Medizinrecht

Schadensersatz, Behandlungsfehler, Schmerzensgeld, Arzt, Versorgung, Merkzeichen, Ersatzpflicht, Diagnose, GdB, Gutachten, Betreuung, Feststellung, Auskunft, Krankenhaus, Kosten des Rechtsstreits, angemessenes Schmerzensgeld, psychiatrisches Gutachten

Aktenzeichen  1 O 4395/20 Hei

Datum:
10.5.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 17188
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
München II
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Tenor

1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 120.000,00 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 29.12.2020 zu zahlen.
2. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin die sich aus dem Behandlungsfehler vom 01.02.2017 ergebenden materiellen und unvorhersehbaren immateriellen Schäden zu ersetzen, soweit diese nicht auf Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.
3. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen. Die Nebenintervenientin trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
4. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet. Der Klägerin steht Schadensersatz unter vertraglichen (§§ 280, 630a BGB) und deliktischen Gesichtspunkten (§ 823 BGB) zu, weil zur Überzeugung der Kammer feststeht, dass ihre Gesundheit infolge eines Behandlungsfehlers der Beklagten nicht unerheblich geschädigt worden ist.
Die Kammer hat sich durch den Facharzt für Innere Medizin x beraten lassen. Der Sachverständige ist Chefarzt der Inneren Abteilung der Main-Klinik Ochsenfurt und behandelt jährlich 50-100 Schlaganfallpatienten in Kooperation mit der Neurologie, der Radiologie und der Neuroradiologie des Universitätsklinikums Würzburg mittels telemedizinischem Netzwerk, welches zu dem bei der Beklagten etablierten System vergleichbar ist. Der Sachverständige hat die Behandlungsunterlagen gründlich ausgewertet und ist zu nachvollziehbaren und überzeugend begründeten Ergebnissen gekommen. Dem Sachverständigen lagen die divergierenden, aber in der Begründung durchweg knapp gehaltenen Einschätzungen der zuvor tätigen Gutachter (insbes. Anlagen K 1 – K 3) vor und er hat sich mit diesen auseinander gesetzt.
I. Die Behandlung war jedenfalls insoweit fehlerhaft, als eine CT-Angiografie um mindestens 80 Minuten verzögert worden ist (vgl. S. 5 des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom 05.04.2022 und S. 11 und 13 des Gutachtens vom 09.09.2021). Dabei kann dahinstehen, ob die Verantwortung hierfür bei der Beklagten oder der Nebenintervenientin liegt, denn die Beklagte hat sich, soweit sie unter vertraglichen Gesichtspunkten haftet, das Verschulden der Nebenintervenientin gem. § 278 BGB zurechnen zu lassen. Einer Beweisaufnahme über die Behauptungen der Beklagten zum Zeitablauf bedurfte es nicht, denn eine Haftung der Beklagten ist wegen der Zurechnung des Verschuldens der Nebenintervenientin auch dann gegeben, wenn man die diesbezüglichen Behauptungen der Beklagten unterstellt, während die Nebenintervenientin nicht gehört wird, soweit sie diesen Beklagtenvortrag (und insbesondere die Behauptung, die Beklagte habe die Nebenintervenientin bereits um 19.15 Uhr kontaktiert) bestreitet (§ 67 HS. 2 ZPO). Schon allein der Zeitablauf zwischen Abschluss der ersten orientierenden Untersuchungen (gegen 19.15 Uhr) und Indikationsstellung für die CT-Angiografie ist (grob) fehlerhaft. Im Übrigen hat die Beweisaufnahme ergeben, dass die Nebenintervenientin auch die Zeit zwischen (der nach ihrer Behauptung erstmaligen Kontaktaufnahme seitens der Beklagten um) 19.43 Uhr und 20.05 Uhr nicht hätte verstreichen lassen dürfen, bevor sie die angeforderte Auswertung der radiologischen Befunde übernimmt (S. 4 des Protokolls vom 05.04.2022). Die Nebenintervenientin hat im Übrigen angegeben, dass um 20.15 Uhr eine CT-Angiografie für notwendig erachtet wurde und dies der Beklagten auch mitgeteilt worden sei, diese habe jedoch erst um 21.01 Uhr begonnen. Mindestens 30 Minuten Verzögerung (geht man von einer Aufrüstzeit von 15 Minuten aus, vgl. S. 5 des Protokolls) hat also die Beklagte selbst zu verantworten. Soweit, wie vom Sachverständigen nachvollziehbar beanstandet, die Abläufe offensichtlich nicht klar geregelt waren, ist dies ein Organisationsversäumnis, das beide beteiligten Krankenhäuser zu verantworten haben (vgl. S. 3 des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom 05.04.2022 und S. 13 des Gutachtens vom 09.09.2021). Die Schlaganfallbehandlung ist für alle Beteiligten komplex. Wenn man als kleines Krankenhaus Schlaganfallpatienten versorgt, ist eine engmaschigste Vernetzung erforderlich. Erforderlich sind detaillierte Regelungen, wer für was zuständig ist. Diese können beispielsweise in einer SOP (Standard-Operating-Procedure) niedergelegt werden. Durch die – hier i.W. allein erfolgte – bloße Verständigung der Beteiligten, im Rahmen einer telemedizinischen Schlaganfallversorgung leitlinienkonform behandeln zu wollen, kommen die Beteiligten nicht in hinreichendem Maße ihrer Absprache- und Koordinationsverpflichtung nach (vgl. zu dieser Spickhoff/Knauer/Brose Medizinrecht 3. Aufl. § 222 StGB Rn. 48), um sicherzustellen, dass die gebotenen Diagnose- und Behandlungsschritte im Falle der notfallmäßigen Versorgung eines Schlaganfallpatienten mit der gebotenen Schnelligkeit erfolgt (vgl. die Erläuterungen des Sachverständigen auf S. 2/3 des Protokolls vom 05.04.2022 unter Bezugnahme auf die von Seiten der Beklagten mit Schriftsatz vom 03.08.2021 vorgelegten Unterlagen über die Vereinbarungen im Rahmen der Zusammenarbeit mit der Nebenintervenientin).
Ferner wäre im konkreten Fall die Hinzuziehung nicht nur der Radiologen, sondern auch der Neurologen der Nebenintervenientin 15 Minuten nach Aufnahme der Klägerin – also nach Ausschluss internistischer Erkrankungen als Grund für die Bewusstlosigkeit – erforderlich gewesen (vgl. S. 3 und 4 des Protokolls vom 05.04.2022). Die Nebenintervenientin und die Beklagte haben der Feststellung der Kammer (S. 3 des Protokolls) nicht widersprochen, dass weder die Beklagte, noch die Radiologen der Nebenintervenientin auf die rechtzeitige Hinzuziehung der Neurologen der Nebenintervenientin gedrängt haben. Dies zu verlangen, wäre jedoch im Verantwortungsbereich beider beteiligter Funktionseinheiten gestanden und im Übrigen hat sich die Beklagte – wie ausgeführt – die Versäumnisse der Nebenintervenientin zurechnen zu lassen (so auch der Sachverständige, vgl. S. 3 des Protokolls vom 05.04.2022), weshalb letztlich dahinstehen kann, ob der Einwand der Nebenintervenientin (S. 3 und 4 des Protokolls) zutrifft, wegen einer zu späten Kontaktaufnahme (nämlich erst um 19.43 Uhr und nicht bereits um 19.15 Uhr, wie die Beklagte behauptet – S. 4 des Protokolls vom 05.04.2022) habe die Beklagte der Nebenintervenientin die Möglichkeit genommen, noch sinnvoll telemedizinisch von neurologischer Seite bei der Erstdiagnostik mitwirken zu können, ohne hierdurch die gebotenen Maßnahmen weiter zu verzögern.
II. Die verbliebenen neurologischen Beeinträchtigungen beruhen auf dem Behandlungsfehler.
1. Der Klägerin kommt die Beweislastumkehr gem. § 630h Abs. 5 S. 2 BGB zugute (so auch bereits die Schlichtungsstelle der Landesärztekammer in ihrer abschließenden Stellungnahme vom 07.11.2018, Anlage K 7).
a) Die CT-Angiografie wurde nicht zeitgerecht durchgeführt (s.o.).
b) Wäre sie zeitgerecht erfolgt, so hätte sie mit überwiegender Wahrscheinlichkeit einen Schlaganfall als reaktionspflichtigen Befund gezeigt (sofortige Verlegung zum Zweck von rekanalisierenden Maßnahmen – vgl. S. 6 des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom 05.04.2022 und S. 14 des Gutachtens vom 09.09.2021).
c) Die Nichtreaktion hierauf wäre „grob fehlerhaft“ gewesen (vgl. S. 6 des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom 05.04.2022).
2. Die Verzögerung ist grob fehlerhaft (vgl. mündliche Verhandlung vom 05.04.2022, S. 4 unten des Protokolls: „völlig unverständlich“; ferner: S. 15 des Gutachtens vom 09.09.2021). Angesichts des relativ jungen Alters der Patientin und der gravierenden Bewusstseinsstörung, für welche es bis 19.40 Uhr keine nachvollziehbare Diagnose gab, ist das ohne Weiteres nachvollziehbar – und zwar unabhängig davon, ob man von Organisationsmängeln, von Versagen im konkreten Behandlungsfall oder von beidem ausgeht. Der Sachverständige hat anschaulich dargestellt, dass eine leitliniengerechte Schlaganfallversorgung eine engmaschigste Vernetzung erfordere, die im vorliegenden Fall nicht gegeben war.
III. Die Beklagte hat die Klägerin für den Gesundheitsschaden zu entschädigen und auch für die weiteren Folgen einzustehen. Die Ursächlichkeit des Behandlungsfehlers für das neurologische Defizit ist hoch wahrscheinlich; vielleicht wäre sogar eine Restitutio ad integrum möglich gewesen (S. 15 des Gutachtens).
1. Die Kammer erachtet im vorliegenden Fall ein Schmerzensgeld in Höhe von 120.000,00 € für angemessen (§ 253 Abs. 2 BGB, § 287 ZPO).
Die Höhe des zuzubilligenden Schmerzensgeldes hängt entscheidend vom Maß der durch das haftungsbegründende Ereignis verursachten körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen des Geschädigten ab, soweit diese bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung bereits eingetreten sind oder zu diesem Zeitpunkt mit ihnen als künftiger Verletzungsfolge ernstlich gerechnet werden muss (BGH VersR 1976, 440, OLG München, Urteil vom 27.10.2006, 10 U 3345/06, Rn. 13). Die Schwere dieser Belastungen wird vor allem durch die Stärke, Heftigkeit und Dauer der erlittenen Schmerzen und Funktionsbeeinträchtigungen bestimmt. Besonderes Gewicht kommt dabei etwaigen Dauerfolgen der Verletzungen zu, und zwar auch soweit sie sich auf die private und berufliche Situation des Geschädigten auswirken (vgl. etwa OLG München, Urteil vom 10.07.2008, 1 U 4923/07, Rn. 67).
Die Kammer hat bei der Bemessung des Schmerzensgeldes insbesondere berücksichtigt: die Halbseitensymptomatik mit spastischer Hemiparese links in Verbindung mit Sensibilitätsstörungen, das milde hirnorganische Psychosyndrom, die Pflegebedürftigkeit der Klägerin, Erforderlichkeit von Rollstuhl bzw. anderweitiger Gehhilfe, evtl. Rollator. Zu den Einzelheiten und insbesondere auch zu dem Ergebnis der Exploration der Klägerin nimmt die Kammer Bezug auf S. 6 bis 9 des Gutachtens vom 09.09.2021 sowie ergänzend auf das auch vom Sachverständigen zitierte Gutachten des Psychiaters Sass (Anl. K 5). Im Ergebnis kann die Klägerin im Hinblick auf ihre ausgeprägte Hemiparese mit der erheblichen Spastik keine sinnvolle Haushaltstätigkeit in effektiver Weise verrichten (vgl. ergänzend die vor dem Hintergrund der Feststellungen des Sachverständigen nachvollziehbare Schilderung auf S. 3 des Schriftsatzes vom 10.02.2022 sowie das Pflegegutachten, Anl. K 2) sowie den von ihr erlernten Beruf als Hauswirtschafterin und die von ihr zuletzt ausgeübten Tätigkeiten wie Zeitungen austragen und Regalservice nicht mehr ausüben (vgl. auch Schriftsatz vom 22.12.2021). Sie ist auf Pflege durch ihre Angehörigen angewiesen (Pflegegrad 3 seit 2017, 100% – ige Schwerbehinderung); es besteht eine rechtliche Betreuung als Folge der durch das streitgegenständliche Geschehen ausgelösten Persönlichkeits- und Verhaltensstörung. Sie bedarf einer umfassenden Behandlung und Medikation. Die Klägerin ist zur Person und ihrer Situation orientiert. Sie ist sich auch des Umstands bewusst, dass sie für ihre 3 Kinder, von denen jedenfalls die jüngste – Magdalena (geboren am 11.11.2011, zu 80% schwerbehindert und daher auf besondere elterliche Fürsorge angewiesen, vgl. Anl. K 9) – noch zu Hause lebte und lebt, nicht im Ansatz in der Weise sorgen kann, wie dies einer gesunden Mutter möglich (gewesen) wäre (vgl. auch Schriftsatz der Klägerin vom 21.12.2021). Dass sie angesichts dieser Lebenssituation depressive Episoden hat, die angesichts laufender Therapie nur noch leicht- bis mittelgradig sind, verwundert nicht.
2. Der Klageantrag zu Ziff. 2. war als Feststellungsantrag wie tituliert auszulegen und erweist sich als begründet.
IV. Die Nebenentscheidungen ergeben sich aus den §§ 91 Abs. 1, 709 S. 1 ZPO.


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