Medizinrecht

Unfallversicherung: Anerkennung einer Berufskrankheit

Aktenzeichen  S 9 U 276/15

Datum:
6.12.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 137870
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Landshut
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VII § 7, § 9 Abs. 1
BKV Anl. 1 Nr. 2108, Nr. 2110

 

Leitsatz

Zur Feststellung einer Berufskrankheit müssen die versicherte Tätigkeit, die Verrichtung, die Einwirkungen und die Krankheit im Sinne des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorliegen. Für die Einwirkungskausalität und die haftungsbegründende Kausalität, welche nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu bestimmen ist, genügt hingegen die hinreichende Wahrscheinlichkeit, allerdings nicht die bloße Möglichkeit  (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage gegen den Bescheid vom 25.02.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.09.2015 wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig, aber in der Sache nicht erfolgreich.
Unter welchen Voraussetzungen eine BK als entschädigungspflichtiger Versicherungsfall anzuerkennen ist, ergibt sich aus §§ 7 und 9 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII). Danach sind Berufskrankheiten Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeiten erleiden (§ 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Die Bundesregierung ist ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als Berufskrankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Maße als die übrige Bevölkerung ausgesetzt ist; sie kann Berufskrankheiten auf bestimmte Gefährdungsbereiche beschränken oder mit dem Zwang zur Unterlassung aller gefährdenden Tätigkeiten versehen.
Die hier infrage stehende Berufskrankheit Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV wird definiert als bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeit in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen hat, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können. Die Berufskrankheit Nr. 2110 setzt voraus, dass eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule vorliegt, die durch langjährige, vorwiegend vertikale Einwirkungen von Ganzkörperschwingungen im Sitzen hervorgerufen wurde.
Für die Feststellung einer Erkrankung als Berufskrankheit ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) erforderlich, dass die Verrichtung einer versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder ähnlichem auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität) und diese Einwirkungen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Dabei müssen die versicherte Tätigkeit, die Verrichtung, die Einwirkungen und die Krankheit im Sinne des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorliegen. Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach allgemeiner Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung hiervon zu begründen. Für die Einwirkungskausalität und die haftungsbegründende Kausalität, welche nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu bestimmen ist, genügt hingegen die hinreichende Wahrscheinlichkeit, allerdings nicht die bloße Möglichkeit (BSG, Urteil vom 04.07.2013, B 2 U 11/12 R). Die hinreichende Wahrscheinlichkeit liegt vor, wenn nach aktueller wissenschaftlicher Lehrmeinung mehr für als gegen den Zusammenhang spricht und ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Verursachung ausscheiden.
Unter Berücksichtigung dieser Maßgaben hat die Beklagte zu Recht mit Bescheid vom 25.02.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.09.2015 die Anerkennung der geklagten Beschwerden als Berufskrankheit nach § 9 Abs. 1 SGB VII i.V.m. Nr. 2108 und Nr. 2110 der Anlage 1 zu BKV, sowie die Gewährung von Leistungen abgelehnt. Von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe wird diesbezüglich abgesehen, da das Gericht die Klage aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist (§ 136 Abs. 3 SGG).
Ergänzend hierzu ist lediglich darauf hinzuweisen, dass die Beweisaufnahme im Klageverfahren keine andere Bewertung rechtfertigt. Die Kammer stützt sich hierbei auf die schlüssigen und aufgrund der vorliegenden Beweisunterlagen nachvollziehbaren Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen Dr. R. Der medizinische Sachverständige hat ein ausgeprägtes Schadensbild sowohl im Bereich der Lendenwirbelsäule, als auch im Bereich der Halswirbelsäule attestiert. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dieser Wirbelsäulenerkrankung und der Tätigkeit des Klägers ist aber nicht zu begründen, da eine belastungskonforme Bandscheibenerkrankung als Indiz einer stattgehabten Belastung im Sinne der BK 2108 und der BK 2110 nicht erhoben werden kann. Es kann daher dahingestellt bleiben, ob die arbeitstechnischen Voraussetzungen – gegebenenfalls unter Berücksichtigung einer gegenseitigen Potenzierung durch Belastungen im Sinne der BK 2108 und der BK 2110 – erfüllt wären.
Hinsichtlich der medizinischen Voraussetzungen ist anzumerken, dass die Bandscheibendegeneration multifaktoriell beeinflusst wird und u. a. den natürlich ablaufenden Degenerationsvorgängen unterliegt. Körperliche Belastungen durch das Heben und Tragen schwerer Lasten während einer langjährigen beruflichen Tätigkeit können durch übermäßige Beanspruchung der bardytrophen Bandscheiben zu einer Beschleunigung der etwa ab dem 3. Lebensjahrzehnt ablaufenden regressiven Prozesse führen. In der Literatur ist dabei allgemein anerkannt, dass die unteren Bandscheiben der Lendenwirbelsäule in cranio-caudaler Richtung einer zunehmenden Belastung und Schädigung unterliegen (vgl. Konsensempfehlungen zur Zusammenhangsbegutachtung der auf Anregung des HVBG eingerichteten interdisziplinären Arbeitsgruppe I, Ziffer 1.4). Als morphologische Schadensbilder sind hierbei die Bandscheibenerniedrigung (Chondrose) mit einer Protrusion oder einem Bandscheibenvorfall zu nennen. Vorausgehend oder parallel dazu ablaufend finden sich jedoch Anpassungsvorgänge der Wirbelsäule an die Belastung. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass bei den unteren Lendenwirbelsäulensegmenten, die überwiegend einer axialen Belastung unterliegen, die Grund- und Deckplatten verstärkt werden (sog. osteochondrotische Veränderungen). In den oberen Lendenwirbelsäulensegmenten und den unteren Brustwirbelsäulensegmenten überwiegen dagegen die Zugkräfte durch Translationsbewegungen, so dass infolge der ligamentären Zugkräfte vornehmlich knöcherne Anbauten (sog. Spondylophyten) entstehen. Diese Veränderungen sind als physiologische Reaktion des Organismus auf die Belastung und zugleich als Indiz für die stattgehabte Belastung zu werten.
Vorliegend ist eine Schädigung in diesem Sinne nicht gegeben. Wie Dr. R. überzeugend ausführt, ergibt sich unter Einbeziehung der Röntgenaufnahme vom Dezember 2013 und dem MRT-Befund vom März 2015 keine als pathologisch zu bezeichnende Chondrose (Bandscheibenerniedrigung). Ausweislich der Berechnung nach Hurxthal II können in Übereinstimmung mit den Feststellungen der beratenden Ärzte Dr. W. und Dr. K. eine die Altersnorm überschreitende Erniedrigung der Bandscheiben ausgeschlossen werden. Zudem kam auch keine maßgeblich altersvorauseilende Osteochondrose oder Spondylose zur Darstellung, so dass auch keine Begleitspondylose im Sinne der Konsensempfehlungen festgestellt werden kann (vgl. Konsensempfehlungen zur Zusammenhangsbegutachtung der auf Anregung des HVBG eingerichteten interdisziplinären Arbeitsgruppe I, Ziffer 1.4). Unter Berücksichtigung der fehlenden Bandscheibenerniedrigung ist die Verschleißerkrankung der kleinen Wirbelgelenke als degenerativ einzuschätzen. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass zwischen L6 und S1 ein Wirbelgleiten (Spondylolysthesis vera Grad Meyerding I) besteht, d. h. eine anlagedingte Instabilität der Wirbelsäule, bei der das obere Teilstück der Wirbelsäule mit dem Gleitwirbel über den darunter liegenden Wirbelkörper nach vorne gleitet. Eine vordergründige berufliche Verursachung der festgestellten knöchernen Veränderungen im Bereich der Lendenwirbelsäule kann nicht abgeleitet werden.
Im Ergebnis geht die Kammer zweifelsfrei davon aus, dass vorliegend eine berufsbedingte Lendenwirbelsäulenerkrankung i. S. der BK 2108 bzw. BK 2110 nicht zu begründen ist. Es ist von einer schicksalhaften degenerativen Erkrankung der Lendenwirbelsäule auszugehen. Gesicherte radikuläre Ausfallserscheinungen sind zu keinem Zeitpunkt dokumentiert. Der Nachweis einer berufsbedingten bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule gelingt damit nicht. Eine gutachterliche Stellungnahme hinsichtlich des bestehenden Kopftremors als berufsbedingte Erkrankung ist nicht veranlasst.
Die angefochtenen Bescheide sind nicht rechtswidrig und deshalb nicht zu beanstanden. Die Klage ist als unbegründet abzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 Sozialgerichtsgesetz.


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