.2017 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 144, 151 SGG) ist zulässig, aber nicht begründet. Das Sozialgericht hat zu Recht entschieden, dass die Klägerin keinen Anspruch auf eine Altersrente für besonders langjährig Versicherte hat.
Nachdem der Rechtsstreit in erster Instanz durch Gerichtsbescheid (§ 105 SGG) entschieden worden war, war die durch Beschluss vom 15.03.2018 vorgenommene Übertragung auf den Berichterstatter zulässig (§ 153 Abs. 5 SGG).
Streitgegenstand ist die Ablehnung der Rente für besonders langjährig Versicherte durch die Beklagte; die spätere Entscheidung der Beklagten der Klägerin antragsgemäß ab Oktober 2017 eine Rente für langjährig Versicherte zu gewähren, ändert die angefochtene Entscheidung nicht ab und ersetzt sie auch nicht. Somit ist der Bescheid vom 29.06.2018 entgegen den Ausführungen der Beklagten nicht über § 96 SGG Gegenstand des laufenden Rechtsstreits geworden.
Nach § 38 SGB VI haben Versicherte Anspruch auf eine Altersrente für besonders langjährig Versicherte, wenn sie das 65. Lebensjahr vollendet haben und die Wartezeit von 45 Jahren erfüllt haben. Die Klägerin hatte zum Zeitpunkt der Antragstellung zwar das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet gehabt, wäre aber im Gefolge der Übergangsregelung des § 236 b Abs. 1 iVm Abs. 2 Satz 1 SGB VI nach Überschreiten des 63. Lebensjahres möglicherweise zur Inanspruchnahme berechtigt gewesen.
Die Klägerin hat die erforderliche Wartezeit unstrittig durch die gegenüber dem Rentenversicherungsträger – Deutsche Rentenversicherung Bund – gezahlten Beiträge jedoch nicht erfüllt. Der Auffassung der Klägerin, wonach zur Erfüllung der Wartezeit auch Zeiten der Versicherung nach dem ALG heranzuziehen seien, ist die Beklagte zu Recht nicht gefolgt.
Nach § 51 Abs. 3 a SGB VI werden auf die Wartezeit von 45 Jahren folgende Zeiten angerechnet:
1.Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit,
2.Berücksichtigungszeiten,
3.Zeiten des Bezugs von
a) Entgeltersatzleistungen der Arbeitsförderung,
b) Leistungen bei Krankheit und c) Übergangsgeld, soweit sie Pflichtbeitragszeiten oder Anrechnungszeiten sind; dabei werden Zeiten nach Buchstabe a in den letzten zwei Jahren vor Rentenbeginn nicht berücksichtigt, es sei denn, der Bezug von Entgeltersatzleistungen der Arbeitsförderung ist durch eine Insolvenz oder vollständige Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers bedingt, und
4. freiwillige Beiträge, wenn mindestens 18 Jahre mit Zeiten nach Nummer 1 vorhanden sind; dabei werden Zeiten freiwilliger Beitragszahlung in den letzten zwei Jahren vor Rentenbeginn nicht berücksichtigt, wenn gleichzeitig Anrechnungszeiten wegen Arbeitslosigkeit vorliegen.
Zu den Pflichtbeitragszeiten im Sinne der Nr. 1 dieser Vorschrift zählen jedoch nicht alle Beitragszahlungen, zu deren Zahlung man auf Grund eines Bundesgesetzes verpflichtet ist, wie man nach dem Wortlaut vermuten könnte. Denn das wären etwa auch Zahlungen zur Krankenversicherung, was offensichtlich unsinnig ist. Auch gehören hierzu nicht alle Zahlungen, die mit dem Ziel der Altersvorsorge erfolgt sind. Vielmehr ist aus sämtlichen Auslegungsmerkmalen eine Beschränkung herzuleiten, wonach hier im Ergebnis nur Beitragszahlungen erfasst sind, deren Zahlungspflicht sich aus dem SGB VI ergibt.
Dies ist bereits aus der Systematik des Gesetzes zu ersehen. So bestimmt etwa § 197 Abs. 1 SGB VI: „Pflichtbeiträge sind wirksam, wenn sie gezahlt werden, solange der Anspruch auf ihre Zahlung noch nicht verjährt ist.“ Der Begriff der Pflichtbeiträge ist für das SGB VI in § 55 Abs. 1 SGB VI eingeführt. Die Vorschrift kann sich nur auf Beitragszahlungen innerhalb des SGB VI beziehen, da keine Regelungsbefugnis für andere Bereiche damit verbunden ist und etwaige Ausnahmen deutlich angegeben hätten sein müssen. Daraus ist zu ersehen, dass es sich bei den „nach Bundesrecht zu zahlenden Pflichtbeiträgen“ um solche handeln muss, die auf Grund einer Versicherung kraft Gesetzes (d.h. im Gefolge von §§ 1 bis 4 SGB VI) zu zahlen gewesen waren.
Beiträge, die nach den Vorschriften des ALG gezahlt werden müssen, wären zwar – ebenso wie etwa die Krankenversicherungsbeiträge auch – unzweifelhaft Beiträge, für die eine Zahlungspflicht nach Bundesrecht besteht; sie sind aber nach der Gesetzessystematik allesamt nicht von § 55 Abs. 1 Satz 1 SGB VI erfasst und damit eben gerade nicht bei der Wartezeitberechnung nach § 51 Abs. 3 a SGB VI mit zu berücksichtigen. Für die Krankenversicherung gibt es schon offensichtlich keinerlei Verknüpfung. Aber auch für ein Verständnis der Regelung dergestalt, dass sich der Begriff von Pflichtbeiträgen mit Zahlungspflicht nach Bundesrecht erweiternd allgemein auf Beiträge zu Alterssicherungssystemen – auch solchen außerhalb des SGB VI – erstrecken solle und damit Beiträge nach dem ALG mitumfassen solle, gibt es keinen Anhaltspunkt. Die Grenzziehung ist vielmehr zutreffend so aufzufassen, dass nur Beitragszahlungen nach dem SGB VI zu berücksichtigen sind. Dies entspricht auch der einhelligen Auffassung der Rechtsprechung (vgl. Urteil des Senats vom 29.08.2014 – Az. L 19 R 376/14; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 03.09.2003 – Az. L 2 RJ 3190/02; BSG, Urteile vom 06.02.2003 – Az. B 13 RJ 17/02 R – sowie vom 19.05.2004 – Az. B 13 RJ 4/04 R – jeweils zitiert nach juris). Die systematische Aussage der Gerichtsurteile aus dem Jahr 2003 erlaubt es auch diese Entscheidungen auf Rechtsvorschriften gleichen oder ähnlichen Inhalts anzuwenden, die erst später eingeführt worden sind, solange dort nicht ausdrücklich etwas Abweichendes geregelt ist.
Eine abweichende Regelung ist im Zusammenhang mit der Neuregelung der Altersrente für besonders langjährig Versicherte nicht geschaffen worden. Das Nichtansprechen der Landwirtschaftlichen Alterskasse in diesem Zusammenhang impliziert entgegen der Ansicht der Klägerin auch nicht die Einbeziehung der dortigen Versicherungszeiten; im Gegenteil auf Grund der systematischen Struktur wäre eine ausdrückliche Einbeziehung erforderlich gewesen, die aber vom Gesetzgeber nicht geschaffen worden ist. Ergänzend kommt hinzu, dass die Gesetzesentstehung hat erkennen lassen, dass dem Gesetzgeber an einer restriktiven Handhabung der Zugangsvoraussetzungen gelegen war.
Soweit man die Berücksichtigung von Beiträgen nach dem ALG als Pflichtbeitragszeiten aus § 55 Abs. 1 Satz 2 SGB VI herzuleiten versucht, trägt dies ebenfalls nicht. Dort wird bestimmt, dass Pflichtbeitragszeiten auch Zeiten seien, für die Pflichtbeiträge nach besonderen Vorschriften als gezahlt gelten würden. Zwar benennt die Kommentarliteratur eine Reihe von Sachverhalten (z.B. Gürtner in: Kasseler Kommentar, Stand Dezember 2010, § 55 SGB VI, Rn. 9), was aber nicht den Schluss zulässt, dass möglichst alle in Frage kommenden Zahlungen zur Alterssicherung von einer derartigen Gleichstellung erfasst werden sollten. Das Gegenteil ist der Fall. Daraus, dass in einer Vielzahl von Konstellationen ausdrückliche Verweisungen vorliegen, ergibt sich eindrücklich, dass die übrigen Fälle ohne solche Verweisungen gerade nicht erfasst werden sollen. Im Fall des ALG existiert nur eine Verweisung, wonach Beiträge nach dem SGB VI bei der Ermittlung von Zeiten beim ALG berücksichtigt werden (§ 17 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 ALG). Eine Verweisung, wonach Beiträge nach dem ALG als Pflichtbeiträge nach dem SGB VI gelten, besteht dagegen eindeutig nicht. In Ermangelung einer besonderen Vorschrift, lässt sich die Berücksichtigung von Zeiten nach dem ALG nicht aus § 55 Abs. 1 Satz 2 SGB VI herleiten.
Der Hinweis, dass die Alterssicherung der Landwirte auf Grund der Beitragshöhe nicht mehr als Teilsystem der Alterssicherung bezeichnet werden könne, führt ebenfalls nicht weiter, weil dies eines der Argumente für die Schaffung der Verweisungsregelung des § 17 Abs. 1 Satz 2 Nr. ALG gewesen war und ein durch Änderung der Sachlage begründeter Wegfall dieser Regelung nichts zur Anerkennung des von der Klägerin geltend gemachten Anspruchs nach dem SGB VI beitragen würde.
Ebenso sind die Zahlungen an die LAK nicht als „freiwillige Beiträge“ einzuordnen. Abgesehen davon, dass die Klägerin selbst auf die Pflicht zur Zahlung an die LAK hingewiesen hat, fallen unter freiwillige Beiträge gemäß § 55 Abs. 1 Satz 1 SGB VI nur die im Rahmen des SGB VI gezahlten Beiträge, was mit der Regelung bei den Pflichtbeiträgen übereinstimmt.
Die vorgenommene Gesetzesauslegung ist auch nicht verfassungswidrig. Durch die Aufteilung auf verschiedene Bereiche der Alterssicherung etwa für Arbeitnehmer, Selbstständige, Landwirte, Künstler und Freiberufler mit berufsständischer Absicherung wird den Besonderheiten des jeweiligen Bereichs Rechnung getragen. So hat etwa das BSG (Urt. v. 16.06.2005, Az. B 10 LW 1/03 R – zitiert nach juris) darauf hingewiesen, dass Landwirte typischerweise bei Eintritt in den Ruhestand über Hofübergabeverträge und Verpachtungen freiere Gestaltungsmöglichkeiten und andere Absicherungsgrundlagen haben und nicht so auf die gesetzliche Alterssicherung angewiesen sind wie Arbeitnehmer. Es kann auch nicht verlangt werden, dass zwischen den verschiedenen Bereichen der Alterssicherung eine Kompatibilität und gegenseitige Anerkennung von eingebrachten Beitragszeiten zu erfolgen hat. Zwar wäre eine Regelung, wonach für die Wartezeit die Beitragszeiten in den verschiedenen Systemen zusammengenommen werden, die Zahlungshöhe dann aber nur innerhalb des Systems ermittelt wird, rechtlich grundsätzlich möglich; der Gesetzgeber hat aber keine entsprechende Regelung getroffen und war hierzu auch nicht verpflichtet. Dabei kommt es nicht darauf an, wie das Alterssicherungssystem seine Beiträge einsetzt – im Generationenvertrag oder im Kapitalstockverfahren.
Es liegt auch keine planwidrige Regelungslücke vor, wie die Diskussion bei Einführung von § 17 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 ALG gezeigt hat (vgl. BSG a.a.O.), sondern es geht um eine seinerzeit vom Gesetzgeber zwar zunächst erwogene, dann aber nicht eingeführte Gesetzesgestaltung. Mit der – einseitigen – Regelung im ALG ist ein völliges „Durchrutschen“ zwischen dem allgemeinen und dem landwirtschaftlichen Sicherungssystem – was insbesondere bei Ehefrauen von Landwirten verhindert werden sollte – bereits ausgeschlossen, weil im Rahmen der landwirtschaftlichen Alterssicherung auch die im allgemeinen System zurückgelegten Beitragszeiten für die Begründung eines Anspruchs herangezogen werden können. Für eine Ausweitung auch in der umgekehrten Richtung, d.h. eine Berücksichtigung von Beitragszeiten nach dem ALG im Rahmen des SGB VI, besteht damit nicht mehr der gleiche Bedarf zur Abfederung eines Härtefalls.
Eine Ungleichbehandlung der Klägerin gegenüber einer vergleichbaren Personengruppe liegt nicht vor. Nachdem für die Klägerin in der Vergangenheit auch die gesetzliche Möglichkeit zur parallelen Entrichtung von freiwilligen Beiträgen nach dem SGB VI bestanden hatte, ist auch das Eigentumsrecht der Klägerin – was insbesondere im Hinblick auf die hier nicht streitgegenständliche Anwartschaft auf eine Erwerbsminderungsrente bedeutsam sein könnte – nicht verletzt.
Der Senat schließt sich im Übrigen den Ausführungen des Sozialgerichts Nürnberg in dem angefochtenen Gerichtsbescheid an und sieht gemäß § 153 Abs. 2 SGG insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab.
Die angefochtene Entscheidung der Beklagten entspricht dem geltenden Recht. Dementsprechend sind auch die Feststellungen der erstinstanzlichen Entscheidung nicht zu beanstanden und die Berufung war zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.


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