Medizinrecht

Sicherheitsrechtliche Anordnungen zur Hundehaltung

Aktenzeichen  M 22 K 17.6060

Datum:
14.11.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 35310
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
LStVG Art. 8, Art. 18 Abs. 1, Abs. 2
BayVwVfG Art. 40

 

Leitsatz

1. Auch mögliche Fehlreaktionen von Passanten sind als eine von Hunden ausgehende Gefahr einzustufen, sodass im Hinblick auf den Schutzzweck von § 18 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 LStVG, nämlich dem Schutz der Allgemeinheit vor gefährlichen Hunden, etwaige nicht “hundegerechte” Reaktionen ihnen zuzuordnen sind (vgl. BayVGH BeckRS 2004, 22014). (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ist es bereits zu einem Beißvorfall oder sonstigen Zwischenfällen gekommen, so ist ein sicherheitsrechtliches Einschreiten zur Abwehr der bereits realisierten Gefahr regelmäßig nicht nur zulässig, sondern sogar geboten (Anschluss an BayVGH BeckRS 2015, 45075). (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die von einem Hund ausgehende konkrete Gefahr kann nicht ohne Weiteres auch für Gebiete angenommen werden, in denen weder mit relevantem Publikumsverkehr noch mit zwangsläufigem Kontakt zu Menschen zu rechnen ist (vgl. BayVGH BeckRS 2017, 110437). (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid vom 23. November 2017 wird in Nr. 2 Sätze 3 und 4 aufgehoben.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Von den Kosten des Verfahrens tragen die Klägerin 4/5 und die Beklagte 1/5.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage bleibt überwiegend erfolglos. Der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten vom 23. November 2017 erweist sich in weiten Teilen als rechtmäßig. Soweit jedoch Anordnungen zum Freiauslauf in Gebieten außerhalb bebauter Ortsteile getroffen wurden (Tenor Nr. 2 Sätze 3 und 4) fehlt es bereits an den tatbestandlichen Voraussetzungen hierfür, so dass der Bescheid insoweit aufzuheben war (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Die Rechtsgrundlage für sicherheitsrechtliche Anordnungen zur Hundehaltung ergibt sich aus Art. 18 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 LStVG; nach dieser Vorschrift können Gemeinden zum Schutz von Leben, Gesundheit, Eigentum oder der öffentlichen Reinlichkeit Anordnungen für den Einzelfall zur Haltung von Hunden treffen. Eine solche Anordnung darf jedoch nur verfügt werden, wenn im zu betrachtenden Einzelfall eine konkrete Gefahr für die genannten Schutzgüter vorliegt. Das ist dann der Fall, wenn in dem zu beurteilenden Einzelfall mit hinreichender Wahrscheinlichkeit damit gerechnet werden kann, dass es in absehbarer Zeit zu einem Schaden, d.h. einer Verletzung der geschützten Rechtsgüter, kommt. Hierbei sind an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer der zu erwartende Schaden ist (st. Rspr.; vgl. Bay VGH, U.v. 6.4.2016 – 10 B 14.1054 – juris Rn. 19; U.v. 21.12.2011 – 10 B 10.2806 – juris Rn. 18 m.w.N.). Eine konkrete Gefahr für die in Art. 18 Abs. 1 LStVG genannten Rechtsgüter ist jedenfalls dann anzunehmen, wenn es in der Vergangenheit bereits zu einem Beißvorfall gekommen ist (vgl. BayVGH, B.v. 25.8.2014 – 10 ZB 12.2673 – juris Rn. 8; B.v. 28.9.2012 – 10 CS 12.1791 – juris Rn. 24).
2. Die zu Grunde gelegt ist der in Nrn. 1 und 2 Satz 1 des Bescheidestenors angeordnete Leinenzwang mit Regelungen zum Freiauslauf auf übersichtlichen Flächen innerorts (dort Freilaufenlassen mit Maulkorb) rechtlich nicht zu beanstanden.
2.1 Vorliegend bestehen zur Überzeugung des Gerichts hinreichende Anhaltspunkte für die Annahme einer für Anordnungen im Sinne der Tenor Nrn. 1 und 2 Satz 1 des Bescheides vom 23. November 2017 erforderlichen konkreten Gefahr für die Gesundheit von Menschen. Bei ihrer Gefahrenprognose durfte die Beklagte bei Erlass des Bescheides davon ausgehen, dass sich der dem Bescheid zugrunde liegende Vorfall vom 5. September 2017 in der von der Geschädigten geschilderten Weise zugetragen hat. Die Beklagte hat den Sachverhalt im Rahmen der ihr zur Verfügung stehenden Mittel hinreichend aufgeklärt und dabei insbesondere auch die jeweiligen Stellungnahmen der Beteiligten berücksichtigt. Anhaltspunkte, die die Glaubwürdigkeit der Angaben der betroffenen Passantin in Zweifel ziehen würden, sind nicht ersichtlich, zumal auch die Klägerin in ihrer Stellungnahme vor Bescheidserlass ein Zuzwicken ihrer Hündin selbst eingestanden hatte. Auch unter Berücksichtigung der im Klageverfahren eingereichten Stellungnahme der Nachbarin der Klägerin sind Umstände, aufgrund derer weitere Maßnahmen zur Sachaufklärung hätten veranlasst sein können, für das Gericht nicht ersichtlich.
2.2 Dem Vorliegen einer konkreten Gefahr steht insbesondere nicht entgegen, dass die betroffene Passantin zur Entstehung des (Beiß-)Vorfalls durch ein etwaiges Fehlverhalten (möglicherweise) beigetragen haben könnte, indem sie nach den Angaben der Klägerin und der Nachbarin laut schrie und hektische Bewegungen vollzog. Auch mögliche Fehlreaktionen von Passanten sind als eine von Hunden ausgehende Gefahr einzustufen, sodass im Hinblick auf den Schutzzweck der Norm, nämlich dem Schutz der Allgemeinheit vor gefährlichen Hunden, etwaige nicht “hundegerechte” Reaktionen ihnen zuzuordnen sind (vgl. hierzu BayVGH, B.v. 7.4.2004 – 24 CS 04.53 – juris Rn. 22; B.v. 28.9.2012 – 10 CS 12.1791 – juris Rn. 24 m.w.N.).
2.3 Die Anordnungen in den Nrn. 1 und 2 Satz 1 des Bescheides vom 23. November 2017 (Leinenzwang mit Regelung zum Freiauslauf auf innerörtlichen, übersichtlichen Flächen) lassen auch keine Ermessensfehler erkennen und erweisen sich darüber hinaus als verhältnismäßig (Art. 8 LStVG).
2.3.1 Der Erlass von Anordnungen für den Einzelfall zur Haltung von Hunden nach Art. 18 Abs. 2 LStVG liegt im Ermessen der Behörde. Die von dieser zu treffende Entscheidung erfasst sowohl die Frage, ob sie handeln will (Entschließungsermessen) (dazu 5.1.), als auch die Frage, wie sie handeln will (Auswahlermessen). Dabei hat sie ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten (Art. 40 BayVwVfG).
2.3.2 Liegt eine konkrete Gefahr vor, sind an die Begründung des Entschließungsermessens regelmäßig keine hohen Anforderungen zu stellen. Ist es – wovon vorliegend auszugehen ist – bereits zu einem Beißvorfall oder sonstigen Zwischenfällen gekommen, so ist ein sicherheitsrechtliches Einschreiten zur Abwehr der bereits realisierten Gefahr nach ständiger Rechtsprechung Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs regelmäßig nicht nur zulässig, sondern sogar geboten (vgl. etwa BayVGH, U.v. 25.11.2014 – 10 BV 13.1151 – juris Rn. 46; B.v. 25.8.2014 – 10 ZB 12.2673 – juris Rn. 8, B.v. 18.11.2011 – 10 ZB 11.1837, Rn. 19; Schenk in Bengl/Berner/Emmerig, LStVG, Art. 18, Rn. 61).
Auch ihr Auswahlermessen hat die Beklagte ordnungsgemäß ausgeübt. Ihre Erwägungen sind weder im Hinblick auf die Geeignetheit und die Erforderlichkeit der Anordnungen rechtlich zu beanstanden noch im Hinblick auf ihre Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn. Durch die Anordnung eines Leinenzwangs sowie eines Maulkorbzwanges bei Freiauslauf auf übersichtlichen, innerörtlichen Freiflächen wird sichergestellt, dass in Gebieten, in denen üblicherweise mit regem Publikumsverkehr zu rechnen ist, die von der Hündin ausgehende Gefahr zuverlässig beseitigt wird. Die Anordnungen belasten die Klägerin auch nicht über die Maßen, zumal ein erhebliches öffentliches Interesse an einer Unterbindung der von der Hündin ausgehenden Gefahr besteht. Durch die weiterhin gegebene Möglichkeit des Freiauslaufs werden auch die Belange des Tierwohls angemessen berücksichtigt.
3. Dagegen erweisen sich die Anordnungen zum Freiauslauf außerhalb bebauter Ortsteile (Nr. 2 Sätze 3 und 4 des Bescheidstenors) als rechtswidrig; es fehlt diesbezüglich bereits am Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen der Rechtsgrundlage (Art. 18 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 LStVG).
Die von der Hündin ausgehende konkrete Gefahr kann nicht ohne Weiteres auch für Gebiete angenommen werden, in denen weder mit relevantem Publikumsverkehr noch mit zwangsläufigem Kontakt zu Menschen zu rechnen ist. Die bloße entfernte oder abstrakte Möglichkeit, dass die Hündin der Klägerin (auch) außerhalb bewohnter Gebiete auf Menschen treffen und diese angreifen und von der Klägerin in solchen Situationen nicht oder nicht rechtzeitig zurückgehalten werden könnte, reicht für das Erfordernis einer konkreten Gefahr im oben genannten Sinn nicht aus (vgl. hierzu ausführlich BayVGH, B.v. 3.5.2017 – 10 CS 17.405 – juris Rn. 10; U.v. 6.4.2016 – 10 B 14.1054 – juris Rn. 20). Die Beklagte gibt selbst in ihrem Bescheid vom 23. November 2017 an, dass außerhalb bebauter Ortsteile mit erheblich weniger Aufkommen von Personen zu rechnen ist. Inwiefern sich daraus eine tragfähige Grundlage dafür ableiten lässt, dass von der Hündin im Außenbereich bei Begegnung mit Menschen die gleiche Gefahr ausgehen würde, wie sie für die damit nicht vergleichbare Innenbereichslage anzunehmen ist, erschließt sich nicht. Vielmehr sind konkrete Anhaltspunkte dafür, dass von der Hündin der Klägerin auch dann, wenn diese außerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile ohne Auflagen ausgeführt wird, konkrete Gefahren für die in Art. 18 Abs. 1 Satz 1 LStVG genannten Schutzgüter zu befürchten sind, derzeit zur Überzeugung des Gerichts nicht ersichtlich.
4. Die Androhung des Zwangsgeldes in Nr. 4 des streitgegenständlichen Bescheides vom 23. November 2017 begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Insbesondere wurde die gewählte Zwangsgeldhöhe sowie der Verzicht auf eine grundsätzlich zu setzende Vollstreckungsfrist (Art. 36 Abs. 1 Satz 2 VwZVG) in einer den gesetzlichen Anforderungen genügenden Weise begründet. Die Setzung einer Vollstreckungsfrist konnte vorliegend auch unterbleiben, da von der Klägerin vorliegend keine nennenswerten Vorbereitungshandlungen getroffen werden müssen.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO; eine Verteilung der Kosten von 4/5 zu 1/5 erscheint unter Berücksichtigung der Bedeutung der getroffenen Anordnungen verhältnismäßig. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt folgt aus § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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