Medizinrecht

Reiseunfähigkeit infolge Suizidalität

Aktenzeichen  M 25 E 16.2563

Datum:
9.6.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 123
AufenthG AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1, Abs. 2c

 

Leitsatz

1 Von einer Reiseunfähigkeit im engeren Sinne spricht man, wenn die konkrete Gefahr besteht, dass sich der Gesundheitszustand des Ausländers durch die Abschiebung im Zusammenhang mit dem Transport wesentlich verschlechtert und wenn diese Gefahr nicht durch bestimmte Vorkehrungen ausgeschlossen oder gemindert werden kann. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2 Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne liegt vor, wenn die Abschiebung als solche außerhalb des Transportvorgangs eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr für den Ausländer bewirkt. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
3 Für die Prognose eines Suizids ist maßgeblich die Prognose einer willentlich nicht steuerbaren akuten Suizidalität als Folge einer psychischen Grunderkrankung. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
4 Bei einer Suizidgefahr liegt nicht zwangsläufig ein krankheitsbedingtes Abschiebungshindernis vor, sondern die Abschiebung ist von der zuständigen Ausländerbehörde so zu gestalten, dass der Suizidgefahr wirksam begegnet werden kann. (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 1.250, – € festgesetzt.

Gründe

I.
Mit seinem Antrag wendet sich der Antragsteller gegen die am … Juni 2016 um … Uhr geplante Abschiebung nach Afghanistan und begehrt, den Antragsgegner einstweilen zu verpflichten, seine Abschiebung für die Dauer der ambulanten psychiatrischen Behandlung auszusetzen, mindestens jedoch für die Dauer von sechs Monaten.
Am 18. März 2011 reiste der Antragsteller in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 30. März 2011 Asylantrag.
Mit Bescheid vom 8. August 2011 lehnte das Bundesamt für … den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter ab. Ferner stellte es fest, dass die Voraussetzungen für die Flüchtlingseigenschaft und Abschiebeverbote nicht vorlägen. Es forderte den Antragsteller auf, das Bundesgebiet innerhalb von 30 Tagen nach der Bekanntgabe des Bescheides zu verlassen. Sollte der Antragsteller dem nicht innerhalb der Ausreisefrist nachkommen, drohte es ihm die Abschiebung nach Afghanistan an.
Am 18. August 2011 erhob der Antragsteller hiergegen Klage.
Mit Urteil vom 6. November 2013 wies das Verwaltungsgericht München die Klage ab. Der angegriffene Bescheid wurde am 5. März 2014 bestandskräftig (vgl. Behördenakte, Bl. 158).
Am 5. April 2014 wurde die Abschiebungsandrohung vollziehbar (vgl. Behördenakte, Bl. 158).
Mit Schreiben vom 3. Juli 2015 an den Antragsteller hielt der Antragsgegner fest, dass der Antragsteller – unter Vorlage eines Schreibens von Herrn Dr. med. …, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie (im Folgenden: Herr Dr. …*), – erklärt habe, sich bei diesem Facharzt seit dem 23. Juni 2015 in ambulanter psychiatrischer Behandlung zu befinden (vgl. Behördenakte, Bl. 226 i.V.m. Bl. 203). Der Antragsgegner forderte den Antragsteller zur Vorlage des Behandlungsnachweises bis zum 31. Juli 2015 auf.
Am 13. August 2015 legte der Antragsteller eine fachärztliche gutachterliche Stellungnahme von Herrn Dr. … vor (vgl. Behördenakte, Bl. 227 f.). Die Diagnose lautet zusammenfasst auf posttraumatische Belastungsstörung und rezidivierende depressive Störung. Unter der Überschrift „Anamnese“ heißt es: „Herr … berichtet in Begleitung eines dolmetschenden Bekannten, seit sechs Jahren unter Schlafstörungen und Angstzuständen zu leiden“. Zwar habe sich die Symptomatik, seitdem der Patient nach Deutschland gekommen sei, leicht gebessert, es bestehe jedoch weiterhin ein ausgeprägtes ängstlich-depressives Syndrom mit wiederkehrenden passiven Todeswünschen. Unter der Überschrift „Befund“ werden angeführt ein ängstlich-depressives Syndrom mit Konzentrationsstörungen, Grübelneigung, Schreckhaftigkeit, Flashback-Erleben bezüglich traumatisierender Erlebnisse in Afghanistan, Angstzustände, Insuffizienzerleben, Zukunftssorgen, gedrückte Stimmungslage, rezidivierende Panikattacken, Freudlosigkeit, sozialer Rückzug, reduzierte Belastbarkeit, Antriebsminderung, Nervosität und Schlafstörungen mit Albträumen. Der Befund endet mit dem Satz: „Von akuter Suizidalität ist der Patient trotz wiederkehrender passiver Todeswünsche derzeit distanziert“ (vgl. Behördenakte, Bl. 228). Unter der Überschrift „Beurteilung“ wird angeführt: Es bestehe eine mittel- bis schwergradige depressive Symptomatik und eine posttraumatische Belastungsstörung, die dringend einer fachärztlichen psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlung bedürften (vgl. Behördenakte, Bl. 228). Eine medikamentöse Behandlung sei begonnen worden. Die dringend indizierte psychotherapeutische Behandlung sei bislang aufgrund der Sprachbarriere noch nicht umgesetzt worden, dies sollte aber so bald wie möglich geschehen. Sollte die psychiatrische und therapeutische Behandlung ausbleiben, sei von einer erheblichen Gefährdung des Patienten auszugehen. Auch eine vitale Bedrohung des Patienten sei dann im Hinblick auf die passiven Todeswünsche nicht auszuschließen. Angesichts der Schwere der Symptomatik bestehe keine ausreichende Belastbarkeit für längere Reisen. Zudem sollte die engmaschige fachärztliche Überwachung und Behandlung des Patienten sichergestellt werden. Eine erzwungene Rückkehr des Patienten in sein Heimatland werde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einer erheblichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes und möglicherweise auch zu einer vitalen Gefährdung führen.
Die in den Akten befindliche fachärztliche gutachterliche Stellungnahme von Herrn Dr. … vom 28. September 2015 ist im Wesentlichen (abgesehen von der Medikamentation) wortlautidentisch mit der vorgenannten Stellungnahme (vgl. Behördenakte, Bl. 229).
Gleiches gilt für die in den Akten befindliche fachärztliche gutachterliche Stellungnahme von Herrn Dr. … vom 15. Dezember 2015 (abgesehen von Ängsten, den Weg zur Gemeinschaftsunterkunft zurückzulegen; vgl. Behördenakte, Bl. 243 f.).
Am 18. Dezember 2015 ersuchte der Antragsgegner Herrn Prof. Dr. med. … …, Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie (im Folgenden: Herr Prof. …*), um ein psychiatrisches Gutachten (Behördenakte, Bl. 295).
Am 17. Februar 2016 fand die psychiatrische Untersuchung in dem …-Klinikum … statt (Behördenakte, Bl. 296).
Am 26. Februar 2016 erstattete Herr Prof. … das insgesamt fünfzehn Seiten umfassende psychiatrische Gutachten (vgl. Behörenakte, Bl. 295 ff.): Es beruht auf den von dem Antragsgegner übermittelten Unterlagen, den von dem Antragsteller vorgelegten Dokumenten und – unter Hinzuziehung eines Dolmetschers – der psychiatrischen Untersuchung (vgl. Behördenakte, Bl. 295 und Rückseite). Unter der Überschrift „Zusammenfassung und Beurteilung“ verneint Herr Prof. … die Diagnose einer posttraumatischen Behandlungsstörung (vgl. Behördenakte, Bl. 308 Rückseite). Die von dem Antragsteller im Einzelnen geschilderten Beschwerden entsprächen nicht den nach der „Internationalen Klassifikation psychischer Störungen/ICD-10 geforderten typischen Merkmalen einer posttraumatischen Belastungsstörung. Diese sei nicht durch eine unspezifische „Angst im Dunkeln“ oder durch vage vorgetragene Träume von Blut und getöteten Menschen gekennzeichnet, sondern sie sei begleitet von – bei dem Antragsteller nicht gegebenen – Symptomen eines andauernden Gefühls von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit, der Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, der Teilnahmslosigkeit gegenüber der Umgebung, der Anhedonie sowie der Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma hervorrufen könnten, sowie der Furcht vor und die Vermeidung von Stichworten, die den Leidenden an das ursprüngliche Trauma erinnern könnten. Das von Herrn Dr. … beschriebene ängstlich-depressive Syndrom mit Konzentrationsstörungen, Grübelneigung etc. (wird näher ausgeführt) und die daraus abgeleitete Diagnose einer rezidivierenden depressiven Störung (ICD-10 F33.2) seien auf Grund des in der jetzt durchgeführten Untersuchung erhobenen psychischen Befundes nicht nachvollziehbar. Der Antragsteller habe sich wach, konzentriert, im formalen Gedankengang flüssig und geordnet und (bei subjektiven Klagen über Ängste und Schlafstörungen) affektiv ausgeglichen gezeigt, ausreichend schwingungsfähig und nicht depressiv. Darüber hinaus sprächen auch die vom Antragsteller ausgeübten beruflichen Tätigkeiten (die letzte Tätigkeit sei nicht wegen psychischer, sondern wegen physischer Rückenschmerzen beendet worden), seine „Schlafstellen“ (bei wechselnden Freunden und Bekannten) sowohl gegen die behauptete reduzierte Belastbarkeit als auch gegen den sozialen Rückzug. Bis auf möglicherweise bestehende klaustrophobische Ängste – wobei sich die Frage stelle, wie der Antragsteller dann die zwei bis dreitätige Schifffahrt im Container habe bewältigen können (vgl. Behördenakte Bl. 308 Rückseite i.V.m. Bl. 304 oben) – könne die von Herrn Dr. … gestellte Diagnose nicht nachvollzogen werden. Die von dem Antragsteller im Hinblick auf seine möglicherweise erzwungene Rückkehr vorgetragenen Ängste bezögen sich einerseits auf die unsichere politische Situation, deren Beurteilung aber von den zuständigen Behörden vorzunehmen sei, und darauf, dass er dort keine Zukunft für sich sehe, was ebenfalls kein medizinisches Problem sei. Eine medizinisch begründbare Einschränkung der Reisefähigkeit aufgrund einer psychischen Störung bestehe bei dem Antragsteller nach dem Ergebnis der jetzt durchgeführten Untersuchung nicht. Nach den Angaben des Antragstellers (lieber wolle er sterben als nach Afghanistan zurückzugehen) sei jedoch nicht auszuschließen, dass es im Zusammenhang mit einer erzwungenden Ausreise zu suizidalen Handlungen komme. Aus diesem Grund werde empfohlen, den Antragsteller nach einer eventuellen Mitteilung einer erzwungenen Ausreise unter entsprechende Beobachtung zu stellen beziehungsweise ihn während der Reise entsprechend betreuen zu lassen.
Am 3. Juni 2016 sprach der Antragsteller in der Ausländerbehörde des Antragsgegners vor, um seine Duldung verlängern zu lassen (vgl. Gerichtsakte, Bl. 2).
Mit Beschluss vom 3. Juni 2016 ordnete das Amtsgericht … – auf Antrag des Antragsgegners – gegen den Antragsteller die Haft zur Sicherung der Abschiebung bis zu deren Vollzug, längstens jedoch für die Dauer von zwei Wochen an (vgl. Behördenakte, Bl. 387 ff.), da er über keinen festen Wohnsitz verfüge, eine freiwillige Ausreise ablehne und gegenüber dem Gutachter geäußert habe, sich einer Abschiebung widersetzen zu wollen (vgl. Behördenakte, Bl. 388 oben). Außerdem habe er für den Fall der Abschiebung Suizid angekündigt (Behördenakte, Bl. 388 unten). Der Antragsteller befindet sich seither in Abschiebungshaft.
Mit Schriftsatz vom 7. Juni 2016 beantragte der Antragsteller, den Antragsgegner einstweilig zu verpflichten, die Abschiebung des Antragstellers für die Dauer der ambulanten psychiatrischen Behandlung auszusetzen, mindestens jedoch für die Dauer von sechs Monaten.
Der Antragsteller leide an einer mittel- bis schwergradigen depressiven Symptomatik und einer posttraumatischen Belastungsstörung, die dringend einer fachärztlichen psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlung bedürfe. Eine Abschiebung bedeute eine vitale Bedrohung des Antragstellers, auch im Hinblick auf die bestehenden passiven Todeswünsche (vgl. Gerichtsakte, Bl. 3). Er sei angesichts der Schwere der Symptomatik und der klaustrophobischen Angstattacken für längere Reisen und einen Aufenthalt in geschlossenen Räumen reiseunfähig. Eine Aussetzung sei angezeigt, bis der Antragsteller wieder in einem psychologisch und psychiatrisch stabilem Zustand sei.
Zur Glaubhaftmachung war dem Schriftsatz die Stellungnahme von Herrn Dr. … ebenfalls vom 7. Juni 2016 beigefügt. Die Anamnese ist im Wesentlichen wortlautidentisch mit der Anamnese vom 6. August 2015 (Bl. 227) und vom 28. September 2015 (Behördenakte, Bl. 229). Sie beginnt ebenfalls mit dem Satz: „Herr … berichtet in Begleitung eines dolmetschenden Bekannten, seit sechs Jahren unter Schlafstörungen und Angstzuständen zu leiden“. Unter der Überschrift „Befund“ sind in die Aufzählung neu eingefügt „klaustrophobische Tendenzen“. Der Befund endet ebenfalls mit dem Satz: Von akuter Suizidalität ist der Patient trotz wiederkehrender passiver Todeswünsche derzeit distanziert (vgl. Behördenakte, Bl. 4 u.). Auch die „Beurteilung“ ist im Wesentlichen wortlautidentisch. Neu sind lediglich „klaustrophobische Angstattacken und „Aufenthalt in geschlossenen Räumen“. Dazu ist nicht von „soll eine engmaschige fachärztliche Überwachung … sichergestellt werden“, sondern von „muss“.
Mit Schreiben vom 8. Juni 2016 trug der Antragsgegner Folgendes vor:
Für den … Juni 2016 habe die Polizeiinspektion Schubwesen zum Zweck der Abschiebung des Antragstellers einen Flug mit Sicherheits- und Arztbegleitung (Abflug Flughafen … am …6.2016 um … Uhr – Ankunft am Flughafen Kabul am …6.2016 um … Uhr mit Zwischenstopp in …) gebucht. (Gerichtsakte, Bl. 15). Der Vollzug der anstehenden Abschiebung sei tatsächlich und rechtlich möglich (vgl. Gerichtsakte, Bl. 15). Das psychiatrische Gutachten vom 26. Februar 2016 habe die Reisefähigkeit des Antragstellerst festgestellt. Dabei sei Antragsteller ausführlich befragt worden, seine bisherige Behandlung sei ausführlich berücksichtigt worden. Das Gutachten mache deutlich, dass der Antragsteller nicht nach Afghanistan zurückkehren wolle. Er habe während der Begutachtung mehrfach wiederholt, dass er sich einer Abschiebung widersetzen werde. Er habe keinen festen Wohnsitz. Er übernachte bei verschiedenen Personen in … und halte sich nur alle 20 Tage in der Gemeinschaftsunterkunft auf. Aufgrund des Vortrags zu den behaupteten Erkrankungen und aufgrund der Drohungen, sich im Falle einer Abschiebung selbst zu verletzen, um diese nach Auffassung des Antragsgegners zu verhindern, sei eine Sicherheitsbegleitung in Form von drei Bundespolizisten und einem Arzt beantragt. Am Mittwoch, den … Juni 2016, werde die Justizvollzugsanstalt … nochmals eine Flugtauglichkeitsprüfung durchführen (vgl. Behördenakte, Bl. 16). Falls der Antragsteller während des Flugs Medikamente einnehmen sollte, sei dies aufgrund des begleitenden Arztes unproblematisch.
Der Antragsgegner beantragte daher,
den Antrag abzulehnen.
Ergänzend wird auf die Gerichts- und Behördenakten verwiesen.
II.
Der Anspruchsteller hat keinen Anspruch auf Aussetzung der Abschiebung wegen Unmöglichkeit der Abschiebung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG in Verbindung mit § 60a Abs. 2c AufenthG aufgrund Reiseunfähigkeit glaubhaft gemacht im Sinne von § 123 Abs. 1 und 3 VwGO.
Der Antragsteller hat das Vorliegen psychischer Grunderkrankungen und auch das Vorliegen einer akuten Suizidgefahr nicht hinreichend glaubhaft gemacht.
Von einer Reiseunfähigkeit im engeren Sinne spricht man, wenn die konkrete Gefahr besteht, dass sich der Gesundheitszustand des Ausländers durch die Abschiebung im Zusammenhang mit dem Transport, wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert und wenn diese Gefahr nicht durch bestimmte Vorkehrungen ausgeschlossen oder gemindert werden kann. Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne liegt dann vor, wenn die Abschiebung als solche außerhalb des Transportvorgangs eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr für den Ausländer bewirkt (vgl. zuletzt; BayVGH, B.v. 29.7.2014 –10 CE 14.1523 – juris Rn. 21).
Gemäß § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG wird grundsätzlich vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen. Ein Betroffener hat diese Vermutung daher zu widerlegen.
Von Bedeutung für die Glaubhaftmachung ist zunächst das eigene Verhalten des Antragstellers. So hat der Antragsteller, der sich seit über fünf Jahren in der Bundesrepublik Deutschland aufhält, erst, nachdem die Abschiebungsandrohung vollziehbar geworden war, psychische Störungen vorgetragen. Zu dieser zeitlichen Diskrepanz hat er sich nicht eingelassen. Der Antragsteller war zudem in der Lage, einer Berufstätigkeit nachzugehen (vgl. Behördenakte, Bl. 308 Rückseite).
Von Bedeutung sind des Weiteren die fachärztlichen Stellungnahmen von Herrn Dr. …, insbesondere die Stellungnahme vom 7. Juni 2016, auf die sich Antragsteller zu der Glaubhaftmachung seiner Reiseunfähigkeit maßgeblich beruft.
Für derartige Atteste gelten qualifizierte Anforderungen. Der Gesetzgeber hat die Rechtsprechung hierzu mit dem Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11. März 2016 zusammengefasst und kodifiziert. Gemäß § 60a Abs. 2c Satz 2 AufenthG muss ein Ausländer eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen. Diese ärztliche Bescheinigung soll gemäß § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten.
Ein Attest, dem nicht zu entnehmen ist, wie es zur prognostischen Diagnose kommt und welche Tatsachen dieser zugrunde liegen, ist nicht geeignet, das Vorliegen eines Abschiebungsverbots wegen Reiseunfähigkeit zu begründen (vgl. aus der Rechtsprechung vor der Gesetzeskodifikation: OVG Sachsen-Anhalt, B.v. 8.2.2012 – 2 M 29/12 – juris Rn. 11 ff.; BayVGH, B.v. 29.7.2014 –10 CE 14.1523 – juris Rn. 21).
Die fachärztlichen Stellungnahmen vom 6. August 2015, 28. September 2015, 15. Dezember 2015 und 7. Juni 2016 sind im vorliegenden Fall in ihrem Glaubhaftmachungswert stark herabgesetzt. Sie sind in Bezug auf die psychischen Störungen (posttraumatische Belastungsstörung und rezidivierende depressive Störung) lediglich allgemein und lediglich vage gehalten und im Wesentlichen wortlautidentisch. Sie knüpfen nicht an konkrete Befundtatsachen an, sondern begnügen sich mit dem Begriff „traumatisierender Kriegserfahrungen“. Sie legen die Methode der Tatsachenerhebung nicht offen und beschreiben – über einen Zeitraum von knapp einem Jahr – keine zusammenhängende fortlaufende Krankheitsgeschichte. Der Diagnose-Therapieverlauf wird nur spärlich dargestellt. Ihnen ist daher nicht ohne Weiteres eine Erkenntnisgrundlage für die Herleitung der getroffenen Diagnose zu entnehmen.
Auch in Bezug auf die Prognose eines Suizids, mithin auf die Prognose einer willentlich nicht steuerbaren akuten Suizidalität als Folge der behaupteten psychischen Grunderkrankung (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, B. v. 8.10.2015 – OVG 12 S. 60.15 – juris Rn. 2) ergeben sich Zweifel. Im vorliegenden Fall sprechen die fachärztlichen Stellungnahmen lediglich von „passiven Todeswünschen“. Dieser Ausdruck bedeutet indes, dass der Betroffene gerade aktiv nicht zur Tat schreitet. Die fachärztlichen Stellungnahmen, auch diejenige vom 7. Juni 2016, gehen sogar so weit festzustellen, der der „Patient von akuter Suizidalität trotz wiederkehrender passiver Todeswünsche derzeit distanziert ist“ (vgl. Gerichtsakte, Bl. 10). Die sich daran anschließende prognostische Diagnose, dass eine „vitale Bedrohung im Hinblick auf die bestehenden passiven Todeswünsche nicht auszuschließen ist “, wird erstens nur als Möglichkeit in Erwägung gezogen, beruht zweitens auf keinerlei Befundtatsachen und steht drittens im Widerspruch zu der vorgeschilderten Aussage.
Die fachärztliche Stellungnahme vom 7. Juni 2016 ist in ihrem Glaubhaftmachungswert erheblich reduziert durch den Umstand, dass sich der Antragsteller seit dem 3. Juni 2016 in Abschiebungshaft befand. Sie erweckt gleichwohl den Eindruck, als habe sich der Antragsteller erneut zu einer Untersuchung eingefunden. Ihr ist nicht zu entnehmen, welche Untersuchung Grundlage für die dort getroffene Diagnose ist. Die Einfügung der „klaustrophobischen Angstattacken“ wird nicht näher motiviert.
Die fachärztlichen Stellungnahmen von Herrn Dr. … werden in ihrem Glaubhaftmachungswert zudem erheblich reduziert durch das Gutachten vom 26. Februar 2016. Dieses Gutachten führt umfassend und in sich widerspruchsfrei die Befundtatsachen aus der Krankheitsgeschichte des Antragstellers, dem bisherigen Behandlungsverlauf, dem Vortrag und Verhalten des Antragstellers und aus der durchgeführten Untersuchung auf und legt Methode und die Schlussfolgerungen offen. Es setzt sich im Einzelnen mit den genannten fachärztlichen Stellungnahmen auseinander und widerlegt diese im Wesentlichen, indem es auch konkret an Befundtatsachen anknüpft. Zu dem Restzweifel an den behaupteten „klaustrophobischen Ängsten“ ist zu bemerken, dass der Antragsteller sich nach seinem eigenem Vortrag über längere Zeiträume in verschiedenen geschlossenen Räumen wie beispielsweise im Landratsamt Freising, in dem …-Klinikum … sowie in verschiedenen Wohnungen von Freunden und Bekannten oder im Container auf dem Weg von Griechenland aufgehalten hat. Dies steht in Widerspruch zu den behaupteten psychischen Störungen. Diesen Widerspruch hat der Antragsteller nicht aufgeklärt.
Im Übrigen würde selbst bei einer unterstellten ernsthaften Suizidgefahr nicht zwangsläufig ein krankheitsbedingtes Abschiebungshindernis vorliegen, sondern die Abschiebung wäre von der zuständigen Ausländerbehörde so zu gestalten, dass der Suizidgefahr wirksam begegnet werden kann (vgl. zuletzt: BayVGH, B.v. 29.7.2014 –10 CE 14.1523 – juris Rn. 21 a.E.).
Diese Vorkehrungsmaßnahmen hat der Antragsgegner im vorliegenden Fall durch die beschriebene polizeiliche und ärztliche Sicherheitsbegleitung sowie die Art und Dauer der Reise veranlasst. In diesem Sinne sind auch die Ausführungen in dem Gutachten vom 26. Februar 2016 zu verstehen. Das Gutachten vom 26. Februar 2016, das die behaupteten psychischen Störungen im Wesentlichen verneint hat, hat lediglich Suizid-Handlungen (aus anderen Gründen als psychischen Störungen) als Möglichkeit in Erwägung gezogen. Dem hat der Antragsgegner für die unter Umständen Affekthandlungen auslösende Stresssituation, wie sie eine Abschiebung darstellt, hinreichend vorgebeugt.
Aufgrund der geschilderten Umstände und Erwägungen kommt die Kammer daher zu dem Ergebnis, dass der Antragsteller die behauptete Reiseunfähigkeit sowohl im engeren als auch im weiteren Sinne nicht hinreichend glaubhaft gemacht hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nrn. 1.5 und 8.3 des Streitwertkatalogs.


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