Medizinrecht

Streit um Anerkennung einer Lendenwirbelsäulenerkrankung als Berufskrankheit

Aktenzeichen  S 4 U 145/14

Datum:
26.3.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 56848
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VII § 9 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

1. Das Zeichen nach Schober 10/13 spricht für eine gute Beweglichkeit der Lendenwirbelsäule. (Rn. 43 – 45)
2. Einem geringeren Finger-Boden-Abstand als 24 cm steht allein schon ein Body-Mass-Index von 36,7 kg/m² entgegen. (Rn. 43 – 45)

Tenor

I. Die Klage gegen den Bescheid vom 21. Februar 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Juni 2014 wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

Nach § 105 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist (Satz 1). Die Beteiligten sind vorher zu hören (Satz 2).
Der Sachverhalt ist nach Einholung des Gutachtens von Professor Dr. M. vom 22.09.2019 hinreichend geklärt. Es bedurfte auch nicht der Ladung des Gutachters, da der Kläger Fragen zu den arbeitstechnischen Voraussetzungen formulierte, die der Gutachter aber als gegeben erachtet („Konstellation A1“ Konsensempfehlung). Zudem war der Beweisantrag des Klägers fehlerhaft gestellt, da Professor Dr. M. Gutachter nach § 106 Abs. 3 Nummer 4 SGG war und nicht nach § 109 SGG. Anträge nach § 109 SGG waren binnen 6 Wochen nach Zugang des Gutachtens zu stellen. Der Antrag vom 03.01.2020 dient damit ersichtlich der Verzögerung des Verfahrens. Die Interpretation des Messblatts ist keine gutachterliche Tatsachenfeststellung, sondern auf der Grundlage der unfallrechtlichen Standardliteratur und durch Kenntnis der Rechtsprechung des Bayerischen Landessozialgerichts für jedermann möglich.
Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid der Beklagten vom 21.02.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.06.2014, mit dem die Feststellung einer Berufskrankheit und die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung abgelehnt wurden.
Die Klage ist zulässig, insbesondere statthaft. Dem Anliegen des Klägers entspricht die erhobene Anfechtungs- und Verpflichtungsklage. Versicherte haben bei Eintritt einer Berufskrankheit Anspruch auf deren Feststellung.
Die Klage ist unbegründet, da die angefochtenen Bescheide rechtmäßig sind und der Kläger keinen Anspruch auf die begehrte Feststellung hat.
Rechtsgrundlage für die Anerkennung der begehrten Berufskrankheit ist § 9 Abs. 1 S. 1 SGB VII i.V.m. Nr. 2108 und 2110 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung. Berufskrankheiten sind gem. § 9 Abs. 1 SGB VII grundsätzlich nur diejenigen Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet (Listen-BK) und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. In der Anlage 1 zur BKV ist die BK 2108 als bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können bezeichnet.
Zur näheren Interpretation besteht das Mainz-Dortmunder-Dosismodells (MDD). Allerdings sind dort die unbestimmten Rechtsbegriffe „langjähriges“ Heben und Tragen „schwerer“ Lasten oder „langjährige“ Tätigkeit in „extremer Rumpfbeugehaltung“ nur ungenau und allenfalls nur richtungsweisend umschriebenen Einwirkungen genannt. Das Bundessozialgericht hat das MDD weiterentwickelt und in mehreren Punkten modifiziert. Deshalb ist nunmehr die Hälfte des Orientierungswertes nach MDD von dann 12,5 MNh der Dosisbelastung zu Grunde zu legen (jüngst etwa Urteil vom 06.09.2018 – B 2 U 13/17 R -, Rn. 16 f.)
Eine Berufskrankheit Nummer 2110 besteht bei einer bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule durch langjährige, vorwiegend vertikale Einwirkung von Ganzkörperschwingungen im Sitzen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können bezeichnet.
Hinsichtlich des Beweismaßstabes gilt für die Beweiswürdigung, dass die Tatsachen, die die Tatbestandsmerkmale „versicherte Tätigkeit“, „Verrichtung“, „Einwirkungen“ sowie „Gesundheitsschaden“ im Grad des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, für das Gericht feststehen müssen. Demgegenüber genügt für den Nachweis der naturphilosophischen Ursachenzusammenhänge zwischen diesen Voraussetzungen der Grad der (hinreichenden) Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die Glaubhaftmachung und erst recht nicht die bloße Möglichkeit.
Für die Anerkennung einer Berufskrankheit bzw. von Berufskrankheitenfolgen gelten in der gesetzlichen Unfallversicherung folgende Grundsätze: Es müssen die gesundheitsschädlichen beruflichen Einflüsse, d. h. hier die arbeitstechnischen Voraussetzungen, und die Erkrankung als solche mit Gewissheit bewiesen werden. Für die Feststellung eines Zusammenhanges zwischen der versicherten Tätigkeit und den beruflichen Einwirkungen (haftungsbegründende Kausalität) und den Zusammenhang zwischen den beruflichen Einwirkungen und dem Gesundheitsschaden (haftungsausfüllende Kausalität) ist darüber hinaus ein hinreichender Grad von Wahrscheinlichkeit erforderlich. Dieser ist nach der Rechtsprechung erst dann erreicht, wenn bei einem vernünftigen Abwägen aller Umstände die auf eine berufliche Verursachung hinweisenden Faktoren deutlich überwiegen. Eine Entstehungsmöglichkeit verdichtet sich dann zur Wahrscheinlichkeit, wenn nach der geltenden ärztlichen wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen Zusammenhang spricht und ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Verursachung ausscheiden.
Der Kläger war bei seiner beruflichen Tätigkeit Versicherter im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII. Ob der Kläger Einwirkungen ausgesetzt war, die zu Berufskrankheit nach BK 2108 oder 2110 führen können, kann dahinstehen, da es am erforderlichen Vollbeweis eines Gesundheitsschadens fehlt. Der Kläger kann damit nicht geltend machen, dass seine Lendenwirbelbeschwerden Folgen einer Berufskrankheit nach BK 2108 oder 2110 sind.
Das Gericht folgt bei seiner Beurteilung den überzeugenden Darlegungen des Gutachters Professor Dr. M. im Gutachten vom 22.09.2019. Professor Dr. M. hat überzeugend herausgearbeitet, dass beim Kläger die Konstellation A1 gegeben ist (dazu Bolm-Audorff/Brandenburg/Brüning/Dupuis/Ellegast/Elsner/Franz/Grasshoff/Grosser/Hanisch/Hartmann/Hartung†/Heuchert/Jäger/Krämer/Kranig/Hering/Ludolph/Luttmann/Nienhaus/Pieper/Pöhl/Remé/Riede/Rompe/Schäfer/Schilling/Schmitt/Schröter/Seidler/Spallek/Weber, Medizinische Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule – Konsensempfehlungen, Trauma und Berufskrankheit 2005/3, S. 217). Danach ist eine Berufskrankheit abzulehnen, wenn der Exposition ausreichend ist, aber keine gesicherte bandscheibenbedingte Erkrankung vorliegt.
In der Tat liegt beim Kläger keine wesentliche bandscheibenbedingte Erkrankung der Wirbelsäule vor. Professor Dr. M. hat eine Seitneigung rechts/links von jeweils 40° und Drehung rechts/links von jeweils 70° festgestellt. Das Zeichen nach Schober beträgt 10/13. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage 2017 8.3.1.9, Seite 470 erläutert diese Messmethode. Dabei wird im Stehen des Probanden ein Punkt 10 cm oberhalb des Dornfortsatzes am Kreuzbein kranial (zum Kopf hin) ausgemessen. Nach einer Beugung des Probanden nach vorne wird der Abstand zwischen den beiden Punkten erneut bestimmt. Diese Entfernung ist bei bester Beweglichkeit dann 15 cm, also 10/15. Die Verkürzung um 2 cm deutet, wie Dr. M. zutreffend wertet, auf eine leichte Verminderung der Dehnbarkeit hin. Der Finger-Boden-Abstand wurde mit 24 cm bestimmt.
Die Messwerte sprechen für eine gute Beweglichkeit. So hat das Bayerische Landessozialgericht (Urteil vom 12. Juli 2017 – L 2 U 100/11 -, Rn. 87) eine solche bei möglicher Seitneigung um 30°, Drehung um 50°, Finger-Boden-Abstand von 30 cm, Zeichen nach Ott von 30 zu 31 cm und lumbalem Schober von 10 zu 14 cm angenommen.
Bei einer Größe von 180 cm und einem Gewicht von 119 kg des Klägers besteht ein Body Maß Index von 36,7 als Orientierungswert. Damit dürfte von einer Adipositas II nach WHO Standard auszugehen sein, die allein schon einem geringeren Finger-Boden-Abstand entgegensteht.
Damit trägt weder das Zeichen nach Schober noch aus den Finger-Boden-Abstand die Feststellungen des Klägers, dass eine echte Versteifung der Wirbelsäule und eine erhebliche Funktionsbeeinträchtigung vorliegt. Das Attest von Dr. K.D.
vom 25.10.2004 ist nicht beweiserheblich, da Bandscheibenschäden teilweise remittiert werden können. Dazu führen Schönberger/Mehrtens/Valentin, aaO., 8.3.1.7.3, S. 462 aus, dass ich pädagogische Vorgänge nach einer Bandscheibenverletzung einsetzen. Meist sprießen Blutgefäße von den Längsbändern und der Knochenhaut in die sich zurückbildende Bandscheibe. Dadurch bildet sich als Zwischenstadium ein derbes Narbengewebe, dass letztlich zu einer bindegewebigen narbigen Verbindung der Wirbelkörper führt und genügend festen Halt gibt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.


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